Nach Paragraf 9 des Mindestlohngesetzes (MiLoG) orientiert sich die Mindestlohnkommission bei den Anpassungen der Höhe des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung. Mit ihrem Beschluss vom 30. Juni 2020 ist sie von dieser Regel abgewichen: Sie schlägt vor, den Mindestlohn in vier Stufen bis Juli 2022 auf 10,45 Euro je Stunde zu erhöhen. Bei einer strikten Tariforientierung hätte sich ab Januar 2021 ein Mindestlohn von 9,82 Euro je Stunde ergeben. Diese Höhe soll der Mindestlohn jedoch erst ein Jahr später erreichen, sodass die Unternehmen in der Corona-Krise eine relative Kostenentlastung erhalten. Mit den beschlossenen Erhöhungsschritten ergibt sich im Durchschnitt der Jahre 2021 und 2022 also in etwa der gleiche Wert, wie er sich bei der Orientierung an der Tarifentwicklung ergeben hätte. Gleichwohl wird der regelbasierte Wert in der zweiten Jahreshälfte 2022 um mehr als 6 Prozent überschritten. Dies wäre langfristig relevant, wenn die nächste Erhöhung 2023 auf 10,45 Euro und nicht auf 9,82 Euro aufsetzen wird.
Auch nach diesem Beschluss bleibt die zukünftige Höhe des Mindestlohns Gegenstand der öffentlichen Diskussion. So erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, er werde Vorschläge machen, wie die vor allem von den Gewerkschaften und einigen politischen Parteien seit Jahren geforderte Marke von 12 Euro je Stunde schneller erreicht werden könne. Geplant ist offenbar, den Mindestlohn stärker an der Entwicklung des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) statt an der Tarifentwicklung zu orientieren.
Die Bestrebungen, den Mindestlohn Richtung 12 Euro zu erhöhen, werden vor allem damit begründet, dass der Mindestlohn existenzsichernd sein soll. Nimmt man analog zur Definition von Armutsgefährdung der Europäischen Kommission 60 Prozent des mittleren Einkommens als Schwellenwert zur Armutsvermeidung, käme man nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds für 2020 beim Bruttostundenlohn auf einen Wert von 11,99 Euro.
Auch im europäischen Kontext hat das Thema an Fahrt aufgenommen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Bewerbung 2019 angekündigt, ein Rechtsinstrument zu installieren, mit dem sichergestellt werden soll, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in der Europäischen Union "einen gerechten Mindestlohn erhält", der "am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard" ermöglicht.
Bei diesen Debatten werden die Risiken des gesetzlichen Mindestlohns nicht weiter hinterfragt. Inzwischen herrscht die Auffassung vor, "der Mindestlohn helfe Niedriglohnbeziehern und koste keine Arbeitsplätze".
Mindestlohn und Beschäftigung
Das Statistische Bundesamt teilte Ende Juni 2020 mit, dass knapp zwei Millionen Jobs von der Mindestlohnerhöhung Anfang 2019 profitierten. Während Kritiker des Mindestlohns befürchtet hatten, dass durch dessen Einführung mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze verloren gehen könnten,
Schon jetzt fällt die arbeitsmarktpolitische Bilanz des Mindestlohns schlechter aus, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Inzwischen zeigen verschiedene empirische Arbeiten, die den isolierten kausalen Effekt des Mindestlohns auf die Beschäftigung berechnen, dass die geringfügige Beschäftigung (sogenannte Minijobs) abgenommen und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zugenommen haben. Das mag politisch erwünscht sein, ist aber mit einem Problem verbunden: Rechnet man beide Effekte zusammen, stand dem Abbau von geringfügiger Beschäftigung kein entsprechender Zuwachs bei den sozialversicherungspflichtigen Stellen gegenüber. Per Saldo ging die veränderte Beschäftigungsstruktur also mit einem Beschäftigungsrückgang einher.
Fasst man zehn neuere ökonometrische Analysen dazu zusammen, zeigt sich:
Die Mindestlohnkommission räumt in ihrem dritten Anpassungsbeschluss ein, dass es "geringe negative Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf die Beschäftigung gab",
Allerdings deuten die Ergebnisse einer 2018 erfolgten Direktabfrage des Stundenlohns im Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) spürbare Unterschreitungen des Mindestlohns an.
Mindestlohn und Tarifautonomie
Aus Paragraf 9 Absatz 3 des Grundgesetzes leitet sich die Tarifautonomie ab. Danach legen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen frei von staatlicher Einflussnahme fest. Mit dem Mindestlohn greift der Staat in die Tarifautonomie ein. Denn der Mindestlohn zwingt nicht nur Unternehmen, die keine Tarifverträge anwenden wollen, die gesetzliche Lohnuntergrenze zu zahlen. Er zwingt auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Tariflöhne nach dem Mindestlohn auszurichten. In einigen arbeitsintensiven Branchen mit geringen Tarifverdiensten, etwa dem Frisör- und dem Bäckerhandwerk, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der Systemgastronomie, der Land- und Forstwirtschaft, Wäschereien im Objektkundengeschäft oder der Floristik, wurden Tariflöhne zeitweise durch den Mindestlohn verdrängt und das Ausmaß der Tariflohnsteigerungen durch den Mindestlohn mehr oder weniger vorherbestimmt.
Diese Eingriffe in die Tarifautonomie haben die Tarifparteien vor große Herausforderungen gestellt; letztlich hat der Mindestlohn die Verhandlungsbereitschaft der Tarifparteien aber nicht untergraben.
Eine vorschnelle Anpassung des Mindestlohns auf 12 Euro je Stunde hätte nicht nur negative Auswirkungen auf die Höhe der Beschäftigung; sie würde auch in unverhältnismäßiger Weise in die Tarifautonomie eingreifen. Der Vorsitzende der Mindestlohnkommission, Jan Zilius, stellte dazu in einem Interview fest: "Von heute auf morgen den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, wäre höchst problematisch. Weil wir dann eine Überholung von laufenden Tarifverträgen in einem Umfang hätten, der mit unserer im Grundgesetz vereinbarten Tarifautonomie nicht mehr viel zu tun hätte. Anders ausgedrückt: Wir würden mit einer zu schnellen Erhöhung auf zwölf Euro die Tarifverhandlungen für untere Lohngruppen obsolet machen."
Mindestlohn und Armut
In der amtlichen Statistik lässt sich rein deskriptiv durch die Einführung des Mindestlohns kein spürbarer Einfluss auf die Armutsgefährdung von Beschäftigten ausmachen: Seit 2011 bewegt sich die Quote armutsgefährdeter Personen laut den Mikrozensus-Erhebungen in einem engen Korridor von 7,5 bis 7,7 Prozent. Auch eine ökonometrische Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, bei der die Wirkung des Mindestlohns im Zusammenspiel mit anderen relevanten Einflussgrößen auf die Einkommensarmut untersucht wird, zeigt keinen stabilen Effekt. Zwar konnte der Mindestlohn die Wahrscheinlichkeit einer Armutsgefährdung vermindern. Dieser Effekt fiel aber sehr gering aus und erwies sich als statistisch nicht signifikant, könnte also auch zufallsbedingt sein.
Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass auch niedrig entlohnte Beschäftigte nur eine relativ geringe Armutsgefährdungsquote haben. Dies ergeben Auswertungen von Daten des SOEP für 2018. Danach war von den Beschäftigten, deren vertraglich vereinbarter Stundenlohn unter dem 2018 gültigen Mindestlohn von 8,84 Euro je Stunde lag, ein Viertel armutsgefährdet.
Trotz eines niedrigen Stundenlohns sind viele Beschäftigte in Deutschland nicht einkommensarm. Das erklärt sich dadurch, dass auch andere Haushaltsmitglieder zum Haushaltseinkommen beitragen oder noch andere Einkommensbestandteile wie zum Beispiel Kapitaleinkünfte vorliegen. So trugen 2018 drei Viertel aller Beschäftigten mit einem vertraglich vereinbarten Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro mit ihrem Nettoarbeitseinkommen weniger als 50 Prozent zum direkt abgefragten verfügbaren Haushaltseinkommen bei. In der Hälfte der Fälle aus dieser Verdienstgruppe lag der Anteil sogar bei weniger als 33 Prozent. Selbst bei den recht wenigen Vollzeitbeschäftigten mit einem Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro lag der Anteil des individuellen Arbeitseinkommens am Haushaltseinkommen in der Mehrheit bei höchstens 50 Prozent.
Diese Zusammenhänge würden auch die erhofften Anti-Armutswirkungen eines Mindestlohns von 12 Euro je Stunde dämpfen. Das zeigt die Simulation einer hypothetischen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro im Jahr 2021.
Auch auf die zukünftige Altersarmut hätte ein Mindestlohn von 12 Euro kaum Einfluss. Denn die neu eingeführte Grundrente nivelliert gerade im unteren Lohnbereich die Rentenansprüche. Mit der ab 2021 geltenden Grundrente ergibt sich nach den Durchschnittseinkommen und dem Rentenwert von 2019 mit dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Mindestlohn von 9,19 Euro je Stunde nach 35 Beitragsjahren ein Rentenanspruch von 878 Euro. Bei einem Mindestlohn von 12 Euro wären es mit 899 Euro nur gut 20 Euro brutto mehr. Nach 45 Beitragsjahren ist der Abstand mit 68 Euro brutto etwas größer, da die Grundrente nur für 35 Jahre die Beiträge aufstockt.
Künftige Mindestlohnanpassungen
Die im MiLoG verankerte Regel, Mindestlohnanpassungen nachlaufend an der Tariflohnentwicklung zu orientieren, stellt sicher, dass der Mindestlohn angemessen steigt. Gemessen wird die Tariflohnentwicklung anhand eines vom Statistischen Bundesamt berechneten Tarifindex, der die durchschnittliche Veränderung der Tarifverdienste misst.
In Paragraf 23 MiLoG ist festgelegt, das Gesetz 2020 zu evaluieren. Was auch immer vor dem Hintergrund der Ankündigung des Bundesarbeitsministers, bei der Anpassung des Mindestlohns den Medianlohn als weitere Zielgröße in den Blick zu nehmen, im Herbst 2020 entschieden wird: Entscheidend ist, die Anpassungsdynamik so zu gestalten, dass keine spürbaren Beschäftigungsrisiken entstehen und die Tarifautonomie gewahrt bleibt. Dann wird auch der Mindestlohn weiter an Akzeptanz gewinnen – nicht nur bei seinen Befürwortern, sondern auch bei seinen Skeptikern.