Einleitung
Der Wahlkampf in Deutschland findet seit Jahren verstärkt im Internet statt. Parteien und Politiker
Doch den Fortschritten ihrer Auftritte im Internet zum Trotz mussten sich die politischen Akteure seit Beginn des Jahres mangelnde Mobilisierungsfähigkeit der über das Internet erreichbaren Bürger vorwerfen lassen. Hauptursache für diese meist durch Journalisten geäußerte Kritik ist der Vergleich deutscher Wahlkämpfe mit dem Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008. Im längsten und teuersten Wahlkampf in der Geschichte der USA gelang es Obamas Wahlkampfteam, große Teile der Bürger zur Stimmabgabe für ihren Kandidaten zu mobilisieren.
Der deutsche Onlinewahlkampf 2009 ist deshalb am ehesten bundesweiten Wahlkämpfen früherer Jahre gegenüberzustellen. Auffällig ist, dass sich politische Akteure einerseits den Umgang mit technischen Innovationen erst noch aneignen mussten. Soziale Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ, aber auch Mikrobloggingdienste wie Twitter bildeten zu Beginn des Jahres eine Anzahl von Versuchsfeldern, die es zu erproben galt. Auch das Management parteieigener, stetig wachsender Unterstützernetzwerke musste erlernt werden. Andererseits setzten die meisten Parteien gewohnte Onlineangebote wie beispielsweise Newsletter, Spiele oder Downloadangebote seit Beginn der Wahlkampfplanungen Ende 2008 routiniert um. Gleich mehrere Parteien warben größere Spendensummen über das Internet ein. Bündnis90/DieGrünen, SPD, Linke und FDP waren erfolgreich mit Plakatspendenaktionen, bei denen die Bürger über das Internet Standorte von Wahlplakaten bestimmen konnten. Außerdem erhielten die meisten Parteienwebseiten ein zeitgemäßes Design und wurden via Suchmaschinenmarketing beworben. Das Negative Campaigning, das nicht für die eigenen Personen oder Konzepte wirbt, sondern stattdessen Unzulänglichkeiten und Schwächen anderer Parteien thematisiert und hervorhebt, wurde professionalisiert.
Unter anderem generierten die Wahlkampfzentralen exklusiv für das Netz aufwendig produzierte Videoclips, die den politischen Gegner angriffen. Internet-Videoportale wie YouTube waren wichtige Kampagneninstrumente, um Bewegtbildnachrichten, ungefiltert von anderen Medien, an die Bürger zu richten. Die direkte und interaktive Kommunikation zwischen Bürgern und Politikern wurde vereinfacht und fand umfassender statt als je zuvor.
Webwahlkampf auf allen Kanälen
Von den politischen Akteuren wurde für alle sechs Landtagswahlen, die Europawahl und besonders eifrig für die Bundestagswahl im Netz geworben. Die ebenfalls 2009 stattfindenden Kommunalwahlen in acht Bundesländern spielten online allenfalls eine untergeordnete Rolle. Vorreiter im Internetwahlkampf war der Spitzenkandidat der SPD zur Landtagswahl in Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel. Er suchte den Kontakt zum Wähler über soziale Netzwerke und initiierte als Erster den Videodialog über YouTube. Nachdem er die erste Videobotschaft abrufbar gemacht hatte, erreichten ihn nach eigener Aussage mehr als 1000 Anfragen zu verschiedenen Themen.
Noch vor der vorgezogenen Neuwahl in Hessen am 18. Januar 2009 begann der in Bundestagswahljahren obligatorische Relaunch der Parteienwebseiten. Als erste Partei präsentierte die SPD das neue Design ihres Portals. Ende Februar zog die CDU mit dem Relaunch ihrer Webseite nach, und auch die Grünen präsentierten zwei Monate vor der Europawahl ihre neue Plattform. Recht spät stellte als letzte große Partei die FDP am 18. August 2009 ihr überarbeitetes Portal vor.
Auffällig war parteiübergreifend die Einbindung von Verweisen auf Soziale Netzwerke und den Mikrobloggingdienst Twitter an prominenter Stelle der Homepages. Grafiken und Links lenkten die Aufmerksamkeit der User auf Politiker- und Parteienprofile in MeinVZ und im Facebook. Alle Parteien unterhielten außerdem einen eigenen YouTube-Channel, auf dem recht hoch frequentiert neue Videos eingestellt wurden. Ausschließlich für das Netz produzierte Inhalte wurden über das sogenannte Web 2.0 verbreitet und vermarktet.
Eine herausragende Rolle im Onlinewahlkampf 2009 spielten Bewegtbilder. Dabei ging es zum einen darum, die Reichweite der viel besuchten Plattform YouTube zu nutzen. Zum anderen bot sich den Parteien die praktische Möglichkeit, ihre auf der Videoplattform hochgeladenen Stücke auf Webseiten und Blogs einzubinden und im Web über die Sozialen Netzwerke an eine breite Anhängerschaft und potentielle Multiplikatoren zu richten. Auch die Fernsehwerbespots der Parteien wurden auf diesem Weg in Umlauf gebracht und waren abrufbar. Insbesondere kleinere Parteien, die zusätzliche Sendezeiten auf Privatsendern mit ihrem Wahlkampfbudget nicht abdecken konnten, erreichten so ein zusätzliches Publikum. Wahlkämpfer in Agenturen und Parteien bemühten sich zudem, Formate mit Wiedererkennungswert zu kreieren. Die Bandbreite reichte von animierten Erklärvideos der SPD zum Mindestlohn und von den Grünen zum Konzept für eine Million neue Jobs über Videointerviews auf dem als Internetfernsehen bezeichneten YouTube-Channel CDU-TV bis hin zu politischer Laienschauspielerei durch die FDP-Abgeordneten "Fricke & Solms". Themenspezifische Videostatements durch Spitzenpolitiker der Linken sowie Mitschnitte hitziger Redebeiträge im Bundestag komplettierten eine insgesamt bunte Mischung diverser Bewegtbildangebote.
Doch muss festgestellt werden, dass nur wenige der teilweise aufwändig produzierten Inhalte in nennenswerter Zahl angeschaut wurden. Optimistisch geschätzt wurde jedes Video im Schnitt maximal 3000 Mal abgerufen. Einige Produktionen können jedoch als Erfolge verbucht werden: Hierzu gehört das Erklärvideo der SPD zum "Deutschlandplan", eine Animation der Grünen beruhend auf "Szenen einer Ehe" von Loriot, sowie der Kommentar von Arnold Schwarzenegger auf der CeBIT 2009 über die Kanzlerin auf CDU-TV und ein Spot der Jungen Liberalen mit dem Titel "Die reine Wahrheit". Alle diese Videos erreichten bis zum Wahltermin mehr als 50000 Nutzer. Vor diesem Hintergrund muss der Mehrwert vieler anderer, kaum beachteter Videobeiträge kritisch befragt werden.
Erwähnenswert unter den wenigen viralen, eigens für das Internet produzierten Videos, die vermutlich von Parteien verbreitet wurden, war nur ein einziges. Wären nicht juristische Probleme aufgrund des Urheberrechts aufgetreten, wäre das Video mit dem Titel "Hey, was geht ab?! Wir holen die Kanzlerschaft" wohl ein echter Erfolg geworden. Grundlage bildete ein Hit des Berliner Party-Rap-Duos "Atzen Musik" mit dem Titel "Das geht ab". Nach nur sechs Tagen hatten mehr als 60000 Personen den "Remix" gesehen. Spekuliert wird, dass der Song aus der SPD-Wahlkampfzentrale im Willy-Brandt-Haus stammt, obwohl man sich dort von dem Clip distanzierte: Man finde ihn zwar sehr gelungen, habe aber nichts damit zu tun.
Politiker und Parteien im "Social Web"
Erfolge der Parteien und Politiker in unterschiedlichen Sozialen Netzwerken und bei Twitter wurden überwiegend anhand aggregierter Unterstützerzahlen gemessen und bewertet. Zu Beginn der Wahlkampfplanungen konzentrierten sich die Parteien auf Facebook als zentrales Netzwerk, da hier die Sichtbarkeit von Kommunikationsinteraktionen am deutlichsten wird. Erst als bekannt wurde, dass auch in den VZ-Netzwerken die politische Wähleransprache ermöglicht und gefördert werden sollte, bezogen die Kampagnenplaner dortige Präsenzen in ihre Strategien ein. Ab dem 18. Mai 2009 waren den Nutzern Politikerprofile zugänglich, und das Netzwerk rüstete stetig nach. Der Einrichtung einer über den Wahlkampf informierenden Wahlzentrale folgten Umfragen und eine Landkarte, auf der alle Direktkandidaten in ihren Wahlkreisen abgebildet wurden.
Mehrere tausend Nutzer im StudiVZ/MeinVZ bekannten sich auf den Profilen der etablierten Parteien als deren Sympathisanten. Ab Juli war jedoch eine unbekannte Partei deutlich erfolgreicher im Netz: Der Piratenpartei Deutschland gelang ein Blitzstart mit Verspätung, als ihr Ende Juni auf drängende Nachfrage ein Parteienprofil im VZ eingeräumt wurde. In nur wenigen Tagen zog sie an allen Mitbewerbern vorbei. Bis zum Wahltag sympathisierten über 76000 potentielle Wähler in beiden Netzwerken mit den Piraten. Ähnlich, jedoch mit geringeren Unterstützerzahlen, spiegelte sich diese Entwicklung auch bei Facebook wider. Hier richteten die Parteien ebenfalls unterschiedliche Profilseiten ein und kommunizierten mit den im Netzwerk vertretenen Wählern.
Über die Netzwerke kam es zu Momenten intensiver wechselseitiger Kommunikation zwischen Politikern und Wählern. Für das Kooperationsprojekt von ZDF, Zeit Online und MeinVZ, "Erst Fragen, dann wählen", wurden Fragen der Netzwerkmitglieder gesammelt, um damit die Spitzenpolitiker aller Parteien zu konfrontieren. Die Stellungnahmen wurden moderiert und live über Internet und Fernsehen ausgestrahlt. Gleichzeitig konnten die Nutzer über die Glaubwürdigkeit der Politiker abstimmen. Auch die Videoplattform MyVideo hatte politisch hochkarätige Gäste geladen und ließ Besucher der Webseite via Chat partizipieren. Unter anderen beantworteten Guido Westerwelle, Jürgen Trittin und Frank-Walter Steinmeier die Fragen über einen Videostream - live und ausschließlich im Netz.
Ähnlich, wie sich im Wahlkampf 2005 diverse politische Akteure der Weblogs zur Kommunikation mit den Bürgern annahmen, nutzten 2009 stetig mehr Politiker den Mikrobloggingdienst Twitter. Maximal 140 Zeichen lange Tweets können mit internetfähigen Handys oder direkt über das Web an alle Followers (Beitragsabonnenten) gesendet werden. Zur Dialogkommunikation bzw. zum Austausch von Standpunkten eignet sich Twitter jedoch kaum. Anstelle von Diskussionen dient dieses noch junge Netzwerk eher dazu, auf im Web abrufbare Inhalte aufmerksam zu machen oder über aktuelle Erlebnisse und Termine zu informieren. Ähnlich den Unterstützerzahlen im Facebook bewegten sich die Follower-Zahlen bei Twitter im Bereich mehrerer Tausend. Alle etablierten Parteien aggregierten Followers, wurden in der Summe jedoch erneut von der Piratenpartei abgehängt.
Parallel wurde der Onlinewahlkampf von diversen Analysetools und Portalen begleitet, die ein Abbild politischer Aktivitäten im Netz einfingen. Plattformen wie "Wahl.de", "Wahlradar" oder der "Wahl im Web Monitor" machten Informationen abrufbar, die verdeutlichten, welche politische Partei und welcher Politiker wo im Netz aktiv war. Auch die Vernetzung von Parteien mit Blogs oder anderen politischen Akteuren über direkte Verlinkungen ihrer Homepages wurden grafisch dargestellt. Bereitsteller der Informationen waren zumeist Werbeagenturen, die ihre Möglichkeiten im Bereich des Monitoring hervorhoben. Leider vermochte niemand die Qualität der Kommunikation über das Internet zu messen. Lediglich quantitative Veränderungen bei Unterstützerzahlen oder der Anzahl von gesendeten Nachrichten wurden abgebildet und dienten als Grundlage für die Analyse und Bewertung des Onlinewahlkampfs. Neue technische Errungenschaften wirken sich somit nicht nur auf die Wahlkampfführung selbst aus, sondern liefern auch Möglichkeiten zur Beobachtung und Prüfung neuer Kommunikationskanäle.
Piratenpartei entert das Netz
Die 2006 gegründete Piratenpartei Deutschland entwickelte sich im Laufe des Wahljahres zu einer echten Größe im Netz. Auch die Anzahl der Parteimitglieder stieg sprunghaft an: Innerhalb weniger Monate entschlossen sich mehrere Tausend Personen zum Parteibeitritt, sodass die Zahl auf über 10000 kurz vor der Bundestagswahl anwuchs.
Zurückführen lässt sich diese Entwicklung vor allem auf das von der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt (BKA) initiierte "Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen". Die Neuregelung sieht vor, dass Internetdienstleister entsprechend eines Sperrindex' des BKA den Zugang zu indizierten Webseiten verweigern, sofern diese nicht gelöscht werden können. Statt des Zugriffs soll die Weiterleitung auf ein vom BKA gestaltetes Stoppschild im Netz erfolgen. Bürgerrechtler und Datenschützer befürchten die Ausweitung des Verfahrens auf andere Inhalte im Web und sehen in der Verordnung letztlich einen Verstoß gegen Artikel 5 des Grundgesetzes, in dem es heißt: "Eine Zensur findet nicht statt." Darüber hinaus, so Kritiker, ließen sich die Sperren von erfahrenen Nutzern leicht umgehen, und anstatt kinderpornographische Inhalte zu löschen, schaue man lediglich weg. Dennoch wurde mit den Stimmen der großen Koalition aus SPD und CDU der auch als "Zugangserschwerungsgesetz" bezeichnete Erlass verabschiedet.
Die etablierten Parteien versäumten es, die notwendige Debatte über die Wirksamkeit des Gesetzes zu führen, und ignorierten den sich formierenden Widerstand in der Bevölkerung. Bereits kurz nachdem am 17. April 2009 die Bundesregierung und fünf große Internetprovider die Verträge zur "Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten im Internet" unterzeichnet hatten, wurde beim Bundestag eine Onlinepetition gegen Netzsperren eingereicht. Ab dem 4. Mai war die Mitzeichnung möglich, und in nur vier Tagen unterzeichneten mehr als 50000 Unterstützer den Antrag online. Die für eine Anhörung erforderliche Unterzeichnerzahl war erreicht; letztlich stützten insgesamt 130000 Personen die Petition.
Zusätzliche Aufmerksamkeit für die Piratenpartei generierte der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss. Kurz nach der Bundestagsentscheidung über das Zugangserschwerungsgesetz begründete er seinen Parteiaustritt mit dem Abstimmungsverhalten der SPD. Zugleich gab er seinen Beitritt zur Piratenpartei bekannt. Bereits im März 2009 hatte Tauss Aufmerksamkeit erregt, da seine politische Immunität aufgrund des Verdachts des Besitzes von kinderpornographischem Material aufgehoben wurde. Gegenwärtig muss sich der ehemalige SPD-Politiker gegen den Vorwurf vor dem Landgericht Karlsruhe verantworten. Der stellvertretende Vorsitzende der Piratenpartei, Jens Seipenbusch, stellte klar, dass auch im Fall Tauss die Unschuldsvermutung gelte, kündigte aber im Falle einer Verurteilung den Parteiausschluss an.
Die Abstimmung über das Gesetz schadete Sozial- und Christdemokraten. Aufgrund der Missachtung seiner Empfehlung ließ der SPD-Onlinebeirat seit dem Beschluss bis auf Weiteres die Arbeit ruhen. Weder SPD noch CDU erhielten von der Netzgemeinde im weiteren Verlauf des Wahlkampfs Zuspruch. Im Gegenteil: Die Entscheidung zur Schaffung von Netzsperren sorgte für das weitere Erstarken der Piratenpartei, die ab Juli 2009 die Onlineplattformen und Mikrobloggingdienste dominierte. Die Webcommunity betitelte von der Leyen schließlich als "Zensursula". Letztlich ist die Piratenpartei und ihre Entstehung ein Netzphänomen ohne gleichen. Auf Akteurs- wie auf der Mobilisierungsebene ist sie die große Ausnahmeerscheinung im Onlinewahlkampf 2009.
Überparteiliche Wählermobilisierung
Diverse Wählermobilisierungskampagnen wurden nicht nur offline, sondern auch über das Internet lanciert. Die Politplattform "politik-digital" initiierte nach amerikanischem Vorbild und unter dem Titel: "Geh nicht hin" ein Webvideo, bestehend aus Testimonials von Prominenten aus Funk und Fernsehen. Während die Stars im ersten Film konstatieren, nicht an der Wahl teilnehmen zu wollen, bekennen sie sich im wenige Tage später veröffentlichtem Clip als Wähler. Abgeschaut hatten das die Verantwortlichen von einer Mobilisierungsinitiative zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008, in dem zahlreiche Berühmtheiten aus Hollywood die Bedeutung der Teilnahme am Urnengang verdeutlichen.
Auch die Bundeszentrale für politische Bildung setzte auf ihrer Webseite auf Prominenz. "Promilockrufe" und Videobotschaften forderten zur Stimmabgabe auf. Große Resonanz bekam wie bei vergangenen Bundestags-, Landtags- und Europawahlen erneut der Wahl-O-Mat. Hier konnten die Besucher der Seite ihre Ansichten anhand von 38 Thesen mit den Standpunkten von 24 zur Wahl zugelassenen Parteien vergleichen. Insgesamt wurde der Wahl-O-Mat mehr als 6,7 Millionen Mal gespielt. Das waren rund 1,5 Millionen Nutzungen mehr als noch zur Bundestagswahl 2005.
Die vom Verein "Netzdemokraten e.V." lange im Vorfeld des Wahltermins eingerichtete "Wechselwähler WG" hatte ebenfalls zum Ziel, Politik vor allem für junge Menschen erfahrbar zu machen. Mit Unterstützung durch Medienpartner wurden sechs wahlwillige, jedoch noch unentschlossene Kandidaten ausgewählt, die in einer virtuellen WG bis zum Wahltermin ihre Gedanken und Ansichten diskutierten. Beobachter der Berichte und der videodokumentarisch dargestellten Beiträge konnten die Anregungen nutzen, sich über die eigene Wahlentscheidung klar zu werden. Die WG-Bewohner trafen sich mit Politikern aller großen Parteien zu Diskussionen im studentischen Ambiente. Als zentrales Portal informierte "wechsel-waehler.de" über die Entscheidungsfindung.
Nicht nur Organisationen und Vereine initiierten Mobilisierungskampagnen. In seltenen Fällen fanden auch parteilose Aktivisten über das Internet zueinander und trafen sich zu politisch motivierten Handlungen außerhalb des Webs. Beispielhaft hierfür ist die Versammlung zu einem Flashmob - einer scheinbar spontanen Versammlung auf einem öffentlichen Platz - bei Angela Merkels Besuch auf dem Hamburger Gänsemarkt. Als eine größere Gruppe plötzlich begann, die Rede der Bundeskanzlerin im Minutentakt lauthals mit den Rufen "Und alle so: Yeaahh!" zu kommentieren, stifteten sie bei anderen Zuhöreren zunächst Verwirrung. Während einige Teilnehmer ihre Stimme gegen den vermeintlich inhaltsleeren Wahlkampf der CDU erhoben, machten sich andere lediglich einen Spaß daraus, Aufmerksamkeit zu erregen.
Anstoß der Aktion war die Verhöhnung eines Wahlplakats der Kanzlerin in Hamburg. Der Claim des CDU-Plakats lautete: "Die Kanzlerin kommt"; er wurde in schwarzen Lettern von einem Unbekannten ironisch mit den Worten "Und alle so: Yeaahh" kommentiert. Ein Foto dieses Plakats fand wenig später in Weblogs und Sozialen Netzwerken Gefallen bei den Nutzern und wurde über das Internet verbreitet. Auf dem Blog "Spreeblick.com" wurde schließlich der Flashmob in Hamburg angeregt, und auf dem Gänsemarkt fanden sich am Abend des Auftritts mehrere Aktivisten zusammen. Andere jeweils vor Ort zusammengerufene Flashmobs begleiteten Veranstaltungen der Kanzlerin in Wuppertal und Mainz sowie die Abschlusskundgebung in Berlin. Der Protest, der sich ursprünglich im Netz gebildet hatte, wurde somit "offline" hinausgetragen auf die Straße.
Direkte Kommunikation und Bürgerpartizipation
Erwartungen an eine Professionalisierung der Internetauftritte der Parteien wurden im Wahljahr 2009 weitestgehend erfüllt. Gewohnte Wahlkampfinstrumente wurden standardmäßig eingesetzt. Neu waren die Mobilisierungskampagnen über die Instrumente des Web 2.0. Es gelang den Parteien, über interne und externe Netzwerke mit vielen Unterstützern zu kommunizieren und stetig mehr Sympathisanten für sich zu gewinnen. Letztlich muss jedoch konstatiert werden, dass das Potential nicht ausgeschöpft wurde. In diesem Zusammenhang spielt sicher eine Rolle, dass die CDU unter Merkel einen polarisierenden Wahlkampf weitestgehend vermied.
Technologische Innovationen stellten die große Herausforderung für die Parteien im Wahljahr dar. Denn der Einstieg in die Onlinenetzwerke bedeutete zugleich, die dortigen Kommunikationsmechanismen zu adaptieren. Alle großen Parteien mussten auf private Nachrichten durch die User im Facebook und MeinVZ reagieren. Letztlich öffneten sie sich über die neuen Kanäle der wechselseitigen und direkten Kommunikation. Aufforderungen zum Mitmachen bei parteieigenen Unterstützeraktionen verliefen hingegen ausschließlich in Form der top-down-Kommunikation. Auch Twitter blieb in den meisten Fällen ein Instrument der top-down- und one-to-many-Kommunikation. Politiker aus allen Parteien twitterten, sammelten Followers und sendeten Nachrichten an ihre persönlichen Netzwerke. Bei der Dialogkommunikation setzen vor allem die Grünen neue Maßstäbe mit einer Aktion namens "3-Tage-wach". Die am Donnerstag vor den Europawahlen gestartete Aktion erlaubte es den Besuchern von "gruene.de", Fragen zu grüner Politik zu stellen.
Bewertung
Im Vergleich zu vorherigen Wahlkämpfen hat sich der deutsche Onlinewahlkampf im Wahljahr 2009 modernisiert und professionalisiert. Teilerfolge im Umgang mit in- und externen Netzwerken, mit Twitter und den Videoportalen unterstreichen dies. Zwar war das Internet nicht wahlentscheidend, jedoch spielt es zu Informations-, Interaktions- und Mobilisierungszwecken auch für deutsche politische Akteure eine immer bedeutendere Rolle. Tendenzen des Medienverhaltens in und außerhalb Deutschlands lassen darauf schließen, dass das Web eines Tages den traditionellen Medien den Rang ablaufen wird.
Spannend ist die Frage, wie die Parteien nun mit den neuen Instrumenten umgehen. Sollten Präsenzen in Sozialen Netzwerken nicht weiter gepflegt werden, Twitterkanäle brach liegen und Videokanäle nicht mit neuem Bildmaterial gefüttert werden, wird es bei kommenden Wahlen schwieriger, mit den Bürgern glaubhaft über das Internet zu kommunizieren. Schon die kommenden Monate können entscheidend dafür sein, welchem Akteur es bei der nächsten Wahl am ehesten gelingen wird, Multiplikatoren und Unterstützer zu gewinnen.