Einleitung
Angela Merkel gilt als Außenseiterin auf ihrem Weg zur Regierungsmacht. Das bezieht sich insbesondere auch auf die von ihr entwickelten Führungsqualitäten in der Partei, in der Regierung und im Wahlkampf. Die Leadership-Forschung hat bislang die Frage nach den Voraussetzungen politischer Führung als Parteivorsitzender, als Kanzlerkandidat und als Bundeskanzler weitgehend getrennt behandelt.
Der Versuch, den politischen Führungsstil von Merkel in der großen Koalition und im Wahlkampf zu beschreiben, erfolgt anhand ausgewählter Dimensionen von Leadership, wie sie vom Verfasser in einer funktionalen Systematik vorgestellt wurde.
Außenseiterin im Kanzleramt
Die Etikettierung Merkels als Außenseiterin bezieht sich auf ihre Person (mit den zugeschriebenen Attributen "rätselhaft"; "Sphinx"; "unpersönlich"; "misstrauisch"), auf ihre Herkunft (ostdeutsche Frau), auf die fehlenden politischen Erfahrungen in Partei, Parlament und Regierung sowie auf ihren politischen, bis zur Kanzlerkandidatur 2005 scheinbar durch Zufälle und Ereignisse bestimmten politischen Karriereweg.
Diese Rolle als Außenseiterin zwang sie dazu und erlaubte es ihr, auf der Grundlage persönlicher Fähigkeiten (Intellekt, Analytikerin, hohe kognitive Kompetenz, Machtinstinkt) auf ihre Person zugeschnittene politische Fähigkeiten zu entwickeln. Merkel entwickelte eine sehr personenbezogene Strategie der Anpassung an neue Situationen, Aufgaben und Ämter. So gelang es ihr, 1991 die Amtszeit als Ministerin für Frauen und Jugend als Lehrjahre zum Kennenlernen administrativer Strukturen und von Mechanismen politischer Entscheidungsprozesse zu nutzen. Hier entwickelte sie ihre Personalkompetenz: Personalpolitik als Machtressource.
Diese auf Anpassung und beobachtendes Lernen ausgerichtete Führungsstrategie bestimmte ihren Aufstieg in der Partei, vor allem beim Übergangsprozess des Führungswechsels in der CDU von 1998 bis 2000. Ihr gelang es, als unkonventionelle Außenseiterin ohne starke Beziehung zum Christdemokratischen der Partei ihren Führungsanspruch durchzusetzen.
Selbstüberwachung und stille Moderation
Nach einem Jahr als Kanzlerin führten die Beobachtungen zum Regierungsstil Merkels zur Einschätzung, dass es ihr bisher gelungen sei, eine stille Moderation der Regierungsarbeit in der Koalition zu bewerkstelligen, ohne dabei ihre Machtposition als Maklerin widerstreitender Interessen zu beschädigen. Ausschlaggebend hierfür waren ihre politischen Führungsfähigkeiten im Bereich der Personal- und Organisationskompetenz. Entscheidend für die Sicherung ihres Führungsanspruchs in einer großen Koalition, in der das Kanzlerprinzip (Richtlinienkompetenz und Kabinettsbildungsrecht) geschwächt ist, war es, das Bundeskanzleramt als Machtressource nutzen zu können. Notwendig hierfür ist eine verlässliche und wirksame Gestaltung der Leitungsebene, die Kompetenz und Erfahrung des Chefs des Bundeskanzleramts in Verwaltung und politischem Prozess, das loyale und vertrauliche Verhältnis zwischen Kanzler und Amtsleiter und die Erschließung des Sachverstands des Amtes für die politische Koordination gegenüber den Ressorts und den Koalitionsparteien. Diesen Gestaltungsauftrag bei gegebenem Gestaltungsspielraum muss ein Kanzler und sein Stab, besonders wenn er neu ins Amt kommt, wahrnehmen und ausbauen.
Nach einem Jahr war es ihr gelungen, das Kanzleramt an sich anzupassen. Schneller als bei Gerhard Schröder wurden die Leiter der sechs Abteilungen neu bestellt. Der Tradition des Amtes entsprechend wurden diese Positionen nach Kompetenzkriterien, nicht nach parteipolitischen Gesichtspunkten besetzt. Loyalität und Kompetenz sind gesichert.
In diesen beschriebenen Dimensionen blieben die Führungskompetenzen über die Amtszeit erhalten. Weniger erfolgreich - im Sinne einer dauerhaften Konsolidierung - war Merkel im Management informeller Gremien (etwa bei der Gesundheitsreform), bei der Wahrnehmung ihrer Rolle als Parteivorsitzende und dem Koordinationsmanagement gegenüber der Fraktion, gleichwohl sie versuchte, regelmäßig an Fraktionssitzungen teilzunehmen. Immer wieder gab es im Zusammenhang mit reformpolitischen Koordinationsleistungen Zweifel an ihren Führungsfähigkeiten gegenüber Partei und Fraktion.
Die Außenpolitik hat als Handlungs- und Machtressource die Regierungsstile aller Bundeskanzler, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, geprägt. Konrad Adenauer und Willy Brandt gründeten ihre öffentliche und politische Unterstützung weitgehend auf die außenpolitische Komponente. Ihre charismatischen Züge und ihre wenig angreifbare machtpolitische Position im regierungsinternen und -externen Kontext standen in direktem Zusammenhang mit ihrem außenpolitischen Führungsstil. Merkel verfügte weder über Charisma noch, ähnlich wie Schröder, über außenpolitische Erfahrungen. Ihr gelang es indes sehr schnell, außenpolitisches Profil durch souveränes Auftreten bei Gipfeln und Verhandlungen zu gewinnen. Sie nutzte Gipfeldiplomatie bewusst auch als Instrument des Imagemanagements und konnte so ihr Bild als "ehrliche Maklerin" festigen.
Die Nutzung der Medien als Machtressource gelang ihr erst zum Ende ihrer ersten Amtszeit, um in ihrer eigenen Art das Bild der unmedialen Kanzlerin abzubauen. Ihre Popularität unterlag Schwankungen. Das Sammeln von Sympathiepunkten war bei Merkel ein längerfristig angelegter Prozess.
Pragmatismus ohne Visionen
Obwohl ihr inzwischen kaum noch Themenkompetenz und die Beherrschung der wichtigsten politischen Führungsfähigkeiten abgesprochen werden, gilt Merkel weiterhin als Kanzlerin ohne politische Philosophie und ohne programmatische Ziele und Strategien: "Es gehörte seit jeher zu Angela Merkels Politikstil, sich vage zu äußern und sich nicht vorschnell festzulegen. Sie konnte Kursänderungen fordern und zugleich ablehnen."
Für die Durchsetzung ihres politischen Führungsanspruchs stand der Kanzlerin, wie allen Kanzlern vorher, vor allem das Bundeskanzleramt als Machtressource zur Verfügung. Dieses gilt zwar als Strategiezentrale, jedoch nicht in dem Sinne, dass dort inhaltliche und langfristige Regierungsstrategien entworfen werden. Es ist vielmehr vor allem die Schaltstelle der Regierungskoordination. In der großen Koalition, dem Zweckbündnis ohne Vorgaben und Ziel für originäre Projekte der Politikgestaltung, war, so ist zu vermuten, der Koordinationsbedarf besonders hoch.
Merkel kann daher als "Präsidialkanzlerin" bezeichnet werden,
Spielten die beschriebenen Führungseigenschaften der Kanzlerin auch im Wahlkampf eine Rolle? Zu beachten sind die Unterschiede in den Strategien politischer Führung. Anders als bei der executive-orientierten Führung stehen bei der wahlkampforientierten Führung primär das vote seeking und die Mobilisierung von Gefolgschaft (followers) im Mittelpunkt. Im Wahlkampf wird normalerweise Public Leadership, der öffentlichkeitsorientierte Führungsanspruch, zur Stellgröße. Sichtet man die Arbeiten zu den Eigenschaften von Kanzlerkandidaten, dann lassen sich diese in vier Dimensionen zusammenfassen, die auch als Kandidatenimages bezeichnet werden können: Themen- oder Problemlösungskompetenz, Integrität (ehrlich/vertrauenswürdig), Leadership (Führungsstärke/Entscheidungsfreude/Tatkraft/Organisationstalent/ Überzeugungskraft) und politische Merkmale (Auftreten/Ausstrahlung/Herkunft).
Von der Themenkanzlerin zur Kanzlerin des Ungefähren
Welche Führungsfähigkeiten und welche Führungseigenschaften im Wahlkampf wirkmächtig werden, richtet sich nach der Wahlkampfstrategie. Über diese entscheiden letztendlich die Kanzlerkandidaten, denn Strategie ist Führungsaufgabe.
Die Wahlkampfstrategie 2009 war das genaue Gegenteil. Person und Persönlichkeit der Kanzlerin sollten im Vordergrund stehen. Merkel entschied sich dafür, mit einem Programm des "Ungefähren" praktisch programmfrei um die Stimmen zu werben.
Der ganz auf ihre Persönlichkeit ausgerichtete Wahlkampf erlaubte es Merkel, sich fast ausschließlich auf ihre vorhandenen und erlernten persönlichen und politischen Führungsfähigkeiten zu stützen: "Das Abwartende, Tastende, Moderierende, das Merkels Kanzlerschaft bisher prägte, wurde nicht von den besonderen Bedingungen der Großen Koalition erzwungen. Es gehört zu Merkels Wesenskern."
Das Wahlergebnis ist bekannt. Merkel ist mit ihrem System der Selbstüberwachung und der Machtabsicherung das Kunststück gelungen, trotz einer erneuten Niederlage für ihre Partei die Koalition zu wechseln und im Amt zu bleiben. Nicht der Kanzlerbonus oder die Partei, sondern ihr Führungsstil war am Ende für den Machterhalt ausschlaggebend. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Kanzlerin von ihren positiven Bewertungen profitiert hat, aber in welchem Ausmaß dadurch Vertrauensverluste ihrer Partei kompensiert wurden, ist unklar. Ein Befund einschlägiger Untersuchungen lautet, dass die Stärke des Kanzlerbonus beträchtlich variieren kann.
Nach der ersten ungeplanten Bewerbung von 2005 ist auch das zweite Experiment, einen Wahlkampf zu gewinnen, ohne ihn zu führen, gelungen. Die Annahme, dass Wähler die Parteien und die Kandidaten im Verbund wahrnehmen, hat sich 2009 nicht bestätigt, denn sonst hätte die große Popularität Merkels zu einem besseren Abschneiden der CDU führen müssen. Aber auch die umgekehrte Schlussfolgerung wäre möglich, nämlich dass Persönliches in Deutschland nur eine Nebenrolle spielt:
Merkel II - Die entfesselte Kanzlerin?
"Angela Merkel ist jetzt so mächtig wie Helmut Kohl zu Beginn der neunziger Jahre. Sie regiert in einer schwarz-gelben Koalition mit komfortabler Mehrheit, der Bundesrat harmoniert farblich. Innerparteiliche Gegner sind kaum von Belang, die CSU ist kleiner als je zuvor. Und vor allem: Das gesamte linke Lager ist so schwach wie seit zwanzig Jahren nicht mehr."
Der institutionelle Kontext verändert sich in einer kleinen Koalition. Die eigene Partei und die Fraktion, die Ministerpräsidenten, die Medien und die Interessengruppen werden verstärkt als Mitregenten und Vetospieler Ansprüche anmelden. Nicht zu vergessen ist das Ressortprinzip als eines der wirkungsmächtigsten Organisationsprinzipien für die Regierungsarbeit: Ressorts werden besonders in einer kleinen Koalition mit einem starken Partner zu alternativen Machtarenen. Das Ressortprinzip verdrängt weitgehend das Einflusspotenzial des Kanzlerprinzips. Des Weiteren wird die Dimension "Budget" mit einem starken Finanzressort das Kanzlerprinzip ebenfalls einschränken.
Merkels Führungsanspruch in der Doppelrolle als Parteivorsitzende und Kanzlerin ist bisher kaum ernsthaft auf die Probe gestellt worden. Sie wurde bekanntlich Parteivorsitzende, ohne sich innerparteilich auf Verbündete stützen zu können. Eine starke Hausmacht in der Partei hat sie noch immer nicht. Die Hausmacht als entscheidende Bedingung für den parteipolitischen Führungsanspruch ist inzwischen gemildert worden und kann durch Nutzung anderer Machtressourcen ausgeglichen werden;
Das gilt auch für die Außenpolitik, die im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt hat,
Es hat sich gezeigt, dass viele Führungsqualitäten, die in der Regierung von Bedeutung sind, beim Wahlkampf nicht zur Anwendung kommen. Insofern kann von "Divided Leadership" gesprochen werden. Andererseits wurde deutlich, dass es gelingen kann, die persönlichen und politischen Führungsfähigkeiten als Kanzlerin gewinnbringend im Wahlkampf einzusetzen, wenn die Strategie passgenau ist. Auch in Deutschland ermöglicht das institutionelle Gefüge Experimente in politischer Führung.
Für die redaktionelle Mitarbeit ist Sebastian Gräfe vom Institut für Politische Wissenschaft Heidelberg zu danken.