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Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung | Bundestagswahl 2009 | bpb.de

Bundestagswahl 2009 Editorial Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen - Essay Ende der Volksparteien - Essay Regierungswechsel ohne Wechselstimmung Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung Angela Merkel als Regierungschefin und als Kanzlerkandidatin Onlinewahlkampf 2009

Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung

Frank Decker

/ 17 Minuten zu lesen

Der klare Wahlsieg der Wunschkoalition von Union und FDP kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Regieren eher schwieriger werden dürfte. Die Koalitionsverhandlungen haben einen Vorgeschmack gegeben.

Einleitung

Mit Blick auf die Entwicklung des deutschen Parteiensystems verdienen fünf Aspekte des Ergebnisses der Bundestagswahl 2009 festgehalten zu werden. Erstens hat die Wahl die Fünfparteienstruktur verfestigt, die durch die Etablierung einer gesamtdeutschen Linkspartei auf Bundesebene seit 2005 entstanden war. Zweitens hat sie die bipolare Struktur des Systems bekräftigt, in dem sich zwei elektoral und koalitionspolitisch abgrenzbare Lager gegenüberstehen. Drittens hat sie die Kräfteverhältnisse innerhalb der beiden Lager deutlich zugunsten der kleineren Partner verschoben. Viertens hat sie im Verhältnis der beiden großen Parteien eine strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union herbeigeführt. Und fünftens hat sie die Erwartung widerlegt, dass kleine Zweierkoalitionen in einem Fünfparteiensystem keine Mehrheiten mehr erreichen können.



Von 1990 bis 2002 waren die gesamtdeutschen Ergebnisse der vormaligen PDS noch so bescheiden geblieben, dass es für die Bildung solcher Zweierkoalitionen bei allen Wahlen reichte. Mit der Bundestagswahl 2005 änderte sich dies auf dramatische Weise. Die Gründung einer linken Wahlalternative im Westen aus Protest gegen die von der rotgrünen Bundesregierung eingeleiteten Sozialreformen und deren Wahlbündnis mit der PDS ermöglichte den Postkommunisten eine Verbreitung ihrer Wählerbasis in die Altbundesländer, wo sie bis dahin gänzlich erfolglos gewesen waren. Der Erfolg der Linkspartei.PDS, die ihr Ergebnis von 2002 nahezu verdoppeln konnte, sorgte dafür, dass Union und SPD nach der Bundestagswahl nur die Option zu bleiben schien, eine große Koalition zu schließen. Alle übrigen denkbaren Kombinationen hatten entweder keine Mehrheit bekommen (Schwarzgelb/Rotgrün) oder waren von mindestens einem der potentiellen Partner vorab klar ausgeschlossen worden (Ampel-, "Jamaika"- und Linkskoalition).

Die koalitionspolitischen Konsequenzen des 2005 entstandenen Fünfparteiensystems stellten sich im Bund anders dar als in den Ländern und in den ostdeutschen Ländern wiederum anders als in den westdeutschen. In Ostdeutschland hatte die Stärke der PDS schon ab 1994 dazu geführt, dass diese mittelbar in die Regierungsverantwortung eingebunden wurde (in Sachsen-Anhalt). Förmliche Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin folgten. Gleichzeitig sorgte die relative Schwäche von FDP und Bündnis90/DieGrünen in Verbindung mit der strukturellen Hegemonie des linken Lagers dafür, dass das Standardmodell der "kleinen Koalition" die Ausnahme blieb und - von einem Fall abgesehen - auch keine lagerübergreifenden Dreierkoalitionen gebildet werden konnten oder mussten.

In den alten Bundesländern entsprach die Regierungsbildung demgegenüber bis zum Auftreten der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG) weitgehend dem durch die bipolare Vierparteienstruktur vorgegebenen Muster mit Schwarzgelb und Rotgrün als koalitionspolitischen Antipoden. Auch nach Etablierung der gesamtdeutschen Linken sollten deren westliche Ableger so schwach bleiben, dass kleine Zweierkoalitionen oder sogar Alleinregierungen nach dem vertrauten Modell möglich waren (so in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Bayern und - im zweiten Anlauf - Hessen). In keinem einzigen Fall musste nach den Landtagswahlen eine große Koalition gebildet werden.

Für sich genommen hätte die von der Situation auf Bundesebene abweichende Entwicklung in den Ländern vermutlich kein großes Problem dargestellt. In der Bundesrepublik war es bis dahin aber stets so gewesen, dass neue Koalitionsformate im Bund über die Länderpolitik angebahnt wurden. Bestand in den Ländern keine Notwendigkeit, lagerübergreifende Dreierkoalitionen zu bilden, hätte eine entsprechende Koalition auf Bundesebene ohne vorherigen Probelauf auskommen müssen. Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, dass die Bemühungen der Parteien um eine Flexibilisierung ihres Koalitionsverhaltens nach 2005 nur schleppend vorankamen. Besonders schwierig gestaltete sich das Verhältnis der Sozialdemokraten zur Linkspartei. Die SPD hatte sich zwar in Ostdeutschland zur Zusammenarbeit mit den Postkommunisten durchgerungen; die historischen und personellen Unverträglichkeiten machten eine Übertragung dieses Modells auf die Altbundesländer aber unmöglich - immerhin stand der Fusion von PDS und WASG ein ehemaliger SPD-Vorsitzender vor, Oskar Lafontaine.

Im ersten halben Jahr nach Bildung der großen Koalition hatte es den Anschein, als ob der Durchbruch der Partei Die Linke in den westlichen Bundesländern zu stoppen sein würde. Erst die Bürgerschaftswahl in Bremen (Mai 2007) und die Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg (Januar/Februar 2008) kehrten den Trend um. Die SPD sah sich zu einem Strategiewechsel gegenüber der erstarkenden Konkurrenz gezwungen, der freilich wenig professionell betrieben wurde. Dass die koalitionspolitische Öffnung zur Linken in Hessen gegen ein ausdrückliches Wahlversprechen erfolgte, führte zum massiven Vertrauensverlust bei den Wählerinnen und Wählern. Die innerparteiliche Zerreißprobe sollte nicht nur Andrea Ypsilanti zum Verhängnis werden, sondern am Ende auch den Bundesvorsitzenden Kurt Beck das Amt kosten.

Der Tabubruch in Hessen öffnete den Weg für Koalitionen mit der Linkspartei auch im Westen, der von der SPD bei der Landtagswahl im Saarland, die vier Wochen vor der Bundestagswahl stattfand, erstmals offensiv genutzt wurde (wenn auch am Ende ohne Erfolg). Weil die Partei ein Zusammengehen auf Bundesebene dagegen weiterhin kategorisch ausschloss, hätte sie nur in einer Ampelkoalition mit den Bündnisgrünen und der FDP einen Regierungswechsel herbeiführen können. Die seit 1982 koalitionspolitisch fest an die Union gebundenen Liberalen machten dem einen Strich durch die Rechnung, indem sie kurz vor der Wahl einer solchen Kombination eine definitive Absage erteilten. Umgekehrt waren auch die Grünen nicht bereit, sich als möglicher Mehrheitsbeschaffer für eine "bürgerliche" Koalition von Union und FDP zur Verfügung zu halten. Die Konstellation unterschied sich also kaum von der des Jahres 2005: Sämtliche Dreierkoalitionen wurden von mindestens einem der beteiligten Partner verworfen, sodass am Ende nur zwei Alternativen übrig blieben: eine schwarzgelbe Mehrheit oder die Fortsetzung der bestehenden großen Koalition.

Koalitionspolitische Implikationen

Der klare Wahlsieg von Union und FDP hat gezeigt, dass Mehrheiten für kleine Zweierkoalitionen auf der Bundesebene durchaus noch möglich sind - allerdings nur für das "bürgerliche" Lager. Lagen die drei linken Parteien 2005 mit 51,0 Prozent noch deutlich vor Union und FDP, die zusammen 45,1 Prozent erhielten, so kehrte sich das Verhältnis 2009 zugunsten der bürgerlichen Parteien um: 48,4 Prozent für Union und FDP, 45,6 Prozent für die drei linken Parteien. Die beiden Seiten liegen also durchaus knapp beieinander. Eine relativ geringe Zahl von Rückkehrern und Nichtwählern aus dem bürgerlichen Lager reicht daher schon aus, um eine erneute Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse zu bewirken.

Zu den dramatischen Ergebnissen der Bundestagswahl 2009 gehört die Kräfteverschiebung zwischen den großen und kleinen Parteien innerhalb der beiden Lager. Union und SPD kommen zusammengenommen auf nur noch 56,8 Prozent der Stimmen (gegenüber 69,4 Prozent 2005), was einen historischen Tiefstand markiert. (Bei der ersten Bundestagswahl 1949 betrug ihr gemeinsamer Anteil 60,2 Prozent.) Noch eindrucksvoller sind die Zahlen, wenn man sie auf die Gesamtwählerschaft bezieht: Aufgrund der stark gesunkenen Wahlbeteiligung (von 77,7 auf 70,8 Prozent) können die Volksparteien danach zusammen gerade noch 40 Prozent der Wähler auf sich vereinigen. In der Hochzeit der Stabilität des Zweieinhalbparteiensystems - Anfang bis Mitte der 1970er Jahre - lag dieser Wert mit 80 Prozent doppelt so hoch.

Ab welchem Stimmenanteil hört eine Volkspartei auf, Volkspartei zu sein? Kommentatoren haben diese Frage - hämisch oder ernsthaft besorgt - vor allem mit Blick auf die SPD gestellt, die am 27. September mit 23,0 Prozent ihr mit Abstand schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl hinnehmen musste, während die Union ihren bisherigen Tiefstwert von 1949 (31,0 Prozent) noch knapp überbot (33,8 Prozent). So wichtig es ist, die längerfristigen Ursachen der rückläufigen Wählerunterstützung im Auge zu behalten, so richtig ist es auch, dass der Hauptgrund für das starke Absinken der Großen bei der Bundestagswahl in der Regierungskonstellation zu suchen ist, die Union und SPD 2005 unfreiwillig zusammengeführt hatte. Einerseits wirkte sich der natürliche Oppositionseffekt großer Koalitionen aus, andererseits wurde der Anreiz, die Kleinen zu unterstützen, bei dieser Wahl durch die Koalitionspräferenzen und -optionen der Regierungsparteien zusätzlich verstärkt. Während Unionswähler, die sicher gehen wollten, dass ihre Stimme nicht erneut in eine große Koalition münden würde, in die Arme der FDP getrieben wurden, fehlte es der SPD überhaupt an einer Machtperspektive. Daher konnte sie ihre Kampagne am Ende nur noch auf das Ziel abstellen, eine schwarzgelbe Koalition zu verhindern.

Die koalitionspolitische Öffnung der SPD gegenüber der Linken ist die Antwort auf die hegemoniale Position der Union im neuen Fünfparteiensystem. Auch hier haben wir es mit einer bemerkenswerten Verschiebung zu tun. Bei den drei vorangegangenen Bundestagswahlen lag die SPD mit der CDU/CSU ganz oder nahezu gleichauf bzw. einmal (1998) sogar deutlich vor dieser, was die Wahl- und Parteienforscher veranlasste, von einer strukturellen Symmetrie bzw. fluiden Wettbewerbssituation zwischen den Großparteien zu sprechen. Heute kann von einer solchen Symmetrie nur noch mit Blick auf die beiden Blöcke, nicht jedoch mit Blick auf Union und SPD die Rede sein. Weil die CDU/CSU es nur mit einem, die SPD dagegen mit zwei Konkurrenten im eigenen Lager zu tun hat, muss Letztere fürchten, im Verhältnis der beiden großen Parteien auf längere Sicht in eine Minderheitsposition zu geraten. Der Status als stärkste Partei verschafft der Union einen doppelten machtstrategischen Vorteil: Einerseits erhält er ihr im Bund wie in den meisten Ländern die Möglichkeit, kleine Zweierkoalitionen zu bilden, wobei neben der FDP mittlerweile auch die Grünen als Partner in Frage kommen. Und wenn die Mehrheiten dafür nicht reichen, tut sie sich andererseits leichter als die SPD, eine große Koalition einzugehen, in der sie das Amt des Regierungschefs für sich beanspruchen kann. Die SPD scheint dagegen nur noch in Dreierbündnissen mehrheitsfähig, die sie entweder mit Linken und Grünen oder - lagerübergreifend - mit FDP und Grünen schließen müsste.

Weil beide Optionen bei der Bundestagswahl nicht zur Verfügung standen, hatten die Sozialdemokraten gegenüber Union und FDP einen gravierenden Wettbewerbsnachteil. Allein damit lässt sich die Abwanderung von SPD-Wählern zur bürgerlichen Konkurrenz natürlich nicht erklären. Sie ist auch das Ergebnis einer geschickten Neupositionierung der Merkel-CDU, die aus ihren haarsträubenden Wahlkampffehlern 2005 die Konsequenz gezogen hatte, der SPD diesmal keine Angriffsflächen zu bieten. Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte die ihr gewissermaßen aufgezwungene Koalition, um die Union von konservativem und neoliberalem Ballast zu befreien. Indem sie eine Modernisierung der Familienpolitik durchsetzte und allen radikalreformerischen Ansätzen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik einen Riegel vorschob, gelang es ihr, sozialdemokratisches Terrain so erfolgreich zu besetzen, dass eine schwarzgelbe Koalition im Wahlkampf nicht als Schreckgespenst taugte. Der Kanzlerbonus der populären Amtsinhaberin tat ein Übriges. Die Unionsstrategie beförderte zwar die Abwanderung vieler Wähler zu den ungeliebten Liberalen. Das Festhalten der FDP an einer "entsozialdemokratisierten" Agenda, in deren Zentrum die gebetsmühlenhaft verkündete Forderung nach Steuersenkungen stand, sorgte am Ende für eine breite Wählerkoalition, welche die Mehrheit für Schwarzgelb sicherstellte.

Vom Projekt ohne Mehrheit zur Mehrheit ohne Projekt

In der Koalitionsforschung werden zwei Hauptfaktoren der Koalitionsbildung unterschieden: Macht- und Ämterstreben (office-seeking) sowie programmatische Positionen (policy-seeking). Weil sich empirisch damit nur etwa die Hälfte der Varianz erklären lässt, gilt es weitere Faktoren hinzuzufügen. So können habituelle oder personelle Unverträglichkeiten zwischen den prospektiven Partnern ein Zusammengehen erschweren. Ein eigenständiger Einfluss geht zudem von positiven oder negativen Koalitionsaussagen aus, die vor der Wahl getroffen werden. Darüber hinaus sind institutionelle und politisch-kulturelle Eigenschaften des Regierungssystems zu berücksichtigen.

So wie 2005 war Schwarzgelb auch 2009 die erklärte Wunschkoalition von Union und FDP. Gleichwohl herrschte im Vorfeld der Wahl hinsichtlich der Eindeutigkeit der Koalitionsaussage wechselseitiges Misstrauen. Während die FDP monierte, dass manche in der Union wohl mit einer Fortsetzung der großen Koalition liebäugelten, vermissten CDU und CSU bei den Liberalen eine klare Absage an die Ampelkoalition (die tatsächlich erst kurz vor der Wahl erfolgte). Hintergrund der Auseinandersetzung war auf Seiten der Union die Furcht, massiv Stimmen an die FDP zu verlieren und damit auch in einer schwarzgelben Koalition an Gewicht einzubüßen. Mit der Kritik am "Wunschkoalitionspartner" taten sich CDU und CSU freilich keinen Gefallen. Insbesondere die CSU erreichte mit ihren Ausfällen das Gegenteil des Erhofften: Ihr Ergebnis war so schwach, dass sie mit bundesweit hochgerechneten 6,5 Prozent am Ende deutlich hinter den Liberalen lag (14,6 Prozent).

Wie 2005 sprachen auch 2009 das Interesse an einer kleinen Koalition, die habituellen und persönlichen Nähen der Partner sowie deren Festlegungen im Vorfeld der Wahl für ein Zusammengehen von Union und FDP. Hinzu kam das Motiv der Kanzlerin, die eigene innerparteiliche Machtposition durch einen Sieg von Schwarzgelb abzusichern. Daher konnte es keinen Zweifel geben, dass Union und FDP tatsächlich regieren würden, wenn das Bundestagswahlergebnis eine Mehrheit für beide Parteien ermöglichte.

Wesentlich gravierender als 2005 stellten sich dagegen die programmatischen und politikinhaltlichen Differenzen zwischen den neuen Koalitionspartnern dar. Dies lag zum einen an der Regierungskonstellation. 2005 hatte die Union den Wahlkampf aus der Opposition heraus betrieben. Nun war sie - im Unterschied zur FDP - selbst Regierungspartei und konnte nicht all das kritisieren oder zur Disposition stellen, was sie zusammen mit der SPD auf den Weg gebracht hatte. Zum anderen hatte die von der damaligen Fast-Niederlage traumatisierte CDU ihre Positionen aus freien Stücken korrigiert. War sie 2005 noch mit einer Agenda der Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Wahlkampf gezogen, die sich in punkto Radikalität von jener der FDP nicht sonderlich unterschied, so wollte sie jetzt von einschneidenden Strukturreformen nichts mehr wissen und die in der großen Koalition begonnene Politik am liebsten fortsetzen. Tatsächlich waren die programmatischen Übereinstimmungen der Union mit der SPD nach vier Jahren gemeinsamer Regierung in vielen Politikfeldern größer als mit dem Wunschpartner FDP.

Entsprechend mühsam gestalteten sich die Koalitionsverhandlungen, worüber auch deren vergleichsweise kurze Dauer nicht hinwegtäuschen kann. Mit der Atompolitik gab es hier im Grunde nur einen bedeutsamen Bereich, in dem Union und FDP eine Kursänderung - für eine Verlängerung der Restlaufzeiten - einvernehmlich beschlossen (was in der großen Koalition aufgrund des Widerstandes der SPD nicht möglich gewesen war). In anderen Bereichen wie der Innen- und Rechtspolitik oder beim Wehrdienst, wo die Positionen weit auseinanderklafften, verständigten sich die Koalitionspartner auf mehr oder weniger tragfähige Kompromisse, mit denen beide Seiten leben konnten. Als Stolpersteine sollten sich dagegen die Themen entpuppen, die den Wahlkampf dominiert hatten und die insbesondere von der FDP mit weitreichenden Ankündigungen und Versprechungen verknüpft worden waren: die Steuerpolitik, der Arbeitsmarkt und das Gesundheitswesen.

In der Arbeitsmarktpolitik vereinbarten Union und FDP eine Erhöhung des Schonvermögens für Hartz IV-Empfänger, die freilich eher von symbolischer als substanzieller Bedeutung ist, indem sie beiden Parteien Gelegenheit gibt, dem Vorwurf der sozialen Kälte entgegenzutreten. Ansonsten konnte sich die FDP mit ihren Forderungen nach einer Lockerung des Kündigungsschutzes und einer Reform der Arbeitsagenturen gegen die Unionsparteien nicht durchsetzen, die sich schon im Wahlkampf darauf verpflichtet hatten, hier keine Änderung vorzunehmen. Dafür musste die Union den Liberalen in der Steuer- und Gesundheitspolitik weiter entgegenkommen, als es vielen in der Partei aus Sorge um die ausufernden Staatsschulden recht war. Gerade in diesen Bereichen bleiben die Formulierungen im Koalitionsvertrag aber unscharf und offen für Interpretationen, was für den Verlauf der Legislaturperiode harte Auseinandersetzungen erwarten lässt. So wurden etwa die Ausarbeitung der Gesundheitsreform einer Kommission übertragen, der genaue Zeitpunkt der versprochenen Steuerentlastungen offen gelassen und alle im Koalitionsvertrag vereinbarten Ausgaben und Mindereinnahmen unter generellen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Zudem muss die Regierung mit dem Widerstand ihrer eigenen, der Union angehörenden Ministerpräsidenten im Bundesrat rechnen, wenn die Länder einen wesentlichen Teil der Steuerausfälle zu verkraften haben werden, die von der Koalition geplant sind. Unter diesen Bedingungen dürfte das Regieren für die Kanzlerin in den nächsten vier Jahren eher schwieriger werden als in der zu Ende gegangenen großen Koalition.

Die Verteilung der Ministerposten verlief im Unterschied zu den inhaltlichen Verhandlungen weitgehend problemlos. Strukturelle Veränderungen in der Zahl und im Zuschnitt der Ressorts gab es nicht. Auch folgte die Verteilung dem aus früheren kleinen Koalitionen bekannten Muster, wonach die inhaltlich verwandten Ressorts Auswärtiges und Verteidigung, Innen und Justiz sowie Finanzen und Wirtschaft zwischen dem großen und kleinen Koalitionspartner aufgeteilt werden. Gemessen an ihrer Mandatsstärke wurde die FDP in der Regierung leicht, die CSU stark überproportional berücksichtigt.

Ausblick

Wie wird sich das Parteiensystem der Bundesrepublik weiterentwickeln? Nach der Zäsur der Bundestagswahl 2005 waren die Mehrzahl der journalistischen und wissenschaftlichen Beobachter davon ausgegangen, dass die Ära des klassischen Volksparteien-Dualismus, die das Standardmodell der kleinen Zweierkoalition begründet hatte, unwiderruflich ans Ende gelangt sei. Zwei Zukunftsszenarien - ein negatives und ein positives - wurden entworfen. Entweder - so hieß es - komme es wie in Österreich zu einer Perpetuierung der großen Koalition, oder eine multiple Koalitionslandschaft wie in den skandinavischen Ländern werde entstehen, in der lagerübergreifende Dreierbündnisse das Bild prägten.

Beide Szenarien haben sich bisher nicht bewahrheitet. Die koalitionspolitische Öffnung der Grünen hat zwar zur Bildung des ersten schwarzgrünen Bündnisses auf Landesebene geführt (in Hamburg). Der Option "Jamaika" musste sich die Grünen-Führung vor der Bundestagswahl auf Druck ihrer Basis dann aber doch verschließen - erst nach der Wahl wurde sie im Saarland erstmals Wirklichkeit. Hermetisch bleibt die Abschottung der FDP gegen ein Ampelbündnis mit SPD und Grünen, die von den Liberalen auch in den Ländern bisher konsequent durchgehalten worden ist.

Vor dem Hintergrund der nicht zustande gekommenen Dreierbündnisse ist es erstaunlich, dass die große Koalition als alternatives Regierungsmodell zuletzt ebenfalls an Attraktivität eingebüßt hat. Wurden bis zu den Landtagswahlen im August und September 2009 fünf Länder von CDU und SPD gemeinsam regiert, so sind es zurzeit nur noch drei (nachdem in Brandenburg ein rotrotes und Thüringen ein schwarzrotes Bündnis zustande gekommen ist). Rechnet man Schwarzgrün in Hamburg und "Jamaika" im Saarland hinzu, gibt es auf Länderebene fünf lagerübergreifende Bündnisse, denen zehn bürgerliche oder linke Koalitionen nach klassischem Muster gegenüberstehen. (Das Land Rheinland-Pfalz bleibt mit seiner SPD-Alleinregierung ein Exot.) Es scheint also ganz so auszusehen, als ob die Zeichen auf Rückkehr zum dualistischen Modell stehen. Gelingt es Rotgrün und der Linken, ihre wechselseitige Abneigung zu überwinden, dann könnten sich in der Bundesrepublik demnächst wieder zwei annähernd gleichstarke, koalitionspolitisch abgrenzbare Formationen begegnen, die um die Regierungsmacht streiten. Die Situation wäre damit ähnlich wie in den 1980er Jahren, nur dass sich das linke Lager jetzt aus drei statt aus zwei Teilen zusammensetzt.

Gegen ein solches Szenario spricht die Ungewissheit, wie sich das Verhältnis von SPD, Grünen und Linken entwickeln wird. Erstens ist das Interesse an einer gemeinsamen Machtperspektive noch kein Garant dafür, dass sich personelle und programmatische Differenzen überwinden lassen. Und zweitens führen die unterschiedlichen Koalitionsmöglichkeiten der beteiligten Partner dazu, dass ihre strategischen Interessen nicht deckungsgleich sind. Einer vollständigen Vereinnahmung im linken Lager dürften sich insbesondere die Grünen widersetzen. Denn hält sich die Öko-Partei den Weg frei, gegebenenfalls auch mit den bürgerlichen Parteien zu paktieren, könnte sie demnächst eine ähnliche Zünglein-an-der-Waage-Rolle im Parteiensystem einnehmen wie früher die FDP. Warum sollte sie auf diesen Vorteil verzichten? Bei den Wahlen in Schleswig-Holstein (September 2009) und im Saarland (August 2009) hat das Offenhalten der Koalitionsfrage den Grünen nicht geschadet. Das Problem liegt wohl eher bei der Parteibasis, die sowohl im Verhältnis zur Wählerschaft als auch im Verhältnis zur Parteispitze deutlicher nach links tendiert. Die klare Parteitagsmehrheit für "Jamaika" im Saarland zeigt aber, dass sich Delegierte wie Mitglieder vom Schwenk ins "bürgerliche" Lager durchaus überzeugen lassen, wenn er von der Führung gut vorbereitet und begründet wird.

Eine vollständige Bipolarisierung wird und kann es wohl allein schon aufgrund der föderalen Verfassung der Bundesrepublik nicht geben. Dass sich Landespolitiker der Koalitionsräson ihrer Bundesparteien bisweilen entziehen, gehört zu den Usancen der Koalitionspolitik. Der gescheiterte Versuch der hessischen SPD, ein von der Linken geduldetes rotgrünes Bündnis zustande zu bringen, oder die mühsame Regierungsbildung in Thüringen, wo der freiwillige Verzicht des Linken-Spitzenkandidaten auf das Ministerpräsidentenamt genauso großen Unmut in der eigenen Partei erzeugt hat wie die Entscheidung des SPD-Landesvorstandes, statt mit der Linken lieber eine Koalition mit der CDU einzugehen, stehen hier pars pro toto. Wenn Parteien, die auf Bundesebene gegeneinander stehen, in den Ländern miteinander regieren, stößt das antagonistische Modell notgedrungen an Grenzen. Das Gegenüber zweier klar unterscheidbarer Blöcke mag zwar unter Demokratiegesichtspunkten vorzugswürdig sein, indem es dem Wähler eine ebenso klare Entscheidung ermöglicht. Fraglich ist aber, ob es die faktischen Entscheidungsnotwendigkeiten und -alternativen im komplizierten Regierungsgeschehen noch hinreichend abbildet.

Hinzu kommt der aus vergangenen Legislaturperioden hinlänglich bekannte Oppositionseffekt der Landtagswahlen, der dazu führt, dass es die Bundesregierungen über kurz oder lang mit einem vom gegnerischen Lager dominierten Bundesrat zu tun haben. Nicht von ungefähr haben Union und FDP die großen Entscheidungen der Steuer- und Gesundheitspolitik auf die Zeit nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (im Mai 2010) vertagt, bei der sie ihre knappe Mehrheit in der Länderkammer verlieren könnten. Union und FDP wären dann in allen wichtigen Fragen auf die Zustimmung einer oder mehrerer Oppositionsparteien angewiesen.

Stellt man diese Notwendigkeiten in Rechnung, dann ist die Zeit der lagerübergreifenden Bündnisse in der deutschen Politik nicht vorüber. Gewiss ist ein Modell multipler Koalitionen anspruchsvoller als das bisherige Verharren im Lagerdenken, würde es doch eine grundlegende Veränderung im Verhalten von Parteien und Wählern erfordern.

Frühestens die 2010 und 2011 stattfindenden Landtagswahlen werden Aufschluss darüber geben, ob der sich jetzt abzeichnende Rückweg zum Bipolarismus tatsächlich das künftige Modell des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik markiert. Für das Land wäre es ein schlechtes Omen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Entstehungsgeschichte der WASG vgl. Oliver Nachtwey, Im Westen was Neues. Die Entstehung der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit, in: Tim Spier u.a. (Hrsg.), Die Linkspartei, Wiesbaden 2007, S. 155 - 184.

  2. Vgl. Frank Decker, Die Zäsur. Konsequenzen der Bundestagswahl 2005 für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in: Berliner Republik, 7 (2005) 5, S. 66 - 71.

  3. In Brandenburg amtierte von 1990 bis 1994 eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90. Diese wurde wie die von 1991 bis 1995 bestehende Ampel in Bremen noch vor Ablauf der Wahlperiode beendet.

  4. Vgl. Frank Decker, Veränderte Landschaft. Parteipolitik zwischen Lagerdenken und neuen Koalitionen, in: Mut. Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 490 (Juni 2008), S. 10 - 19.

  5. Zur Koalitionspolitik in den Ländern vgl. die Beiträge in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.), Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008.

  6. Vgl. Eckhard Jesse, Die koalitionspolitische Haltung der SPD gegenüber der SED, der PDS, der Linkspartei und der Linken, in: Antonius Liedhegener/Torsten Oppelland (Hrsg.), Parteiendemokratie in der Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009, S. 243 - 256.

  7. Der einzige erkennbare Unterschied lag darin, dass sich die Grünen für eine Zweierkoalition mit der Union geöffnet hatten. Dass der Wahlausgang den Weg für ein solches Bündnis freimachen würde, war allerdings von vornherein unwahrscheinlich. Dazu hätten die Grünen stärker sein müssen als die FDP, und die Unionsparteien hätten eine gemeinsame Mehrheit mit den Liberalen verfehlen müssen.

  8. Da die CSU im Koalitionsausschuss selbständig vertreten ist und bei allen unionsinternen Entscheidungen ein Vetorecht besitzt, handelt es sich auch hier faktisch um eine Koalition aus drei Parteien.

  9. Dies lässt sich auch am Überraschungsergebnis der Piratenpartei ablesen, deren 2,0 Stimmenprozente primär zu Lasten der linken Parteien gegangen sein dürften.

  10. Vgl. Oskar Niedermayer, Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005, in: ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2008, S. 16.

  11. Vgl. Frank Decker, Wo wir sind, ist die Mitte! Zum Standort der CDU im deutschen Parteiensystem, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 55 (2008) 1/2, S. 12 - 15.

  12. Vgl. Wolfgang C. Müller, Koalitionstheorien, in: Ludger Helms/Uwe Jun (Hrsg.), Politische Theorie und Regierungslehre, Frankfurt/M. 2004, S. 267 - 301.

  13. Vgl. Frank Decker, Koalitionsaussagen der Parteien vor Wahlen. Eine Forschungsskizze im Kontext des deutschen Regierungssystems, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 40 (2009) 2, S. 413 - 435.

  14. In den Koalitionsverhandlungen war erwogen worden, die zur Finanzierung der Steuersenkungen zusätzlich notwendigen Kredite in einem Schatten- oder Nebenhaushalt zu verstecken. Nach massiver öffentlicher Kritik mussten die Koalitionäre von diesem Vorhaben lassen.

  15. Vgl. Weiterwursteln im Merkelland, in: Der Spiegel Nr. 44 vom 26.10. 2009, S. 24 - 38.

  16. Für eine Bewertung der Szenarien vgl. Dieter Oberndörfer/Gerd Mielke/Ulrich Eith, Vom Zweieinhalb- zum Fünf-Parteiensystem: neue Bündnisse oder alte Lager?, in: A. Liedhegener/T. Oppelland (Anm. 6), S. 264ff.

  17. Vgl. Christian Lorenz, Schwarz-Grün auf Bundesebene?, in: APuZ, (2007) 35 - 36, S. 33 - 40.

  18. Joachim Raschke, Spielt jetzt mit den Schmuddelkindern, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.9. 2009, S. 2.

  19. Vgl. Frank Decker, Höhere Volatilität bei Landtagswahlen? Die Bedeutung bundespolitischer "Zwischenwahlen", in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005, München 2006, S. 259 - 279.

Dr. rer. pol., Dipl.-Pol., geb. 1964; Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Lennéstraße 27, 53113 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: frank.decker@uni-bonn.de