Bevor die politische Agenda in Deutschland ab März 2020 von der Corona-Krise dominiert wurde, hatte im Februar ein anderes Ereignis die Republik in Atem gehalten und die parteipolitische Debatte auf Landes- und Bundesebene wochenlang bestimmt: die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Der Sieg des FDP-Politikers Thomas Kemmerich über den populären Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken bei der Abstimmung im Erfurter Landtag im dritten Wahlgang sorgte am 5. Februar 2020 für einen Paukenschlag, weil er mithilfe der Stimmen der rechtspopulistischen AfD erfolgte und dies von CDU und FDP – bewusst oder versehentlich – in Kauf genommen wurde. Die öffentliche Empörung über diesen "Dammbruch" war so groß, dass Kemmerich bereits drei Tage nach der Wahl wieder zurücktrat, was ihn zum Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte der Bundesrepublik machte. Gleichzeitig löste sie eine Führungskrise innerhalb der CDU aus,
Unanständig, Trickserei, Wählerbetrug – diese und ähnliche Vokabeln wurden bemüht, um das Verhalten von AfD, CDU und FDP bei der Wahl Kemmerichs zu diskreditieren. Nach dessen erzwungenem Abgang begannen sogleich die Spekulationen, wie sich die Parteien und Abgeordneten bei der fälligen Wiederholungswahl verhalten würden. Insbesondere die Linke schreckte vor einer solchen Wahl zunächst zurück, weil sie fürchtete, dass ausgerechnet die AfD Ramelow mit ihren Stimmen im ersten oder zweiten Wahlgang zur absoluten Mehrheit verhelfen könnte. Über die verfassungsmäßige Bestimmung, die so ein perfides Verhalten zulässt, verloren Politiker und professionelle Beobachter kein Wort: Es ist die in allen Ländern und auf Bundesebene vorgesehene Regelung, wonach die Wahl der Regierungschefs mit "verdeckten Stimmzetteln" – wie es in der Geschäftsordnung des Bundestages heißt – zu erfolgen hat, also in geheimer Abstimmung.
Von Barzel bis Ramelow: Dramen gescheiterter Regierungswahlen
Die Nicht-Thematisierung der Geheimwahl in der politischen und publizistischen Debatte ist bezeichnend. Zugleich erstaunt sie, weil ja der Thüringer Fall keineswegs eine Premiere war – vergleichbare Ereignisse hat es schon öfter gegeben. Für die Landesebene ist aus der jüngeren Vergangenheit vor allem die gescheiterte Wahl von Heide Simonis (SPD) in Schleswig-Holstein zu nennen, die 2005 in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden Wahlgängen die notwendige Mehrheit um nur eine Stimme verfehlte. Mindestens eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter der eigenen Koalitionsmehrheit musste ihr die Gefolgschaft versagt haben. Wie es einem ergeht, wenn man die eigenen "Truppen" nicht hinter sich weiß, hatte kurz zuvor bereits Simonis’ sächsischer Amtskollege Georg Milbradt (CDU) zu spüren bekommen, dessen Wiederwahl zum Ministerpräsidenten im November 2004 erst im zweiten Anlauf glückte. Dass Abgeordnete die Gelegenheit des ersten Wahlgangs mitunter nutzen, um ihrem Kandidaten einen "Denkzettel" zu verpassen, ist an sich nichts Ungewöhnliches. In Sachsen hatten es die Abtrünnigen allerdings nicht bei einer Enthaltung bewenden lassen, sondern mit ihren Stimmen den Gegenkandidaten der NPD unterstützt.
In Thüringen hatte die geheime Abstimmung wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse bereits bei den beiden vorangegangenen Ministerpräsidentenwahlen eine Rolle gespielt. 2014 verpasste Bodo Ramelow die notwendige absolute Mehrheit im ersten Wahlgang, weil ihm aus den eigenen Reihen eine Stimme fehlte, und 2009 war der CDU-Politikerin Christine Lieberknecht die Wahl sogar erst im dritten Wahlgang gelungen. Dass auch (über-)große Mehrheiten negative Konsequenzen für das Stimmenergebnis haben können, musste wiederum Angela Merkel (CDU) erfahren, als sie als Kandidatin einer Großen Koalition bei der Wahl 2005 im Bundestag 51 Stimmen weniger erhielt, als Union und SPD gemeinsam "kontrollierten".
Die genannten Vorgänge stießen in der Öffentlichkeit auf mehr oder weniger große Beachtung. In den Medienberichten wurden dabei zumeist Mutmaßungen angestellt, woher die abweichenden Stimmen gekommen sein und welche Motive die Abweichler zu ihrem Verhalten veranlasst haben mochten. Die eigentliche Ursache des Problems – der Modus der geheimen Stimmabgabe – spielte keine Rolle. Das ist insofern bemerkenswert, als es bereits in den 1970er Jahren eine Debatte über den Sinn und Unsinn der Geheimwahl gegeben hatte. Den Anstoß lieferten zwei Ereignisse, unter denen zumindest das erste – das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im April 1972 – den späteren Kieler und aktuellen Thüringer Fall in der Tragweite weit übertraf. Von den zwei Stimmen, die dem CDU-Kandidaten Rainer Barzel zur Wahl zum Bundeskanzler fehlten, waren, wie sich später herausstellte, eine nachweislich, die andere vermutlich vom Staatssicherheitsdienst der DDR gekauft.
In den 1990er Jahren nahm Winfried Steffani das Thema von politikwissenschaftlicher Seite und ohne speziellen Anlass erneut auf.
Von der förmlichen zur geheimen Abstimmung
Die Wahl des Regierungschefs durch das Parlament in geheimer Abstimmung ist eine deutsche Spezialität. Die meisten parlamentarischen Systeme kennen auf der nationalen Ebene überhaupt keine förmliche Wahl. Der Premierminister oder Ministerpräsident wird hier durch das jeweilige Staatsoberhaupt ernannt. Dieses ist in seiner Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten allerdings nicht frei, sondern bleibt an den Willen des Parlaments gebunden, das über die Möglichkeit verfügt, den Regierungschef per Misstrauensvotum jederzeit aus politischen Gründen abzuberufen. Das Abberufungsrecht ist das eigentliche Erkennungsmerkmal der parlamentarischen Regierungsform und unterscheidet diese vom gewaltentrennenden präsidentiellen System.
Eine förmliche Wahl des Regierungschefs durch das Parlament sehen neben der Bundesrepublik nur wenige Staaten vor, etwa Finnland, Schweden oder Südafrika. In Irland und Spanien kommen die Investiturabstimmungen einer förmlichen Bestellung nahe. In Deutschland muss die Einführung der förmlichen Wahl vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem präsidialen Ernennungsrecht in der Weimarer Republik gesehen werden. Das Trauma des 30. Januar 1933 – die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg – veranlasste den Parlamentarischen Rat bei der Formulierung des Grundgesetzes, einer möglichen Beeinflussung der Regierungsbildung durch das Staatsoberhaupt künftig jeden erdenklichen Riegel vorzuschieben. Auf der gliedstaatlichen Ebene, wo es kein vom Regierungschef abgetrenntes Staatsoberhaupt gibt, ist die förmliche Wahl ohnehin vorgegeben. Anknüpfend an vorparlamentarische Verfassungstraditionen hatten fast alle Länder der Weimarer Republik in ihren parlamentarischen Geschäftsordnungen bestimmt, dass die Wahl des Ministerpräsidenten beziehungsweise der Regierungsmitglieder geheim zu erfolgen habe.
Auf der Bundesebene erstreckte sich die Bestimmung zugleich auf das in Artikel 67 des Grundgesetzes (GG) geregelte konstruktive Misstrauensvotum, was insofern folgerichtig war, als dieses ja die Abwahl des alten mit der Wahl eines neuen Regierungschefs verbindet. Genauso halten es die nachgrundgesetzlichen Länderverfassungen beziehungsweise die Länder, die das konstruktive Misstrauensvotum erst später eingeführt haben. Stellen der Bundeskanzler oder Ministerpräsident dagegen selbst die Vertrauensfrage, wie es in Artikel 68 GG geregelt ist, wird darüber im Bundestag und den Landesparlamenten durchweg offen abgestimmt. Dasselbe gilt für die Länderverfassungen, die nur das "destruktive", auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Misstrauensvotum kennen und deshalb auf eine eigenständige "Vertrauensfrage" verzichten.
In der Bundesrepublik sieht unter den Ländern derzeit allein das Saarland die geheime Abstimmung nicht automatisch vor. Weil der offenen Wahl bereits von einem einzigen Abgeordneten widersprochen werden kann, ist sie aber auch hier de facto der Regelfall – seit 1980 wurde nur zweimal nicht geheim abgestimmt. Von den übrigen Ländern legen acht die geheime Abstimmung sogar in ihren Verfassungen fest, während sieben die Bestimmung in den Geschäftsordnungen der Landtage verankert haben, die mit einfacher Mehrheit verändert werden könnten. Letzteres entspricht der überwiegenden Praxis der europäischen Länder auf nationaler Ebene. Eine Öffnungsklausel enthält einzig die Regelung in Schleswig-Holstein. Hier kann laut Paragraf 63 Absatz 3 der Geschäftsordnung auf "Vorschlag der Präsidentin oder des Präsidenten oder auf Antrag (…) offen abgestimmt werden, es sei denn, dass achtzehn Abgeordnete oder zwei Fraktionen widersprechen."
Schutzvorkehrung für das freie Mandat?
Die Wahl der Regierung "mit verdeckten Stimmzetteln" wird in der Regel damit begründet, dass nur auf diese Weise das in Artikel 38 GG festgeschriebene freie Mandat wirksam geschützt werden könne. Um den Abgeordneten vor den Pressionen zu bewahren, die er bei einem Abweichen von der Fraktionslinie unweigerlich zu gewärtigen hätte, soll er dem Zwang enthoben werden, sich bekennen zu müssen und mit offenem Visier zu kämpfen. Aus demokratischer Sicht ist das nicht nachvollziehbar. Zu Ende gedacht würde es bedeuten, dass auch bei Gesetzesbeschlüssen, die ja fraktionsintern ebenfalls umstritten sein können, stets geheim abgestimmt werden müsste. Forderungen, den Anwendungsbereich geheimer Abstimmungen in diesem Sinne auf Sachentscheidungen auszudehnen, indem man beispielsweise einer qualifizierten Minderheit das Recht einräumt, bei Bedarf eine geheime Abstimmung zu verlangen, hat es zwar gegeben, doch blieben sie ohne große Resonanz.
Gegen diese Argumentation wird zur Rechtfertigung der geheimen Abstimmung häufig der besondere Charakter von Personenentscheidungen ins Feld geführt, die als "Wahlen" anders zu betrachten seien als Abstimmungen beziehungsweise Entscheidungen über Sachfragen, weil es bei ihnen auch um eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Gewählten gehe.
Wenn Befürworter der Geheimwahl diese mit dem Schutz des freien Mandates begründen, übersehen sie, dass die Demokratie hierzulande nicht nur auf der freien Zustimmung der Abgeordneten beruht, sondern auch darauf, dass diese Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt werden. Die Regierungswahl ist in einem parlamentarischen System von der ihr in der Regel unmittelbar vorausgehenden Parlamentswahl nicht zu trennen. Die Abgeordneten "vollziehen" lediglich eine Entscheidung, für die sie vom Wähler zuvor autorisiert wurden. Hier liegt auch der Grund, warum von den Parteien im Vorfeld der Wahl klare Koalitionsaussagen erwartet werden. Verweigern sie eine solche Aussage, setzen sie sich über eine getroffene Festlegung nach der Wahl hinweg oder wechseln sie während der laufenden Legislaturperiode ohne vorangegangene Neuwahl die Seiten, wird das zu Recht als undemokratisch erachtet. Ebenso wird es von der Öffentlichkeit nur selten goutiert, wenn Abgeordnete nach einer Wahl zu einer anderen Partei oder Fraktion "überlaufen", wie zuletzt der Fall Twesten in Niedersachsen gezeigt hat.
Fühlen sich die Abgeordneten dem Wählervotum verpflichtet, können sie sich von den Positionen dieser Partei also – trotz ihres freien Mandates – nicht nach Belieben entfernen. Nach Belieben heißt, dass sie es dürfen (und vielleicht sogar tun sollten), sofern dafür gute Gründe vorliegen. Ob das der Fall ist, kann man aber nur erkennen, wenn diese Gründe offengelegt werden. Lässt Artikel 38 GG ein Abweichen vom Wählermandat zu, müssen die Wähler wenigstens die Möglichkeit haben, ein solches Verhalten zu bewerten und gegebenenfalls zu sanktionieren. Dasselbe gilt für die Fraktionskollegen, die wissen sollten, wer und wer nicht hinter einer gemeinsam getroffenen Entscheidung steht. Die geheime Wahl unterminiert insofern nicht nur die Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Abgeordneten, sondern auch die der Abgeordneten untereinander.
Dass sich Wähler und Politiker des undemokratischen Charakters der Geheimwahl zumindest intuitiv bewusst zu sein scheinen, zeigt ein Ereignis, das 2008 von Hessen aus ähnlich starke Schockwellen aussandte wie der jüngste Fall in Thüringen: die schon im Vorfeld gescheiterte (und deshalb unter den eingangs genannten Fällen nicht aufgeführte) Wahl der SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin. Diese Wahl fiel sprichwörtlich ins Wasser, weil vier Abgeordnete ihrer eigenen Fraktion nicht bereit waren, die Kandidatin mitzutragen.
Warum fällt es so schwer, die Geheimwahl abzuschaffen?
In der Literatur findet man gelegentlich die Feststellung, dass das freie Mandat in Widerspruch zu den Funktionsprinzipien des parteiendemokratischen Parlamentarismus stehe. Diese Feststellung ist falsch, weil die Möglichkeit des Misstrauensvotums, auf der das parlamentarische System im Kern beruht, an die Garantie des freien Mandates gebunden ist. Ein einigermaßen stabiles Regieren setzt freilich voraus, dass von dieser Möglichkeit nicht allzu häufig Gebrauch gemacht wird. Das parlamentarische System kommt daher ohne ein Mindestmaß an Partei-, Koalitions- und Fraktionsdisziplin nicht aus, wenn es seine Funktionsfähigkeit aufrechterhalten will.
Für die Fraktions- und Parteiführungen wäre der Übergang zu offenen Abstimmungen bei der Regierungswahl gewiss von Vorteil, weil sich potenzielle Abweichler so leichter "auf Linie" bringen ließen. Vor diesem Hintergrund muss es eigentlich verblüffen, dass die Geheimwahl nicht längst abgeschafft wurde. Im internationalen Vergleich gehört die Bundesrepublik zu den parlamentarischen Systemen mit der am stärksten ausgeprägten Fraktionsbindung. Dies schlägt sich auch im Umgang mit der geheimen Abstimmung nieder. Dass die Fraktionen Abstimmungen proben, um Unwägbarkeiten entgegenzutreten, kann man ihnen schlecht vorwerfen. Was aber ist, wenn Abgeordnete das Wahlgeheimnis durch Herumzeigen oder Abfotografieren des "richtig" ausgefüllten Stimmzettels bewusst unterlaufen oder Fraktionsführungen sie verpflichten, die Wahl zu boykottieren, also an der Abstimmung nicht teilzunehmen?
Die geheime Wahl der Regierung ist ein Musterbeispiel für die pfadabhängige Entwicklung politischer Institutionen. Eschenburg führte sie auf vorparlamentarische Traditionen zurück, die in den Parlamentarismus ohne nähere Begründung einfach überführt worden seien.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für das Festhalten an der Geheimwahl liegt in einer generellen Höherbewertung des konstitutionellen gegenüber dem demokratischen Prinzip im deutschen Verfassungsdenken, das in der rechtswissenschaftlichen Literatur bis heute nachhallt und zugleich die Verfassungsrechtsprechung prägt. Dies spiegelt sich auch in anderen Restriktionen wider – etwa in der nach wie vor nicht hergestellten Regelöffentlichkeit der Parlamentsausschüsse. Während Politologen wie Eschenburg und Steffani in der geheimen Regierungswahl ein vordemokratisches Relikt sehen, betrachten die meisten Staatsrechtler sie als notwendiges Bollwerk gegen einen angeblich überbordenden Parteienstaat.
Vor diesem Hintergrund dürften die Chancen für eine Abkehr von der überkommenen Geheimwahl – zumindest in absehbarer Zukunft – eher gering sein, auch wenn die Hürden für eine Änderung dort, wo die "verdeckten Stimmzettel" lediglich in der Geschäftsordnung festgeschrieben stehen (in der Hälfte der Länder und im Bund), nicht sehr hoch lägen. Wahrscheinlich braucht es erst weitere Fälle vom Kaliber Ypsilanti oder Kemmerich, um ein Umdenken zu bewirken. Von einem einzelnen Vorreiter könnte dann bereits eine Signalfunktion ausgehen. Dass es unter den Bedingungen knapperer Mehrheiten und komplizierterer Koalitionsbildungen in einer sich pluralisierenden Parteienlandschaft weitere Anlässe geben wird, die geheime Wahl infrage zu stellen, erscheint dagegen schon heute relativ gewiss.