In der letzten Sitzung des Deutschen Bundestags vor der Sommerpause am Freitag, den 3. Juli 2020, debattierte das Parlament zum wiederholten Male über eine Reform des Wahlrechts. Eine ursprünglich geplante Behandlung des Gesetzentwurfs der drei Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
Anlass für die Reformdebatte war die Vergrößerung des Bundestags aufgrund von Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten, die seit dem neuen Wahlgesetz von 2013 vorgesehen sind, um Verzerrungen der Proportionalität durch vorhergehende Verteilungsschritte wieder auszugleichen. 2017 musste der Bundestag um mehr als ein Sechstel von regulär 598 Mandaten auf 709 vergrößert werden. Der Alterspräsident Hermann Otto Solms sprach in seiner Eröffnungsrede von einem "aufgeblähten Parlament", unter dem sowohl die Arbeitsfähigkeit des Bundestags als auch sein Ansehen bei den Bürgerinnen und Bürgern leide.
Ursachen des Problems
Die Vergrößerung des Bundestags 2017 ist im Wesentlichen auf den Ausgleich von Überhangmandaten zurückzuführen.
Als grobe Faustregel kann man annehmen, dass die stärkste Partei, wenn sie mehr als zehn Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei liegt, mehr als 90 Prozent der Direktmandate gewinnt.
2009 entstanden noch 24 Überhangmandate für die Union, 2017 waren es schon 41, denn 2017 lag die kritische Konstellation noch akzentuierter vor. Mit nur 32,9 Prozent der Zweitstimmen erzielte die Union das – abgesehen von 1949 – schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Damit lag sie aber immer noch 12 Prozentpunkte vor der SPD, die mit 20,5 Prozent der Zweitstimmen ebenfalls einen historischen Tiefpunkt erreichte.
Die angeführten strukturellen Ursachen für die Entstehung von Überhangmandaten hängen eng mit der Struktur des Parteiensystems zusammen. Dabei gilt: Je mehr Parteien es gibt und je gleichmäßiger sich die Stimmen unter den – aus Sicht der größten Partei – anderen Parteien verteilen, desto leichter wird es möglich, dass die größte Partei einerseits deutlich unter 50 Prozent und andererseits deutlich vor der zweitstärksten Partei liegt, was der kritischen Konstellation für die Entstehung von Überhangmandaten entspricht.
In einem Zwei-Parteien-System müsste die stärkste Partei, damit sie annähernd alle Direktmandate gewinnt, entsprechend der genannten Faustregel mindestens 55 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen. Hier kann es gar nicht zur Entstehung von Überhangmandaten kommen. In einem Drei-Parteien-System kann die stärkste Partei theoretisch ab rund 40 Prozent der Stimmen – mit jeweils 30 Prozent für die beiden anderen Parteien – annähernd alle Direktmandate gewinnen, in einem Sechs-Parteien-System mit CDU/CSU,
Die Veränderung des Parteiensystems, also sowohl die zunehmende Fragmentierung als auch das Abschmelzen der ehemaligen Volksparteien, verkörpert einen langfristigen und stabilen Trend, der auf kontinuierlich wirkenden soziologischen und psychologischen Prozessen beruht.
Mögliche Stellschrauben
Die verschiedenen Reformmodelle lassen sich vor allem durch spezifische Bedingungen unterscheiden, die durch einen Reformentwurf jeweils erfüllt beziehungsweise keineswegs verletzt werden sollten. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die folgenden vier Bedingungen:
Einhaltung der Regelgröße von 598 Sitzen.
Aufrechterhaltung des Interparteienproporzes: Die endgültigen bundesweiten Sitzzahlen der Parteien sollen dem Verhältnis ihrer bundesweit erzielten Zweitstimmen entsprechen.
Unantastbarkeit der Direktmandate: Direktmandate, das heißt Wahlkreismandate, die eine Partei dadurch errungen hat, dass ihre Kandidatin oder ihr Kandidat im Wahlkreis eine relative Mehrheit an Erststimmen gewonnen hat, sollen der Partei ungeschmälert zugeteilt werden.
Unantastbarkeit der Listenmandate: Listenmandate, die einer Partei proportional zu ihren Zweitstimmen in einem Bundesland zustehen, sollen der jeweiligen Landesliste der Partei in vollem Umfang zukommen.
Das Problem besteht nun allerdings darin, dass diese vier Bedingungen nicht alle erfüllt werden können, wenn viele Überhangmandate anfallen. Dieser Zusammenhang kann in Form eines "Unvereinbarkeitstheorems" gefasst werden:
Die genannten Bedingungen sind die Stellschrauben des Systems, mit deren Variation die verschiedenen Reformentwürfe arbeiten.
Pfade der Reform
Je nachdem, welche Bedingungen man lockern möchte, lassen sich im Wesentlichen drei grundsätzliche Pfade für den Gang der Debatte identifizieren. Diese stehen für grundsätzliche Logiken, wie man an das Problem herangehen kann, in der Realität sind sie allerdings nicht unbedingt in ihrer Reinform anzutreffen.
Erster Pfad: Strikte Einhaltung der Sollgröße
Auf diesem Pfad wird der Einhaltung der Sollgröße des Bundestags oberste Priorität eingeräumt. Er wird in der aktuellen Debatte von Verfechtern von Kappungsmodellen eingeschlagen. Bei Kappungsmodellen werden nur so viele Direktmandate vergeben, wie durch Zweitstimmen gedeckt sind. Damit es zu dieser Deckung kommt, werden die Direktmandate mit den schlechtesten Ergebnissen in entsprechender Anzahl nicht vergeben. In Kappungsmodellen wird also die Bedingung der Unantastbarkeit der Direktmandate aufgegeben. Kappungsmodelle wurden in der einschlägigen Literatur intensiv diskutiert
Umfassende Kappungsmodelle setzen auf der Ebene der Länder an und sehen vor, dass jede Partei in jedem Bundesland maximal so viele Mandate erhält, wie ihr dort nach ihren Zweitstimmen zustehen würden. Ein solches Kappungsmodell, bei dem sämtliche Überhangmandate durch Kappung beseitigt werden, findet sich in der Logik des AfD-Vorschlags von 2019 wieder.
Jedes Reformmodell, mit dem garantiert werden soll, dass sowohl der Interparteienproporz aufrechterhalten als auch eine maximale Größe des Parlaments nicht überschritten wird – sei es die Sollgröße von 598 oder ein sogenannter "Deckel" –, muss zwangsläufig solche Kappungselemente enthalten. Die beiden Vorschläge der AfD von 2019 und der Grünen von 2011 sind daher die einzigen, die jemals gemacht wurden, die die strikte Einhaltung der Sollgröße von 598 Sitzen garantiert hätten.
Zweiter Pfad: "muddling through"
Bei diesem Pfad wird an mehreren Stellschrauben gleichzeitig gedreht, dennoch wird das Problem der Vergrößerung des Bundestags nur unzureichend behandelt. Dieser Kategorie sind die Vorschläge der SPD-Fraktion und der Unionsfraktion sowie der von ihnen gemeinsam getragene Vorschlag des Koalitionsausschusses zuzurechnen.
Beim SPD-Vorschlag von Anfang 2020 wurde die reguläre Größe des Bundestags als strikt einzuhaltende Sollgröße aufgegeben, es wurde aber ein "Deckel" beziehungsweise eine Obergrenze von 690 Sitzen eingezogen.
Der Vorschlag, den die Unionsfraktion am 30. Juni 2020 ad hoc vorlegte,
Simulationen zeigen, dass es schon bei sieben unausgeglichenen Überhangmandaten mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa einem Viertel zu neuen möglichen Mehrheitskoalitionen beziehungsweise der Zerstörung bestehender Mehrheiten kommen kann.
In die Verhandlungen im Koalitionsausschuss Ende August ging die Union offensichtlich mit einem noch einmal leicht modifizierten Vorschlag, der eine Änderung des ersten Zuteilungsschritts der "Mindestsitzkontingente" vorsah, wodurch eine teilweise Verrechnung der Listenmandate mit Überhangmandaten erfolgen soll. Der nun vom Koalitionsausschuss vorgelegte Vorschlag
Die Effekte dieser Reform sind daher in keiner Weise vorhersehbar. Sie könnten theoretisch sehr stark ausfallen, wenn die CSU fast keine Überhangmandate erhält und annähernd alle Überhangmandate der CDU mit ihren eigenen Listenmandaten verrechnet werden können. Dann müsste der Bundestag nur in geringem Maße vergrößert werden. Genauso gut aber ist es möglich, dass es nur einen sehr geringen Effekt gibt, wenn nämlich fast keine Listenmandate der CDU zur Verrechnung mit Überhangmandaten bereitstehen. In diesem Fall ist sogar eine weitere Vergrößerung des Bundestags auf 750 oder gar 800 Sitze und mehr vorstellbar. Die drei unausgeglichenen Überhangmandate würden dabei eine vernachlässigbare Reduktion um vier bis sechs Mandate bewirken.
Der Vorschlag ist jedoch nicht nur ungeeignet, die bestehenden Probleme zu lösen, er schafft seinerseits neue. Denn die drei unausgeglichenen Überhangmandate verstoßen nicht nur gegen grundlegende Fairnesserfordernisse, sie sind darüber hinaus womöglich auch verfassungsrechtlich problematisch.
Dritter Pfad:Beseitigung der Ursachen
Nach dem Unvereinbarkeitstheorem muss es, kommen Überhangmandate einmal in größerer Zahl vor, zu einem Trade-off zwischen den genannten Bedingungen kommen. Das heißt, man muss sich entscheiden, auf welche man zugunsten von anderen verzichten möchte. Der Königsweg, dieses Dilemma gar nicht erst entstehen zu lassen, besteht daher darin, den Anlass aus dem Weg zu räumen, nämlich die Überhangmandate selbst. Je kleiner der Anteil der Direktmandate ist, desto weniger Überhangmandate fallen an. Der Vorschlag der drei Oppositionsfraktionen FDP, Grüne und Linke, der zudem als einziger in der ausgearbeiteten Form eines Gesetzentwurfs vorlag,
Dieser Ansatz verfolgt das Ziel der Verkleinerung in konsistenter Weise, denn es gilt: Will man Überhangmandate grundsätzlich verhindern, darf der Anteil der Direktmandate maximal so groß sein wie der minimale Anteil an Zweitstimmen, ab dem es möglich ist, alle Direktmandate zu gewinnen. Bei einer fixierten Anzahl von Direktmandaten muss das Parlament so lange vergrößert werden, bis diese fixe Anzahl im Verhältnis zur Parlamentsgröße genau dem Zweitstimmenanteil der Partei, die alle Direktmandate gewinnt, entspricht.
Die Reduktion um 49 Wahlkreise wäre also in jedem Fall ein sehr wirkungsvolles Mittel zur Verkleinerung des Bundestags. Allerdings würde sie nicht ausreichen, um die Entstehung aller Überhangmandate unter ähnlichen Bedingungen wie 2017 gänzlich zu verhindern; hierfür müsste die Anzahl der Wahlkreise sogar auf rund 200 reduziert werden.
Fairness als übergeordnetes Kriterium
Wahlen regeln die Form der Machtvergabe, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten für die Legislative und – im parlamentarischen System – über diese indirekt auch ihre Regierung wählen. Über Wahlen werden also die Machtverhältnisse der zwei für die politische Gestaltung wichtigsten Staatsgewalten geregelt. Das Wahlsystem berührt somit den Kern der Demokratie und der Staatsorganisation und wird deshalb auch als materielles Verfassungsrecht bezeichnet. Wahlsystemfragen sollten daher auch dann, wenn sie wie bei uns nicht explizit durch die Verfassung, sondern mittels einfacher Gesetzgebung geregelt sind, immer so behandelt werden, als ob es hierbei um die Regelung von Verfassungsinhalten ginge. Diese Wahrnehmung spiegelt sich auch im Bekenntnis der Parteien beziehungsweise der meisten Politikerinnen und Politiker dazu wider, dass das Wahlsystem möglichst im Konsens aller Parteien verabschiedet werden sollte, denn die Bedeutung einer einstimmigen Entscheidung wird immer betont, wenn es um die Begründung von Verfassungsinstitutionen geht. Das wichtigste Legitimationsargument, das wir für die Begründung von Verfassungen nutzen, ist das vertragstheoretische. Wir sollten es daher auch bei der Beurteilung von Wahlsystemreformen einsetzen.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Frage, in welcher Form und in welchem Umfang Interessen eine Rolle spielen dürfen. Interessen folgen Wünschen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger, sie sind daher selbstverständlich wichtig, und etwas zugespitzt könnte man sagen, dass die Konstruktion des gesamten politischen Systems dem Zweck dient, Interessen auf angemessene Weise gerecht zu werden. Die Spielregeln des politischen Systems, die in der Verfassung geregelt sind, legen fest, wie Interessen zum wirkungsvollen Input in diesem Spiel werden. Damit ist aber gleichzeitig klar, dass diese Interessen keine Rolle spielen dürfen und können, wenn es um die Festlegung eben dieser Spielregeln selbst geht.
Es ist nun offensichtlich, dass unausgeglichene Überhangmandate, die vor allem der Union zugutekämen, einen solchen einseitigen und ungerechtfertigten Vorteil ergeben würden. Der von der Union gerne vorgebrachte Hinweis, unausgeglichene Überhangmandate behandelten alle Parteien gleich, weil sie auch den anderen Parteien zustünden, wenn sie sie denn einmal erhielten, ist ungefähr so überzeugend wie die Behauptung, die Bürgerinnen von Paris hätten 1789 keinen Grund gehabt, sich über Hunger und Armut zu beschweren, weil sie ja auch als Marie Antoinette hätten geboren werden können. Unausgeglichene Überhangmandate sind das lediglich abgemilderte Echo des Mehrheitswahlsystems mit all seinen proporzverzerrenden Eigenschaften und verletzen daher wie dieses grundlegende Fairnessgebote. Unter Gerechtigkeitsaspekten scheint es zudem offensichtlich, dass eine Kappung von Überhangmandaten einen geringfügigeren Eingriff bedeuten würde, als wenn man die Überhangmandate unausgeglichen stehen lassen würde.
Im Gegensatz zum Vorschlag der Union sind alle Vorschläge der anderen Parteien fair – wenn, wie gezeigt, auch nicht unbedingt effizient –, weil sie alle Parteien gleich behandeln. Grundsätzlich wären sie damit in der Logik eines vertragstheoretischen Arguments als Grundlage einer konsensuellen Lösung vorstellbar gewesen. Es stimmt zwar, dass die Kappung von überschüssigen Direktmandaten und die Reduktion von Wahlkreisen für die Union Konsequenzen hätten, die sie für andere Parteien nicht hätten. Aber ungleiche Betroffenheit schafft nicht schon Unrecht, denn auch der Dieb ist von seiner Gefängnisstrafe stärker betroffen als der rechtstreue Bürger.
Nur wenn durch die asymmetrische Betroffenheit der Union ihr gleichzeitig etwas genommen würde, worauf sie einen legitimen Anspruch erheben könnte, wäre ein solches Vorgehen unfair gegenüber der Union. Aber ein solcher Anspruch auf die Direktmandate existiert nicht a priori, er wird erst durch das jeweils gültige Wahlrecht formuliert. Es ist nicht erkennbar, wie er jenseits und unabhängig davon als quasi-naturrechtlicher Anspruch entstehen könnte. Eine relative Mehrheit von teilweise nur noch einem Viertel der Erststimmen schafft sicherlich keinen automatischen natürlichen Besitzanspruch auf ein Mandat.
Genauso erhielte die Union zwar weniger Wahlkreismandate, wenn es insgesamt von vornherein weniger Wahlkreise geben würde, ihr entstünde aber dadurch in keiner Weise Unrecht, geschweige denn ein Nachteil gegenüber den anderen Parteien. Denn der relative Sitzverlust bei einer Reduktion der Anzahl der Wahlkreise, wie im Drei-Fraktionen-Modell vorgeschlagen, wäre für alle Parteien genau derselbe, nur dass er eben für manche Parteien vor allem in Form von Direktmandaten anfiele, weil die Mandate dieser Parteien vor allem in Form von Direktmandaten existieren, während er für andere Parteien in Form von Listenmandaten anfiele, weil diese Parteien eben nur Listenmandate haben. Die Reduktion der Anzahl der Wahlkreise mag aus anderen Gründen als problematisch angesehen werden, sicherlich aber nicht aus Gründen der Fairness.
Wie geht es weiter?
Das Ende August 2020 vorgelegte Konzept der Großen Koalition ist aus den genannten Gründen eine unzureichende Vorkehrung gegen eine Vergrößerung des Bundestags gegenüber seiner Sollgröße. Denn eine kluge Reform darf nicht auf dem Wunschdenken aufbauen, dass es schon irgendwie gut gehen wird, sondern sollte Vorkehrungen für den schlimmstmöglichen Fall treffen. Der Koalitionsentwurf aber ignoriert dieses unter realistischen Annahmen nicht geringe Risiko. Die Reformdebatte muss daher letztlich als gescheitert betrachtet werden. Für die Bundestagswahl 2021 sind, je nach Ergebnis der Wahl, vermutlich Bundestagsgrößen zwischen 650 und 850 Sitzen zu erwarten. Es könnte also zu einer leichten Entspannung gegenüber 2017 kommen – genauso könnte sich das Problem aber auch verschärfen.
Eine Vergrößerung des Parlaments könnte in der jetzigen Lage bestenfalls noch durch eine zivilgesellschaftliche Bewegung verhindert werden, die an dem Wahlverhalten ansetzen würde. Dies könnte umgesetzt werden, indem die Wählerinnen und Wähler eine bestimmte Form gemeinwohlorientierten strategischen Wählens durch geschickte Nutzung der Erststimme praktizieren. Denn wenn zu erwarten ist, dass die stärkste Partei sehr viele Überhangmandate erhält, dann könnte dies verhindert werden, indem die Anhängerinnen und Anhänger der anderen Parteien ihre Erststimmen koordinieren und auf bestimmte Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten konzentrieren. Dass solche Kampagnen für bestimmte Formen strategischen Wählens durchaus Erfolg haben können, zeigt nicht zuletzt das Wahlverhalten von Unionsanhängerinnen und -anhängern bei der Nachwahl 2005 in Dresden
Diese Form strategischen Wählens hätte, da die Koordination nur bezüglich der Erststimmen und völlig unabhängig von der Vergabe der Zweitstimme erfolgt, keinerlei Auswirkungen auf die relative Verteilung der Sitze zwischen den Parteien. Es käme durch diese Form also zu keinerlei Nachteil oder Vorteil einer bestimmten Partei. Diese Art strategischen Wählens wäre daher frei von jeglichem Ruch einer fragwürdigen Manipulation und würde dem Bürger vielmehr sogar die Möglichkeit eröffnen, neben seiner originären Präferenz für eine Partei zugleich eine Präferenz für die Beibehaltung der Regelgröße des Bundestags auszudrücken. Die Wahlentscheidung würde so gleichzeitig parteiische und gemeinwohlorientierte Motive widerspiegeln, ohne dass diese zueinander in Widerspruch gerieten.
Was die institutionelle Reform des Wahlsystems angeht, so ist angesichts des katastrophalen Scheiterns der Parteien in diesem Punkt nicht damit zu rechnen, dass sich diese in der nächsten Legislaturperiode leichter auf ein von ihnen gemeinsam getragenes Ergebnis verständigen könnten. Anstatt über das Für und Wider von einzelnen Modellen nachzudenken, sollte es daher auch ein Nachdenken über den Prozess der Entscheidungsfindung selbst geben, das heißt über die Etablierung von Mechanismen, die die Debatte vom Einfluss von Parteieninteressen zu befreien helfen würden. Vielversprechend könnte dabei der Einsatz von Elementen der sogenannten deliberativen Demokratietheorie sein. Repräsentativ ausgewählte Bürgerversammlungen würden durch Expertinnen und Experten über die Vorzüge und Nachteile einzelner Modelle informiert werden und könnten dann eine Empfehlung für die Politik abgeben. Ein solches Verfahren wurde 2004 in British Columbia angewandt.