Die laufende Wahlperiode des am 24. September 2017 gewählten Deutschen Bundestages ist nicht von "business as usual", von weitgehend lautloser Routine und Selbstverständlichkeit seiner Abläufe geprägt. In mancherlei Hinsicht hat sich der parlamentarische Alltag gewandelt und ist das Bild, das sich vom Parlament in der öffentlichen Wahrnehmung zeigt, verändert. Dafür sind vor allem aktuelle Entwicklungen verantwortlich, die zwar nicht andauern und auch keine längerfristigen Wirkungen zeitigen müssen – sie öffnen aber den Blick für Aspekte des Parlamentarismus, die unter der Oberfläche lang etablierter und weitgehend unhinterfragter, weil erfolgreicher Praxis liegen.
Größter Bundestag
In der "alten" Bundesrepublik von 1949 bis 1990 gehörten dem Bundestag nie mehr als 521 Mitglieder an. Seit 1965 betrug die gesetzliche Mitgliederzahl nach dem Bundeswahlgesetz 496; 22 (nicht direkt gewählte, sondern vom Abgeordnetenhaus entsandte) Berliner Abgeordnete kamen hinzu, und gelegentlich entstanden einige Überhangmandate.
In den Folgejahren blähten indes die Entwicklung des Parteiensystems beziehungsweise des Wählerverhaltens und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht den Bundestag mit Überhang- und Ausgleichsmandaten weiter auf, und die Wahl 2017 endete mit 709 Abgeordneten im Reichstagsgebäude in Berlin. Diese Größe und die Befürchtungen, dass die nächste Bundestagswahl eine noch stattlichere Zahl produzieren könnte, führten zu bis heute nicht beendeten Diskussionen über eine erneute Änderung des Wahlrechts.
Mit der Konsolidierung des Parteiensystems in Westdeutschland hatte sich die Zahl der Fraktionen als maßgebliche politische wie organisatorische Einheiten des Bundestages für mehr als 20 Jahre auf drei eingependelt. 1983 kamen die Grünen (seit 1993: Bündnis 90/Die Grünen) hinzu, 1990 die PDS (seit 2007: Die Linke),
Sitzordnung und Ausschüsse
Dass es schwieriger als in vergangenen Wahlperioden werden würde, auf den etablierten Wegen zu Absprachen über die Binnenorganisation des Bundestages zu kommen, zeichnete sich noch vor der konstituierenden Sitzung ab. Im Vor-Ältestenrat, einem Gremium aus Fraktionsvertretern und amtierendem Bundestagspräsidenten, das zwischen Wahl und Konstituierung des Bundestages die notwendigen Vorkehrungen für die nächste Wahlperiode trifft, konnte keine Einigung darüber gefunden werden, wo die Fraktionen im Plenarsaal platziert werden sollten. Widerwillig akzeptierte die FDP letztlich die Entscheidung, dass die Sitzordnung der Bundesversammlung angewandt werde, sie also zwischen AfD und Union ihre Plätze bekäme.
Auch bei der Besetzung der Ausschussvorsitze zeigte sich, dass es nicht das Anwachsen auf sechs Fraktionen war, das primär Schwierigkeiten bereitete. Vielmehr erwies sich rasch, dass die AfD als neue Kraft kein parlamentarischer Kooperationspartner ist, der die über viele Jahre eingeübten Routinen, die dem geräuschlosen Funktionieren des Parlaments in seinem Alltagsbetrieb dienen und bislang von allen Fraktionen pragmatisch umgesetzt wurden, mittragen würde.
Als sich der Bundestag entschloss, mehr als vier Monate nach seiner Wahl den als Interim eingesetzten Hauptausschuss aufzulösen und reguläre Fachausschüsse einzusetzen, geschah dies noch einstimmig. Auch auf die jeweilige Mitgliederzahl einigten sich alle Fraktionen,
In den ersten 45 Jahren der bundesdeutschen Parlamentspraxis war es bis auf eine Ausnahme gelungen, unter den Parlamentarischen Geschäftsführern im Ältestenrat Einvernehmen herzustellen, welche Fraktion welchen Ausschussvorsitz übernehmen sollte. Seit 1994 kam es nur noch einmal zu einer interfraktionellen Vereinbarung,
Als 2018 die AfD unter den ihr nach dem Rangmaßzahlverfahren unstreitig zustehenden drei Positionen auf den Vorsitz im Haushaltausschuss und im Rechtsausschuss zugriff, ging der Widerstand jedoch so weit, dass es zum "historischen Showdown im Haushaltsausschuss" kam.
Wie sehr die mindestens auf prozeduralem Sektor etablierte Konsenskultur des Bundestages von der AfD unter Druck gesetzt wird, dürfte sich erneut zeigen, wenn die Fraktion einen neuen Kandidaten für den derzeit vakanten Vorsitz im Rechtsausschuss präsentiert. Zwar haben die übrigen Fraktionen zugesagt, eine andere Person in dieser Position billigen zu wollen – womit der Anspruch der AfD aus dem Zugreifverfahren anerkannt würde; kommt es aber wiederum zur Ablehnung, tritt das Problem glasklar zutage: Informelle Regelungen zur Sicherung der reibungslosen parlamentarischen Arbeitsabläufe bedürfen des gegenseitigen Grundvertrauens; fehlt dieses, wird Formalisierung nötig, was die von vielen Insidern als hervorragend bezeichnete Alltagsroutine des Bundestages erheblich schädigen kann. Gegenwärtig ist die Folge beträchtliche Unsicherheit, da sich die AfD oft nicht gegen eingespielte Verfahren wendet, sie aber auch nicht aktiv mitträgt – oder sich ihrer sogar bedient, um sie sodann ad absurdum zu führen.
Diese Zusammenhänge werden weiter illustriert vom Verlauf der Versuche zwischen Oktober 2017 und Mai 2020, einen Vizepräsidenten des Bundestages aus der AfD-Fraktion zu wählen.
Präsidium
Die Tradition, dass die jeweils größte Fraktion des Bundestages den Parlamentspräsidenten vorschlägt, wurde bereits in den 1950er Jahren etabliert. Die Bedeutung dieses Amtes führte bald dazu, dass es in das Personaltableau bei Koalitionsverhandlungen einbezogen wurde. Dabei waren Fraktionsspitzen und Kanzler "in aller Regel darauf bedacht, mit dem Amtsinhaber einen möglichst zuverlässigen Verbündeten an der Spitze der parlamentarischen Alltagsarbeit zu bekommen oder wenigstens einen, der nicht allzu viel politische Eigenständigkeit zu entfalten versprach. Da mit dem Präsidentenamt die Vertretung des ganzen Parlaments nach außen und die unparteiische Sitzungsleitung verbunden sind, obliegt es der vorschlagenden Fraktion aber auch, die gebotene parteipolitische Neutralität im Auge zu behalten und einen für die anderen Fraktionen akzeptablen Kandidaten zu präsentieren. Dass dies bisher gelungen ist, zeigt die Tatsache, dass es seit 1954 keine Gegenkandidaturen mehr gab."
Bei der Wahl der Vizepräsidenten kam es aber immer wieder zu Auseinandersetzungen über Zahl und Verteilung der Positionen insbesondere für die kleinen Fraktionen. Darauf reagierte der Bundestag 1994 mit einer Geschäftsordnungsregel, wonach jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten stellt. Dass diese Regel nur funktioniert, wenn jede Fraktion nur solche Kandidaten präsentiert, die für die anderen wählbar sind, zeigte sich 2005: Lothar Bisky, vorgeschlagen von der Linksfraktion, verfehlte in vier Wahlgängen die erforderliche Mehrheit, und erst die Nominierung Petra Paus ein halbes Jahr später fand die Zustimmung im Bundestag. Der "Präsenzanspruch der Fraktionen" kann nur mit dem "Wahlrecht des Plenums" versöhnt werden,
Darüber hilft auch die im September 2006 vorgenommene Ergänzung der Geschäftsordnung des Bundestages mit der Regelung reduzierter Mehrheitserfordernisse nicht hinweg,
Unbeschadet der Frage, ob die Stimmabgabe für einen AfD-Kandidaten nach rechtlichen, politisch-strategischen oder moralischen Kategorien entschieden beziehungsweise bewertet wird: Es ist eine Tatsache, dass es im 19. Bundestag nicht gelungen ist, den Präsenzanspruch der Fraktionen mit dem Wahlrecht des Plenums in Ausgleich zu bringen. Demgegenüber waren in der Vergangenheit alle Fraktionen letztlich bereit, ihre politischen Gegensätze dem prozeduralen Kompromiss zum Zwecke der optimalen Arbeitsfähigkeit des Parlaments unterzuordnen.
Redezeiten und Ordnungsrufe
Eine solche Kompromissfindung scheiterte bislang vor allem an der immer wieder auftretenden Verweigerungshaltung der AfD. War die Fraktion zum Beispiel noch an der zu Beginn der Wahlperiode im Ältestenrat einvernehmlich festgelegten Verteilung der Redezeiten beteiligt, wandte sie sich im Dezember 2019 vehement dagegen, die Standarddebattenzeit von 38 auf 30 Minuten zu verkürzen. Auf diese Lösung – und auf einige weitere Änderungen im Ablauf einer Sitzungswoche – hatten sich alle anderen Fraktionen im Ältestenrat verständigt, um Nachtsitzungen des Parlaments künftig zu vermeiden und so die Belastungen für Abgeordnete wie Parlamentsmitarbeiter zu verringern.
Wie sich der Ton und der Umgang miteinander im 19. Bundestag gewandelt haben, kann auch an der gestiegenen Zahl der Ordnungsrufe bei Plenardebatten abgelesen werden. Allerdings zeigt die Statistik aller Wahlperioden, dass es seit 1949 immer wieder zu – teilweise erheblichen – Schwankungen in der Nutzung dieses Instruments gekommen ist. Hierin spiegeln sich nicht zuletzt parlamentarische Lernprozesse wider: So verringerten sich die Ordnungsrufe von der 1. Wahlperiode (1949 bis 1953) zur 2. Wahlperiode (1953 bis 1957) von 156 auf 36, und als 1983 die Grünen in den 10. Bundestag einzogen, rief die Sitzungsleitung Abgeordnete 132 Mal zur Ordnung, nachdem dies in der Wahlperiode zuvor (1980 bis 1983) 13 Mal der Fall gewesen war.
Im Lichte dieser Beobachtung erscheinen die 30 Ordnungsrufe, die seit 2017 erteilt wurden, davon 17 gegen AfD-Abgeordnete, eher unspektakulär. Diese Zahl ist aber insofern zu relativieren, als es in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt lediglich rund vier Ordnungsrufe pro Wahlperiode gegeben hat,
Kleine Anfragen
Der Eindruck unversöhnlicher Opposition entsteht auch, wenn man die Nutzung parlamentarischer Kontrollinstrumente durch die AfD betrachtet. Hinsichtlich der Inhalte der von ihr gestellten Kleinen Anfragen attestiert ihr die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges, diese nicht für die Informationsbeschaffung zur Regierungskontrolle, sondern vor allem als "Kampfinstrument" zu nutzen, um "die eigenen Ideologien zu untermauern".
Kleine Anfragen sind seit Jahrzehnten ein klassisches Instrument der parlamentarischen Opposition, um Sachkontrolle gegenüber der Bundesregierung auszuüben. Insbesondere die Grünen nutzten es seit ihrem Einzug in den Bundestag 1983. Bald schon zogen die anderen, die jeweilige Regierung nicht tragenden Fraktionen nach – nicht zuletzt, weil es seither nicht mehr nur Wettbewerb zwischen Mehrheit und Opposition, sondern auch immer zwischen mehreren Parteien innerhalb der parlamentarischen Opposition gab. Entsprechend wuchs die Zahl Kleiner Anfragen seit 2005 kontinuierlich. So reichte die Linke in der 18. Wahlperiode (2013 bis 2017) 2184 Anfragen ein, und entsprechend "normal" ist es, dass seit 2017 neben der erstmalig im Bundestag vertretenen AfD auch die FDP, der die Rückkehr in den Bundestag gelang, sich massiv dieses Instruments bediente – mit 2178 Anfragen sogar häufiger als die AfD. Schon 2005 wurde befürchtet, dass so die Arbeit in den Ministerien fast lahmgelegt werden könnte.
Geschieht dies gegenwärtig tatsächlich absichtsvoll,
Suche nach Konsens
Auch die Kleine Anfrage als wohletabliertes Instrument parlamentarischer Praxis kann ihre Aufgaben letztlich nur auf Basis eines Grundkonsenses aller Fraktionen erfüllen, der sich an der Alltagstauglichkeit des Bundestages orientiert und daher Kooperations- und Kompromissbereitschaft einschließen muss. Genau diese Eigenschaften und dieser Grundkonsens befinden sich aber im 19. Bundestag in einem fragilen Zustand. Unter den etablierten Fraktionen sind sie nach wie vor ausgeprägt, die AfD ist jedoch in dieser Hinsicht nicht kalkulierbar. So wird die unter den alten Bedingungen bewährte und eingeübte Praxis oft stillschweigend fortgeführt. Zu lernen, wann man informelle Einigungen aufrechterhalten kann und wann der tradierte prozedurale Konsens durch eine förmliche Änderung der Regeln aufgegeben werden muss, ist ein schwieriger Prozess für den Bundestag und seine demokratischen Akteure.
Dies gilt umso mehr, als es nach 1953 noch nie ein Parlament gab, in dem so viele Neulinge saßen wie im 19. Bundestag: 262 und damit 36,8 Prozent der 709 Abgeordneten absolvieren gegenwärtig ihre erste Wahlperiode.
Der parlamentarische Alltag des im September 2017 gewählten 19. Deutschen Bundestages begann nämlich mit erheblicher Verzögerung. Zwar hatte sich das Parlament am 24. Oktober 2017 ordnungsgemäß spätestens 30 Tage nach der Wahl konstituiert; danach aber kam es nicht zu der über viele Wahlperioden entwickelten parlamentarischen Routine. In den ersten 60 Jahren der Bundesrepublik hatten die Regierungsbildungen nach Bundestagswahlen durchschnittlich 38 Tage gedauert. 2005 waren schon die 65 Tage ein erheblicher Ausreißer gewesen, die bei der Bildung der Großen Koalition der ersten Merkel-Regierung zwischen der Wahl und der Vereidigung des Bundeskabinetts vergangen waren. 2017 wurden ganze 171 Tage benötigt, bevor das erneute Bündnis von CDU/CSU und SPD unter Dach und Fach war. Ein voll etabliertes Kabinett mit seinen Ressortzuschnitten und -verteilungen ist aber in der politischen Praxis des deutschen Parlamentarismus die Voraussetzung dafür, dass der Bundestag sich ebenfalls alle nötigen Strukturen geben kann, um seine Funktionen zu erfüllen.
Da sich die Langwierigkeit der Regierungsbildung 2017 früh abzeichnete und die Sondierungen für eine erste sogenannte Jamaika-Koalition (CDU/CSU, Grüne, FDP) im Bund nach vier Wochen gescheitert waren, verschob der Bundestag die Bestellung der Fachausschüsse, "da man für die seit 1969 praktizierte Spiegelbildlichkeit zunächst die künftigen Geschäftsbereiche der Ministerien abwarten wollte".
Mittlerweile hat sich vieles wieder eingespielt, noch dazu unter den schwierigen Bedingungen der Corona-Pandemie.