Einleitung
Die Frage nach dem Sozialen und seiner Konstitution stellt sich in der Moderne auf gänzlich neuartige Weise. Erst in der Moderne, mit dem Aufstieg und der Durchsetzung von Ideen der Selbstbestimmung des Individuums und der Gestaltbarkeit der Gesellschaft, müssen das Soziale und seine Struktur überhaupt sozial bestimmt werden.
Im vormodernen, traditionalen Weltbild waren es wahlweise der Gesellschaft äußerliche oder aber in ihr absolut und als zentral (voraus)gesetzte Positionen göttlicher bzw. weltlicher Herrschaft, von denen aus das Soziale seine Gestalt gewann und Gestaltung erfuhr. Erst mit der Überwindung dieses Weltbildes kann die Frage, wie Gesellschaft geordnet sein soll, wie gesellschaftliche Ordnung zuallererst zustande kommt und wie sie auf Dauer gewahrt werden kann, überhaupt als fragwürdig erscheinen - als in der Gesellschaft und aus ihr selbst heraus immer wieder neu zu klärendes Rätsel und zu lösendes Problem. Erst jetzt kann - und muss - die Frage, wie sich die Menschen als soziale Wesen untereinander in Beziehung setzen und in welchen Verhältnissen sie miteinander leben wollen, ernsthaft gesellschaftlich verhandelt werden.
Das Soziale und sein Ort
Wird die Gesellschaft selbst zum Ort der Produktion und Reproduktion des Sozialen, so bleibt dessen gesellschaftliche Verortung damit gleichwohl noch unterbestimmt. Die gesellschaftlichen Positionen, Projektionen und Programme bezüglich der Frage, wo der Ort des Sozialen ist bzw. sein sollte, von wo also die Herstellung von Sozialität, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlicher Integration auszugehen habe, lassen sich logisch wie historisch zwei "Lagern" zuordnen. Auf der einen Seite wird die kollektive gesellschaftliche Verantwortlichkeit für das Soziale betont: Seine Schöpfung und Bewahrung müsse grundsätzlich in öffentliche Hände gelegt werden, in die Hand eines Staates, über dessen Institutionen die Gesellschaft sich als Sozialwesen demokratisch selbst bestimme und steuere. Auf der anderen Seite wird die Verantwortlichkeit für das Soziale den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern selbst übertragen: Demnach sind es die vielen gesellschaftlichen Individuen, aus deren unzähligen Einzelhandlungen - wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt oder aber aus ungesteuerten und nicht zu steuernden Prozessen erwachsend - das Soziale entsteht.
Auf diese beiden konträren Positionen kann sich eine historische Soziologie des modernen Sozialstaats beziehen, will sie dessen Entstehung und Entwicklung bis hin zu den aktuellen Prozessen seiner gesellschaftlichen Umgestaltung rekonstruieren. Es ist das westliche Europa des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, in dem die "Erfindung" des Sozialen stattfindet, verstanden als politische Anerkennung und Durchsetzung einer Verantwortung "der Gesellschaft" für das Wohlergehen "ihrer" Individuen.
Wir befinden uns, so die These dieses Beitrages, mitten in einer "Krise" des Sozialen - im Sinne der endgültigen Abwendung von seiner im 19. Jahrhundert eingeleiteten, im Verlauf des 20. Jahrhunderts etablierten gesellschaftlichen Verortung und institutionellen Gestaltung. Diese Strukturkrise wird von der finanzmarktgetriebenen Akutkrise der Weltwirtschaft (weiter) beschleunigt werden und den Weg in eine neue Gesellschaftsformation bahnen: in eine Aktivgesellschaft, welche die Sorge um das Soziale an die Subjekte verweist und in diese hinein verlagert - und damit das Soziale wie auch die Subjekte grundlegend verändert.
Erfindung des Sozialen
Inwiefern kann die Entstehung des modernen Sozialstaats als Akt der "Erfindung" des Sozialen gelten? Der Aufbau sozialstaatlicher Institutionen bringt eine fundamentale Umgestaltung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft mit sich. Die elementare Unsicherheit der Einzelexistenz im Zeichen der sich durchsetzenden Marktgesellschaft wird in der sozialstaatlichen Logik als soziales - überindividuell auftretendes und daher kollektiv zu bewältigendes - Risiko gedeutet.
Die sozialintegrative Großtat des sogenannten keynesianischen Sozialstaats hoch industrialisierter Nachkriegsgesellschaften bestand darin, die gegensätzlichen und tendenziell konfliktreichen, durch die Interessenorganisationen von Kapital und Arbeit vertretenen Logiken der Gestaltung des wirtschaftlichen Produktionsprozesses vermittelnd in sich aufzuheben - oder diese jedenfalls als miteinander kompatibel erscheinen zu lassen. Das "goldene Zeitalter" des Sozialstaatskapitalismus gründete auf dem historischen Kompromiss "between the economic and the social":
Es ist diese doppelte, ökonomisch-soziale Verantwortungsübernahme des keynesianisch inspirierten Interventionsstaats, die zur permanenten Ausweitung der Staatstätigkeit führt, mehr noch: die diese Ausweitung notwendig werden lässt, ja geradezu erzwingt.
Wie weit muss der moderne Staat seine politische "Beförderung des Sozialen" treiben?
Neuerfindung des Sozialen
Wie kommt es zu dieser (neuerlichen) Transformation, wodurch zeichnet sie sich aus, welche Haupt- und Nebenwirkungen zeitigt sie? Im Hintergrund des Umbaus des Sozialstaats in "aktivierender" Absicht stehen mindestens zwei gesellschaftliche Makrotrends, welche die Entwicklung der spätindustriellen Gesellschaften in den vergangenen drei Jahrzehnten gekennzeichnet haben. Zum einen hat das System der Marktwirtschaft spätestens mit dem Untergang des Staatssozialismus zu einer neuerlichen, nunmehr globalen Runde kapitalistischer "Landnahme" angesetzt.
Zum anderen erleben wir einen nicht nur durch die kapitalistische Wirtschaftsdynamik selbst, sondern wesentlich auch durch die Entwicklungszyklen technologischer Neuerungen sowie durch die Ausweitung und Multiplizierung sozialer Erfahrungs- und Entscheidungsräume befeuerten Prozess der "Beschleunigung" des gesellschaftlichen Lebens.
Die ökonomische Verschlankung des Sozialstaats einerseits, seine strategische Ausrichtung auf die Mobilisierung des gesellschaftlich verfügbaren Humankapitals andererseits: Diese beiden Grundtendenzen sozialpolitischer Entwicklung sind die Triebkräfte eines neuen sozialstaatlichen Arrangements. Der Sozialstaat soll nicht mehr die um das Wohlergehen ihrer Schutzbefohlenen besorgte Instanz sein, nicht mehr primär marktbedingte Ungleichheiten und Unterversorgungslagen kompensieren.
Doch wäre der Sozialstaat der Aktivgesellschaft soziologisch nicht hinlänglich verstanden, wenn nur die Individualisierung und (Teil-)Privatisierung von ehemals als sozial erachteten - und demgemäß in kollektiv-öffentlicher Anstrengung zu bewältigenden - Risiken in den Blick geriete; dies ist nur seine halbe Wahrheit. Der aktivierende Sozialstaat wird von einem normativen Überschuss getragen, der über den gängigen und bereits seit längerem praktizierten Verweis auf möglichst große "Eigenverantwortung" hinausweist. Verantwortung tragen die Subjekte der Aktivgesellschaft eben nicht nur für sich selbst, sondern zugleich - und darüber vermittelt - für das gesellschaftliche Ganze. Eigenverantwortung als und aus Sozialverantwortung lautet der aktivierungsstaatliche Wahlspruch, das Credo der Aktivgesellschaft. Eigeninteresse und Gesamtinteresse, Selbstsorge und Gemeinwohl werden auf eine Weise kurzgeschlossen, welche die Subjekte in eine dienende Beziehung zu sich selbst und zur gesellschaftlichen Gemeinschaft setzt. Man könnte diesen Modus der politischen Produktion von der Gesellschaft bzw. dem Sozialen verpflichteten Subjekten als neosozial bezeichnen - denn das Soziale wird nicht etwa "abgebaut" oder liquidiert, sondern vielmehr umgesteuert und transferiert. Der Ort des Sozialen wird verlagert: in die Subjekte, in jede und jeden Einzelnen hinein.
Ein Blick auf die sozialpolitische Entwicklung zeigt, dass sich der Trend zur Verschiebung der Verantwortung für das Soziale nicht auf ausgewählte Bereiche sozialstaatlicher Intervention beschränkt, sondern nach und nach das sozialpolitische Feld in seiner ganzen Breite erfasst hat. Als besonders markant - weil politisch am stärksten umstritten und in besonderer Weise gesellschaftlich folgenreich, bis hin zur nachhaltigen Restrukturierung des deutschen Parteiensystems - stellt sich in diesem Zusammenhang die unter der Formel "Hartz IV" verhandelte Reform der Arbeitslosensicherung dar. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem einzigen Sicherungsregime für erwerbsfähige Erwerbslose war zum einen der Absicht einer Verschlankung des sozialstaatlichen Verwaltungsapparats geschuldet. Zum anderen aber ging es wesentlich auch um die Mobilisierung der Arbeitssuchenden, um stärkere Eigenaktivitäten der von Arbeitslosigkeit Betroffenen bei der Rückkehr ins Erwerbsleben - und um deren (nicht nur rhetorische) Erinnerung an ihre Mitwirkungspflichten bei der Produktion des Kollektivguts Arbeitsmarktintegration. In der Begründung der späteren "Hartz-Gesetze" durch die zuständige Expertenkommission liest sich dies als politische Erwartungshaltung gegenüber im Sozialleistungsbezug stehenden Erwerbslosen, "den materiellen und nichtmateriellen Leistungen des Arbeitsamtes im Sinne der Schadensminderungspflicht durch ein angemessenes, zielführendes Verhalten zu begegnen".
Zwei Elemente dieser arbeitsmarktpolitischen Neuausrichtung sind von systematischer Bedeutung. Zum einen ist dies die Betonung der individuellen Verpflichtung zur gesellschaftlichen Schadensvermeidung. Die Verhinderung des Schadensfalls Arbeitslosigkeit bzw. seiner ungebührlichen Verstetigung liegt demnach zwar sicherlich auch, nicht jedoch in erster Linie im Eigeninteresse des Betroffenen, seiner aktuellen Lebensqualität oder seiner zukünftigen Lebenschancen, sondern vorrangig im Interesse des Versichertenkollektivs. Das soziale Recht auf Unterstützung erscheint nicht nur durch vorherige Beitrags- oder Steuerzahlungen des Leistungsbeziehers konditioniert, sondern durch eine grundsätzliche und andauernde Pflicht des Einzelnen zur Berücksichtigung des gemeinschaftlichen, allgemeinen Wohls.
In gewisser Weise lässt sich die sozialpolitische Trendwende zur Einforderung sozialverantwortlicher Eigenverantwortung der Sozialstaatsbürger und -bürgerinnen hierzulande allerdings auch schon "vor Hartz" registrieren - etwa in der Alterssicherung, und interessanter Weise in einer besonderen, nicht auf gegenwärtige, sondern auf zukünftige Unterstützungsbedarfe zielenden Variante. Was "Hartz" für die Arbeitslosen, war "Riester" für die Rentner, genauer: für die Rentner der Zukunft. Der statistisch prognostizierte, medial in düstersten Farben gezeichnete demographische Wandel hat einen Diskurs dramatischer "Überalterung" der Gesellschaft und unausweichlicher Überforderung der Sozialkassen befördert, in dessen Fluchtpunkt folgerichtig die Unabdingbarkeit individueller Verhaltensänderungen steht.
Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sind sich einig: Die Menschen müssen einsehen, dass sie - neben den laufenden Beitragsleistungen für die gesetzliche Rente - privat vorzusorgen haben, wenn sie im Alter nicht in Armut leben wollen, oder anders: damit sie im Alter den Sozialstaat (Sprachregelung: "die nachwachsenden Generationen") nicht zusätzlich belasten. Und sie müssen lernen, frühzeitig damit anzufangen - Sozialpolitik als Anleitung zum sozialverträglichen Altwerden. Dazu passen die massiven Anstrengungen, die der sozialpolitische Betrieb unternimmt, um die Alten der Zukunft, jenseits der Notwendigkeit zur (immer) stärkeren materiellen Selbstsorge, auf ein grundlegend gewandeltes Altersbild einzustellen: das Bild eines Alters, das aktiv bleibt, in dem man sich weiterhin produktiv einbringt, das fast schon stereotyp als Zeit des "Unruhestands" erscheint. In einem Begleittext der Expertenkommission zum derzeit entstehenden Sechsten Altenbericht der Bundesregierung heißt es: "Bei aller Verantwortung der Gesellschaft darf aber nicht übersehen werden, dass die Rechte des einzelnen Menschen mit Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft einhergehen. Insgesamt sind die heute älteren Menschen im Vergleich zu früheren Generationen gesünder, sie verfügen über einen höheren Bildungsstand und über bessere finanzielle Ressourcen. Nach Auffassung der Kommission leitet sich daraus die Verpflichtung ab, vorhandene Ressourcen verantwortungsvoll einzusetzen."
Wollte man die - selbstverständlich irreführende - Personalisierung der politischen Tendenz zur Sozialresponsibilisierung des Einzelnen weitertreiben, so könnte man aktuell darüber sinnieren, ob nach "Hartz" in der Arbeitslosen- und "Riester" in der Rentenversicherung in der Krankenversicherung dereinst womöglich "Rösler" zur Metapher ihres aktivierenden Umbaus geworden sein wird. Dagegen spricht, dass sich dieser Umbau - von der Ausweitung von Selbstbeteiligungsregelungen bis zur Forcierung von Vorsorgeanreizprogrammen - bereits seit längerer Zeit vollzieht. Dafür spricht allerdings, dass mit der geplanten Umstellung auf einkommensunabhängige Pauschalbeiträge der vermutlich entscheidende Schritt in Richtung auf ein Basisversorgungssystem getan wäre, das die gesetzlich Krankenversicherten zu einem die "Solidargemeinschaft" schonenden Abschluss privater Zusatzversicherungen zwingen würde.
Die Verbreitung der Aktivierungsidee innerhalb der Sozialversicherungssysteme schreitet voran, und ihre Diffusion auch über die Grenzen dieses institutionellen Kernbereichs des Sozialstaats hinaus ist unverkennbar. In der Bildungspolitik wird spätestens seit dem PISA-Schock die soziale Elternpflicht zur möglichst frühzeitigen und intensiven vorschulischen Schlüsselkompetenzvermittlung an das gesellschaftliche Investitionsgut Kinder - "unser" Fachkräftepotenzial von morgen - eingeklagt. Und in der Familienpolitik wird Kinderlosen - allerdings vorrangig solchen aus vernünftige Sozialisationsrenditen versprechenden Akademikerhaushalten - als potenziellen Eltern die doppelte Sinnstiftung vermittelt, durch ihre Familiengründungsentscheidung nicht nur sich selbst glücklich zu machen, sondern zugleich in einem gemeinschaftsdienlichen Akt den Volkskörper vor der drohenden Schrumpfung und Vergreisung bewahren zu können.
Das Soziale in der Krise
Dass in diesem neosozialen - die Subjekte zu eigenaktiven Sozialinvestitionen anhaltenden - Sozialstaat eine "Krise des Sozialen" herrsche, wird man ohne Weiteres also nicht behaupten können. Eine "Krise" erlebt das Soziale derzeit hingegen im Sinne eines Prozesses der Standortverlagerung seiner Produktionsstätte: Die Verantwortung für die Herstellung des Sozialen verschiebt sich vom System sozialstaatlicher Institutionen auf die Subjektivität sozialdienlicher Individuen. Dieser Ortswechsel des Sozialen (im eingangs beschriebenen Sinn) wird erwartbar befördert werden durch die kaum zu überschätzenden fiskalischen Langfristeffekte der ansonsten von ihren zentralen Akteuren fast schon wieder vergessen gemachten Finanzmarktkrise. Dass daher auf mittlere Sicht eine neuerliche Schlankheitskur des Sozialstaats ansteht, die wiederum zu einer erweiterten Dynamik aktivierungspolitischer Inanspruchnahme bislang ungenutzter Humanressourcen und Sozialverantwortungspotenziale führen wird, erscheint als realistische Prognose.
Realistisch erscheint aber ebenso die Annahme, dass sich diese aktivgesellschaftliche Dynamik keineswegs ungebrochen und widerspruchsfrei Bahn brechen wird. Schon der strukturelle Passivitätsverdacht, unter den die aufziehende Aktivgesellschaft einen Großteil ihrer Bürgerinnen und Bürger stellt, wird von diesen nicht ohne Weiteres hingenommen werden - zumal wenn diese Passivitätsdiagnose in eigentümlicher Weise mit der gleichzeitigen Behauptung einer tendenziell grenzenlosen Aktivierungsfähigkeit der als passiv Dargestellten kontrastiert. Ein Sozialstaat, der das soziale Problem unserer Zeit in der Passivität und mangelnden Eigenverantwortung der Subjekte verortet; der praktisch im selben Atemzug aber in denselben Subjekten eine innere, zu Aktivierung und Selbststeuerung fähige und bereite Konstitution (er)findet; und der diese neue Subjektivität wiederum unvermittelt mit politischen Imperativen sozialer Verantwortung und Gemeinwohldienlichkeit ausstattet -
Diese Probleme speisen sich nicht nur aus neuen sozialen Spaltungslinien mit Blick auf die ungleich verteilten Möglichkeiten zur Erfüllung neosozialer Aktivitätsnormen oder aus den Kosten der notwendigen Kontrolle einer normgerechten Nutzung individueller Aktivitätspotenziale.