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Wirtschaftswunderjahr 2009 | Krisenjahr 2009 | bpb.de

Krisenjahr 2009 Editorial Wirtschaftswunderjahr 2009 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie Globalisierungskrise: Geburt einer neuen Weltwirtschaftsordnung? Krise der Demokratie und die Rolle der Politikwissenschaft Krise des Sozialen? Auf dem Weg in die Klimakatastrophe? Was wir aus der Schweinegrippe lernen können

Wirtschaftswunderjahr 2009

Klaus F. Zimmermann

/ 16 Minuten zu lesen

Trotz des größten Wirtschaftseinbruchs seit 1945 sind die Bürger kaum betroffen. Das wird sich ändern, wenn es nicht gelingt, eine Kreditklemme und die bedrohliche Staatsverschuldung einzudämmen.

Einleitung

Am Jahresende 2008 war die Welt von Furcht und Unsicherheit über die wirtschaftliche Zukunft beherrscht. Zu rasch war im letzten Drittel des Jahres aus ökonomischen Abschwungtendenzen ein gefühlter freier Fall der Volkswirtschaften geworden, dessen Größenordnung erst Wochen später bekannt wurde und dessen Ende nicht vorauszusehen war. Schon rasch konkretisierten sich die Befürchtungen, die neue Wirtschaftskrise habe das Kaliber, die große Weltwirtschaftskrise 1929 mit weltweiten Auswirkungen für Wachstum und Wohlfahrt als dramatischstes Ereignis der neueren Wirtschaftsgeschichte abzulösen.

Tatsächlich befand sich die deutsche Wirtschaft, wie wir heute wissen, bereits im Vorjahr früh in einer Rezession, also in einer Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Maß der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Der massive Einbruch im 4. Quartal 2008 und im 1. Quartal 2009 wurde allerdings frühzeitig ab dem 2. Quartal 2009 gestoppt. Inzwischen zeigt sich, dass sich die deutsche Volkswirtschaft gegen alle Erwartungen als eine der ersten Ökonomien weltweit deutlich erholt und eine Leitrolle bei der Bewältigung der Krise übernimmt. Dabei hat sich der Arbeitsmarkt unverhofft und entgegen vieler Panikprognosen als außerordentlich robust erwiesen. Das Krisenjahr 2009 könnten Wirtschaftshistoriker somit später einmal als Wirtschaftswunderjahr am Arbeitsmarkt bezeichnen.

Ist die Krise damit am Ende? Was war ihre Ursache, und was haben wir zur Vermeidung ähnlicher Herausforderungen in der Zukunft gelernt? Gibt es Gefahren eines Rückfalls? Welche Keime einer neuen Krise können aus der gegenwärtigen erwachsen?

Wo steht die deutsche Wirtschaft?

Im Vergleich zum Vorjahr wird die Wirtschaftsleistung 2009 preisbereinigt um deutlich weniger als fünf Prozent geringer ausfallen. Mit Ausnahme Japans verzeichnet keines der großen Industrieländer einen solch starken Rückgang. Tatsächlich hatten die Befürchtungen einer Schrumpfung bis zur Jahresmitte zeitweise schon bei mehr als sechs Prozent gelegen.

Im Verlauf der weltweit heftigsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Angst um die Arbeitsplätze. Tatsächlich brach in vielen Ländern die Beschäftigung ein. Neben den USA sind in Europa beispielsweise Spanien, Irland und Großbritannien zu nennen. Auch in Deutschland war von vielen Beobachtern seit längerer Zeit ein großer Einbruch am Arbeitsmarkt erwartet worden. Spätestens seit dem Jahreswechsel 2008/2009 verdichteten sich die Befürchtungen heftig steigender Arbeitslosenzahlen. Allerdings war die Arbeitslosigkeit in Deutschland, über das Ende des Wirtschaftsbooms hinaus, das ganze Jahr über bis zum Dezember 2008 gefallen. Trotz eines Anstiegs in den ersten Monaten des Jahres 2009 ging die Arbeitslosigkeit im Frühjahr wieder zurück.

Dennoch verstärkten sich auch im Sommer die öffentlichen Einschätzungen, nach denen die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf weiter anziehen und bald schon vier Millionen in diesem Jahr und fünf Millionen im Jahr 2010 überschreiten werde. Dies stützte sich auf die erheblichen Arbeitskräftereserven in vielen Firmen, ihre massiven wirtschaftlichen Belastungen und den hohen Bestand an Kurzarbeitern. Die Arbeitsproduktivität fiel, ein ganz außergewöhnlicher Vorgang, und bot einen Beleg dafür, dass die Unternehmen Arbeitskräfte in gewaltigem Umfang horteten und wohl immer noch horten. Und wenn den Unternehmen die Puste ausgehe, müssten sie sich über kurz oder lang von überflüssigem Personal trennen.

Gemessen an diesen Vorhersagen erscheint es tatsächlich als Wunder, dass es am Arbeitsmarkt in diesem Sommer ruhig blieb und es auch im Herbst nicht schlechter wurde. Allerdings hatte ich genau dies bereits im Frühsommer prognostiziert. Und ein weiteres Wunder war, dass der freie Fall der Wirtschaft bereits im 2. Quartal gestoppt werden konnte und sich eine Phase des sanften Auftriebs abzeichnete. Im 3. Quartal wuchs die deutsche Wirtschaft wieder kräftig. Auch im 4. Quartal 2009 wird mit einer Fortsetzung des positiven Trends gerechnet. Dadurch wirkte sich die Krise weit weniger markant aus als lange gedacht, und für 2010 kann auf kräftiges Wachstum gehofft werden. Vier Millionen Arbeitslose im Jahr 2009 wurden deshalb schon bald auch rechnerisch unmöglich, fünf Millionen im kommenden Jahr erscheinen inzwischen ausgeschlossen. Heute liegen die Prognosen für 2009 bei 3,4 Millionen und für 2010 bei knapp vier Millionen Arbeitslosen.

Von Wundern kann indes nur so lange gesprochen werden, bis die Ursachen transparent sind. Das Ganze sei ein Erfolg der Konjunkturpakete, wird wohlfeil spekuliert. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die meisten staatlichen Fördermaßnahmen erst zur Jahresmitte zu wesentlichen Mittelabflüssen führten und sich die Wirkungen, wenn überhaupt, weitgehend erst 2010 einstellen werden. Außer der Kurzarbeit war nur die umstrittene Abwrackprämie an wesentlichen Instrumenten frühzeitig in Kraft, sie kann aber schon vom Volumen her kaum die rasche Erholung bewirkt haben. Die sich abzeichnende Erholung sollte zum Anlass für Überlegungen genommen werden, wie die beschlossenen konjunkturellen Belebungsmaßnahmen auf den Bildungs- und Infrastrukturbereich konzentriert werden können, wo die Mittel am sinnvollsten und nachhaltigsten investiert wären.

Der deutsche Arbeitsmarkt ist in der Krise gut aufgestellt gewesen: Dazu haben die Arbeitsmarktreformen der vielgescholtenen Agenda 2010, die langjährige Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und die Anpassungsmaßnahmen in den Unternehmen beigetragen. Seit langem sind die Lohn- hinter den Kapitaleinkommen zurückgeblieben, was zu einer robusten Konstitution der Firmen beigetragen hat. Ferner hat die Krise in Deutschland vor allem die Leistungsträger in den exportorientierten Investitionsgüterindustrien getroffen. Die Folgen waren deshalb auf einige Sektoren begrenzt, vor allem auf die Exportindustrie und damit verbundene Wirtschaftszweige wie den Außenhandel. Kaum tangiert wurden dagegen Wirtschaftszweige, die auf den privaten Konsum ausgerichtet sind. Baden-Württemberg steht folglich mit seiner stark exportorientierten mittelständischen Wirtschaft an der Spitze bei der Zunahme der Arbeitslosigkeit, Mecklenburg-Vorpommern infolge mangelnder Exportorientierung und einer geringen Wirtschaftskraft am Ende.

Die betroffenen Fachkräfte setzt man nicht so leicht auf die Straße. Zu sehr ist der sich langfristig verstärkende Fachkräftemangel auch in der Krise sichtbar. Lieber hält man auch angesichts einer Million offener Stellen diese Fachkräfte jetzt um (fast) jeden Preis in den Unternehmen. Sicher war und ist dabei unterstützend die Kurzarbeit der effektivste Teil des deutschen Konjunkturprogramms. Die Möglichkeiten für Kurzarbeit, bei der die Arbeitsagentur Arbeitszeitverkürzungen in den Unternehmen auf Staatskosten mitfinanziert, waren von der Bundesregierung in diesem Jahr in mehreren Schritten deutlich ausgeweitet worden. Dabei wurden die Bezugszeiten von ursprünglich sechs auf zuletzt 24 Monate erhöht. Flexiblere Arbeitszeitregelungen, der Abbau von Zeitarbeit und das Abschmelzen von Arbeitszeitkonten erfüllten ihre Pufferfunktion.

Hinzu kommt, dass soziale, arbeitsmarktpolitische und steuerspezifische Stabilisatoren gegriffen haben. Bei diesen automatischen Konjunkturmaßnahmen, für die keinerlei politische Entscheidungen nötig sind, erhöhen sich die Defizite der Budgets der öffentlichen Hand und der sozialen Sicherungssysteme durch krisenbedingte Steuerausfälle und vermehrter Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Hohe Beschäftigung und niedrige Energiepreise stabilisieren den Konsum und damit die Wirtschaft. Tatsächlich hat die Krise die privaten Haushalte in Deutschland gar nicht erreicht, sondern primär die Unternehmens- und Vermögenseinkommen getroffen. Sie egalisiert also und korrigiert langfristige Trends in der Umverteilung.

Konjunkturprognosen in der Krise

Alle uns nach und über die Klippe? In Zeiten großer Unsicherheiten folgen Menschen ihrem Herdentrieb, anstatt sich selber eine Meinung zu bilden. Das gilt auch für Investoren und Prognostiker. Wie Erdbeben sind auch existenzielle Wirtschaftskrisen unprognostizierbar. Schon zu normalen Zeiten sind Konjunkturprognosen auf mittlere Sicht sehr unsicher. Gerade deshalb ist das öffentliche Interesse an ihnen riesengroß. In einer so zuvor nie dagewesenen Krise gilt das umso mehr. Prognosen sind deshalb gefährliche Unterhaltung, nicht unschuldige Wissenschaft, denn ihr Zweck ist Orientierung, und sie beeinflussen wirtschaftliches Verhalten.

Wer die Krise prognostiziert, braucht sich in Zeiten großer Unsicherheiten nicht zu wundern, wenn Aktienmärkte kollabieren und Investitionen angesichts der unklaren Zukunft unterbleiben. Der damit einsetzende Wirtschaftseinbruch bestätigt die Prognose und kann zum Systemzusammenbruch führen. Der Philosoph Karl Popper spricht vom Ödipus-Effekt, und das Phänomen, das auch in biologischen Systemen auftritt, wird nach dem Soziologen Robert K. Merton selbsterfüllende Prophezeiung genannt. Tatsächlich begann die Wirtschaftskrise prognostiziert, aber nicht voll verstanden, schon lange vor den kollabierenden Finanzmärkten im vorvergangenen Herbst. Die damit aufgetretene massive globale Unsicherheit erzeugte auch unter den Prognostikern Herdenverhalten - und massive systematische Revisionen mit immer negativeren Wachstumsprognosen. Unvermeidbar trug dies zu weltweit einbrechenden Absatzerwartungen der Investoren bei. Manche Prognosen wären deshalb besser unterblieben.

Im April dieses Jahres verzichtete das DIW Berlin auf eine Prognose für 2010, legte sich aber für das laufende Jahr auf minus 4,9 % fest. Es sei immer noch zu komplex, das Folgejahr zu diesem Zeitpunkt abzubilden. Die Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute, die kurz darauf vorgestellt wurde, kam dagegen zu minus 6 % für 2009 und zu minus 0,5 % für 2010. Beide Angaben der Gemeinschaftsdiagnose werden sich wohl als vorschnell erweisen. Die Schrumpfung 2009 wird wohl unter 5 % bleiben. Und 2010 wird aller Voraussicht nach viel besser als zuvor gedacht: Das DIW Berlin und die Gemeinschaftsdiagnose haben sich im Oktober auf ein Plus von 1,3 % bzw. 1,2 % festgelegt. Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten ein Plus von 1,6 % genannt. Einige Bankenvolkswirte haben bereits Prognosen mit bis zu 2,5 % Wachstum vorgelegt. Damit kann sich das DIW Berlin mit seiner eher zurückhaltenden Prognosestrategie bestätigt sehen.

Sollte damit ein Argument geliefert worden sein, Prognosen künftig generell zu unterlassen? Wohl kaum. Zwar können Prognosen in besonders kritischen Konjunkturphasen gefährlich, weil Krisen verstärkend, wirken. Und sie sollten unterbleiben, wenn ihre Prognosefähigkeit nicht minimalen Ansprüchen genügt. Beides trifft für den konjunkturellen Normalbetrieb nicht zu, wenn es um Vorhersagen von bis zu einem Jahr geht.

Ursachen der Wirtschaftskrise

Grundsätzlich hätte die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Deutschland über drei Kanäle erreichen können: (1) über die internationale Verflechtung des Finanzsektors, welche die Kreditvergabe bedroht; (2) über die deutschen Exporte in die USA, aber auch in alle anderen Länder, die mit den USA in engen Wirtschaftsbeziehungen stehen; (3) durch die Zukunftserwartungen von Unternehmern und privaten Haushalten, die über die Risikobereitschaft die Investitionen und über das Konsumklima die Kauflust beeinflussen. Tatsächlich hatte der deutsche Konjunktureinbruch fast ausschließlich mit dem Einbruch der Exporte und mit der Investitionsgüterindustrie zu tun. Dies bestätigt ein weiteres Mal die übergroße Weltmarktabhängigkeit der deutschen Wirtschaft. Neu war diesmal, dass ein Einbruch in den Zukunftserwartungen der Investoren zu einem gleichzeitigen Einbruch der Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern auf allen Weltmärkten geführt hat, wie er zuvor noch nie beobachtet wurde.

Der seit Sommer 2008 spürbare Rückgang der Weltkonjunktur bedrohte in vielen Staaten Beschäftigung und Wohlstand. Ausgegangen war der Rückgang von den USA, die bereits seit Jahresbeginn 2008 mit massiven Rezessionsängsten zu kämpfen hatten. Dazu kam eine langjährige, aber nun eskalierende Krise in der Automobilindustrie, in der die Unternehmen mit falschen Kostenstrukturen und verfehlten Produktpolitiken am Markt vorbei agierten. Das massive Konjunkturprogramm der USA im Sommer 2008 war bereits nach zwei Quartalen verpufft. Seine überwiegend über Steuerschecks ausgegebenen Mittel flossen letztlich nur zu einem Teil in den Konsum. Das Programm hat den weiteren Konjunkturabschwung und die danach vom Schritt ins Galoppieren geratene Finanzkrise in den USA nicht verhindern können.

Im Gegenteil hätte sich ohne die einsetzende Wirtschaftskrise der Zerfall der traditionellen Wall Street kaum so vollzogen. Die Vorstellung, ein paar "verantwortungslose Zocker" an der Wall Street hätten die Welt über Nacht zum Einsturz gebracht, ist falsch. Zwar sind im Finanzsektor schwere Fehler gemacht worden; zu glauben, dass der Kollaps dieses Sektors im Herbst 2008 die Ursache für die dann einsetzende Wirtschaftskrise darstellt, ist aber vorschnell. Denn längst hatte die Krise schleichend begonnen. Die vermeintlich "schnelle" Übertragung der Probleme von der finanz- auf die realwirtschaftliche Ebene ist zunächst einmal das Ergebnis eines Wahrnehmungsproblems und einer Verwechslung von Ursache und Wirkung. Dazu trägt natürlich bei, dass sich Stimmungen und Erwartungen von Konsumenten und Investoren heute wegen der unmittelbaren internationalen Kommunikation direkt anpassen. Dazu gehört aber auch, dass medial eine Dramatik inszeniert wird, indem Negativmeldungen überzeichnet und Positivmeldungen ignoriert werden. Letztlich gab es keine schnelle Übertragung der Probleme auf den Arbeitsmarkt, auf die Konsumstimmung und auf die Steuereinnahmen. Dies wurde in der öffentlichen Diskussion lange nicht ausreichend gewürdigt.

Die Finanzkrise hatte ihren Auslöser in einem dreifachen Staatsversagen in den USA: eine jahrelange Niedrigzinspolitik der Notenbank, die sogar negative Realzinsen zuließ und so die Häuserspekulationsblase erst ermöglichte, die Verweigerung einer frühzeitigen Regulierung der Finanzmärkte und der Verzicht auf die Rettung von Lehman Brothers, einer systemisch wichtigen Bank. Der Fall Lehman Brothers hatte eine wichtige symbolische Bedeutung, da die weltweite Vernetzung dieser Bank die Krise in die Finanzzentren der Welt transportierte.

Der deutsche Staatssektor hat in dieser Krise weder durch seine tief verstrickten Staatsbanken noch durch eine besonders effektive Bankenaufsicht überzeugt. Managerschelte ist verständlich, aber sie führt nicht weiter, denn hier geht es um die systemischen Risiken einer gesamten Branche. Die langfristige Stabilisierung des Wirtschaftssystems nur vom Staat zu erhoffen, hieße auf Sand zu bauen. Die Lehrbuchantwort einer angemessene Reaktion auf eine solche Finanzkrise war und ist eine international koordinierte Flutung der Geldversorgung, niedrige Zinsen, die Garantie der Interbankenkredite und der Spareinlagen, die Ablösung unfähiger Manager, die Bereitstellung von öffentlichem Eigenkapital durch eine temporäre Teilverstaatlichung verbunden mit einer simultanen Herauslösung der Problemaktiva in eine "Bad Bank" und die Etablierung einer reformierten internationalen Finanzordnung.

Leider ist eine solche Reaktion nur graduell erfolgt. Mängel gab es insbesondere bei der internationalen Koordination, bei der Lösung des Problems der toxischen Assets und damit der Sicherstellung des Kreditgewährungspotenzials durch die Zuführung frischen Kapitals sowie bei der Umsetzung einer neuen, global funktionierenden Finanzmarktkontrolle. Es war kontraproduktiv, die Banken zum Kotau zwingen zu wollen, wie dies das deutsche Rettungspaket vorsah. Dies verzögerte wegen der Stigma-Effekte die Gesundung. Hilfen wurden so nur unzureichend angenommen. Das Bad-Bank-Modell der Bundesregierung bleibt praktisch ungenutzt, weil es auf Freiwilligkeit setzt und staatliches Engagement im Bankensektor scheut. So bleibt bis heute die Gefahr, dass eine anspringende Konjunktur durch mangelnde Kreditbereitschaft der Banken und durch den konkurrierenden, krisenbedingt hohen Kreditbedarf der öffentlichen Hand behindert wird. Dann käme es tatsächlich zu dem, was populär "Kreditklemme" genannt wird.

Der Kern der Finanzkrise liegt aber im massiven Vertrauensverlust des Finanzsektors in sich selbst. Ruhe kehrt erst mit einer neuen internationalen Finanzarchitektur ein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Zentralbanken sind potenzielle Akteure auch einer künftigen Krisenbewältigung und sollten deshalb als Kontrollinstitute ausscheiden. Nationale und supranationale (auf regionaler Ebene), international kooperierende Kontrollinstitute müssen mit schärferen Kontrollrechten für den gesamten Bankensektor unter Einschluss von Banken, Hedgefonds und Ratingagenturen ausgestattet werden. Die Kontrolle und Zertifizierung von Finanzprodukten muss um die Kontrollmöglichkeit ganzer Geschäftsstrategien erweitert werden. Es müssen Honorierungsgrundsätze für das Management gelten, die sich am langfristigen Unternehmenserfolg orientieren und die Verantwortung für unternehmerisches Handeln auch monetär fassen. Die Finanzkrise wird erst dann zum Verstärker einer allgemeinen Wirtschaftskrise, wenn der Bankensektor, die Zentralbanken und der massiv intervenierende Staat ihre Aufgaben nicht wahrgenommen haben.

Kreditklemme, Staatsverschuldung und Wirtschaftsaufschwung

Die Anzeichen für eine Kreditklemme sind in Deutschland immer noch dürftig. Aber mit der zunehmenden wirtschaftlichen Dynamik wird der Elchtest des Bankensektors fällig. Die Banken weisen sie noch von sich; auch die Deutsche Bundesbank und die Kreditanstalt für Wiederaufbau haben dies immer wieder bekräftigt. Bei der Europäischen Zentralbank akkumuliert seit langem die Bankenliquidität. Die Interbankenverschuldung ist allerdings noch nicht wieder genügend in Fahrt gekommen. Ausländische Banken haben sich aus dem deutschen Kreditvergabegeschäft zurückgezogen.

Langfristige oder umfangreiche Kredite, die Konsortien aus Banken erfordern, sind risikoreich und werden deshalb nur zögerlich angeboten. Tatsächlich berichten große Firmen seit einiger Zeit von zunehmenden Restriktionen bei der Kreditvergabe. Diese überschreiten die Restriktionen der kleinen und mittleren Unternehmen in ungewöhnlicher Weise. Aber kann man den Banken, denen man einerseits vorwirft, Risiken bei ihren Produkten nicht bedacht zu haben, diese Vorsicht nun vorhalten? Ist dies nicht die normale, angemessene Vorsicht bei noch unsicherer wirtschaftlicher Aussicht? Die gemessenen Engpässe bei allen Unternehmen liegen immer noch unter denen vor fünf Jahren. Dies ist also noch kein Beleg für eine große Krise bei der Kreditvergabe.

Eine Kreditklemme kann allerdings auch dadurch entstehen, dass die Banken die von der Privatwirtschaft benötigten Kredite nicht zur Verfügung stellen können, weil der öffentliche Sektor infolge der krisenbedingten Staatsverschuldung die erforderlichen Finanzmittel an den Kapitalmärkten aufsaugt. Dieser Bedrohung der mittelfristigen Entwicklung der Wirtschaft wird immer noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Tatsächlich ist diese Bedrohung durch die Absicht der Bundesregierung größer geworden, die Staatsdefizite in den beiden kommenden Jahren durch Steuersenkungen und steigende Transferausgaben weiter zu erhöhen.

Nach übersteigerten Erwartungen an den Markt droht jetzt die Überforderung des Staates. Seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht hatten sich deutsche Finanzminister bemüht, die überbordende Staatsverschuldung zu begrenzen. Denn der Vertrag sieht zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen in den Mitgliedsländern vor, die Neuverschuldung in normalen Jahren auf deutlich unter drei und die gesamte Staatsverschuldung auf unter 60 Prozent des BIP zu begrenzen. Doch jetzt wurden die Schleusen wieder weit geöffnet: Was bereits im vergangenen Wirtschaftsboom begann, wurde in der Krise zum Breitensport. Mit großen Ausgabensummen versuchte der Staat, alles und jedes zu retten, die Banken, allerlei Unternehmen und die Konjunktur ohnehin. Im Bundestagswahlkampf überboten sich die Parteien mit Wahlversprechen zu Steuersenkungen oder zur Umverteilung. Nach der Wahl wird ein allein politisch motiviertes Förderprogramm für Familien, Erben, den Hotelsektor und Firmen zum "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" stilisiert.

Aber diese große Leichtigkeit baut auf den Schein. Sie wird uns schon bald kräftig um die Ohren fliegen. Erinnern wir uns: Seit den 1970er Jahren ist die Staatsverschuldung stark gestiegen, von unter 20 Prozent des BIP auf gegenwärtig etwa 65 Prozent. Das kostet die Steuerzahler schon heute viel Geld. Derzeit 70 Milliarden Euro jährlich allein für den Schuldendienst fehlen woanders, das sind bereits drei Prozent des BIP oder 850 Euro je Einwohner. Allein durch die Konjunkturprogramme und die automatischen Stabilisatoren (Steuerausfälle, zusätzliche Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere für Arbeitslosigkeit) wird der öffentliche Sektor 2009 und 2010 auf bis zu 200 Milliarden Euro Neuverschuldung kommen. Damit dürfte der Schuldenstand sprunghaft auf gut 75 Prozent des BIP steigen. Dieser öffentliche Finanzierungsbedarf bedroht die Kreditvergabemöglichkeit an die Wirtschaft und erhöht nachhaltig die Belastungen für die Zukunft. Denn es wird verdrängt, dass uns die zukünftigen, seit langem transparenten Belastungen durch den demographischen Wandel mit der großen Wirtschaftskrise nicht verlassen haben. Rente, Pflege und Gesundheit sind nur die Namen dreier Eisberge, die weiter in die Richtung der "Titanic" Deutschland treiben. Zwar war die Haushaltskonsolidierung, beflügelt durch den Boom, Steuererhöhungen und die Arbeitsmarktreformen, bis 2008 gut vorangekommen. Aber dennoch hatten die Politiker bereits wieder die Spendierhosen angezogen: Die Renten wurden außerplanmäßig erhöht, das Arbeitslosengeld verlängert, das Kindergeld angehoben. Auch ist die Teilabschaffung der Pendlerpauschale gescheitert.

Die noch vor der Bundestagswahl grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse soll nun dafür sorgen, dass die strukturelle, von der Konjunktur unabhängige Neuverschuldung des Bundes auf maximal 0,35 Prozent des BIP beschränkt ist. Die Länder sollen sich ab 2020 gar nicht mehr verschulden dürfen. Der Bund muss die Vorschrift ab 2016 zwingend umsetzen, die Übergangsregelungen müssen bereits ab 2011 beachtet werden.

Eine steigende Staatsverschuldung muss aber mit größeren Zinszahlungen bedient werden. Die derzeit niedrigen Zinsen lassen dieses Problem als gering erscheinen. Doch schon bald werden sie mit einer Erholung der Konjunktur kräftig steigen, die Haushalte überlasten und politische Gestaltungsspielräume ersticken. Dieses und nächstes Jahr müssen zwar noch Staatsdefizite entstehen können, damit die Wirtschaftskrise ausklingt. Aber mit einem kräftigen Wirtschaftswachstum sollte man für die Haushaltssanierung in den nächsten Jahren besser nicht rechnen. Das Wachstum könnte durch die größere Staatsverschuldung abgewürgt werden.

Die öffentlichen Haushalte mit der Keule angedrohter Steuersenkungen zum Sparen zu bringen, hat sich schon in den vergangenen Jahren als unmöglich erwiesen. Weder ein Subventionsabbau, der zudem häufig auch Steuererhöhungen impliziert, noch die viel beschworene Reduktion der Bürokratie und der Personalkosten erscheinen deshalb auf Sicht machbar. Dass Steuersenkungen unter den absehbaren gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vertretbar sind, wird man mündigen Bürgern nur sehr schwer klar machen können. Insoweit sind Steuererhöhungen unvermeidbar - dies ist eine Prognose, kein Wunsch. Unternehmens- und Einkommenssteuern sind aber in den vergangenen Jahren aus guten Gründen auf breiter Front gesenkt worden. Sie sollen Leistungsanreize stärken und die Produktion in Deutschland ermöglichen. Darauf kann nicht verzichtet werden. So bleibt nur die Mehrwertsteuer, mit der das Problem nachhaltig angegangen werden könnte. Mit einer Anhebung von derzeit 19 Prozent auf bis zu 25 Prozent würden wir in Europa aus dem derzeitigen Mittelfeld in die Spitzengruppe rücken.

Die Mehrwertsteuer belastet nicht die volkswirtschaftliche Leistungserstellung und die Ersparnisse, sondern nur den Verbrauch. Sie wirkt auf breiter Basis und bindet die gesamte Bevölkerung ein. Es gibt kaum Ausweichreaktionen und wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Die Steuer bezieht die Importe mit ein und belastet damit auch ausländische Produktionsfaktoren. Dagegen sind die Exporte nicht betroffen, die bei alternativen Finanzierungen der Staatslasten verteuert würden. Von den Exporten, immerhin bereits 50 Prozent des deutschen BIP, erwarten wir aber auch künftig den wirtschaftlichen Aufschwung und eine tragende Rolle für unser Wirtschaftswachstum. Die Exporte durch eine künftige alternative steuerliche Belastung der Produktionsfaktoren weniger wettbewerbsfähig zu machen wäre höchst problematisch.

Konjunkturelle Gründe würden für eine rasche Ankündigung der Erhöhung der Mehrwertsteuer zum Jahresbeginn 2011 sprechen. Die Bürger würden dann größere Einkäufe vorziehen, was 2010 den Konsum und damit die Konjunktur stärken könnte. Allerdings spricht zunächst dagegen, dass sich die Politik generell gegen Steuererhöhungen in dieser Legislaturperiode ausgesprochen hat. Offensichtlich ist Plan A der Vorsatz, das Staatsbudget erst in der nächsten Wahlperiode in Ordnung zu bringen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und ein Plan B für den Notfall ist nicht in Sicht.

Ausblick

Die zu Ende gehende globale Wirtschaftskrise hat klar gemacht, wie bedeutend die Beherrschung grundlegender Wirtschaftsprozesse für die Bewahrung und den Ausbau unseres Wohlstandes ist. Damit ist die Bedeutung von Ökonomie für die Gesellschaft gewachsen. Gewachsen ist allerdings auch die Skepsis, große Krisen jemals völlig ausschließen zu können.

Wir haben aber die Chance, unsere Kontroll- und Reaktionsregularien erheblich zu verbessern. Es ist in der Krise deutlich geworden, dass wir erhebliche Verbesserungspotenziale haben. Die Chancen dazu können vor allem durch internationale Kooperationen realisiert werden. Im Fokus der Politikagenda muss deshalb in den nächsten Jahren die Vermeidung einer Kreditklemme, die Beherrschung der ausufernden Staatsverschuldung und die Einführung einer globalen Finanzmarktkontrolle stehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu einer umfassenden Analyse auch das soeben vorgelegte Buch von Klaus F. Zimmermann und Dorothea Schäfer, Finanzmärkte nach dem Flächenbrand. Warum es dazu kam und was wir daraus lernen müssen, Wiesbaden 2010.

  2. Vgl. Nikos Askitas/Klaus F. Zimmermann, Prognosen aus dem Internet: weitere Erholung am Arbeitsmarkt erwartet, in: Wochenbericht des DIW Berlin, 76 (2009) 25, S. 402 - 408; dies., Sommerpause bei der Arbeitslosigkeit: Google-gestützte Prognose signalisiert Entspannung, in: Wochenbericht des DIW Berlin, 76 (2009) 33, S. 561 - 566.

  3. Vgl. Sachverständigenrat, Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Jahresgutachten 2009/2010, Wiesbaden 2009.

  4. Vgl. Konstantin A. Kholodilin/Boriss Siliverstovs, Geben Konjunkturprognosen eine gute Orientierung?, in: Wochenbericht des DIW Berlin, 76 (2009) 13, S. 207 - 213.

  5. Vgl. Klaus F. Zimmermann, Schadensbegrenzung oder Kapriolen wie im Finanzsektor?, in: Wirtschaftsdienst, 88 (2008) 12, S. 18 - 20.

  6. Vgl. Christian Dreger et al., Nach dem Sturm: Schwache und langsame Erholung - Frühjahrsgrundlinien 2009, in: Wochenbericht des DIW Berlin, 76 (2009) 15 - 16, S. 238 - 270.

  7. Dem widerspricht, dass die Bundesregierung der Deutschen Bundesbank die Aufsicht über den Finanzsektor übertragen will. Tatsächlich hat die Bundesbank in der Krise eine respektable Rolle gespielt. Es ist aber ein grundsätzliches Problem, wenn in einer möglichen neuen Krise in der Zukunft der gescheiterte Aufseher auch der letzte Retter in größter Not sein soll.

Dr. rer. pol. habil., geb. 1952; Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften der Universität Bonn; Honorarprofessor der Freien Universität Berlin und der Renmin Universität Chinas in Peking; Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin); Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Postfach 7240, 53072 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: zimmermann@iza.org
Internet: Externer Link: www.iza.org; Externer Link: www.diw.de