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Geschichte der europäischen Identität

Wolfgang Schmale

/ 15 Minuten zu lesen

Von innen betrachtet erscheint europäische Identität fraglich. Die EU bietet einen Handlungsrahmen, innerhalb dessen sich die Frage nach Identität praxeologisch und nicht mehr imaginär stellt.

Einleitung

Von innen betrachtet besitzt Europa keine Identität. Es gibt nicht nur ein Europa, sondern mehrere: das der Europäischen Union (EU), des Europäischen Wirtschaftsraums, der Westeuropäischen Union (WEU), der (Rest-)EFTA, des Europarats; das der OSZE und der NATO, zwei Organisationen, an denen nicht nur europäische Staaten beteiligt sind. Die Identitätsfrage lässt sich sinnvollerweise nur in Bezug auf Europa in Gestalt der EU stellen. Zwar reichen ihre derzeit 27 Mitgliedstaaten nicht an die derzeit 46 des Europarats heran, aber nirgendwo kann ein höherer Grad an Integration, institutioneller und konstitutioneller Verdichtung, ja Verflechtung festgestellt werden als in der EU. Für die meisten europäischen Staaten, die noch nicht EU-Mitglied sind, spielt deshalb die Perspektive eines Beitritts eine entscheidende Rolle, die über die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der kommenden Jahre mitentscheidet.



Der Attraktivität der EU steht eine endlose Folge von inneren Krisen gegenüber, die immer wieder am Ziel der europäischen Einheit verzweifeln lassen. Der Vertrag von Lissabon beendet nun zwar, wenn ihn alle Länder ratifizieren, die Krise um den Verfassungsvertrag, die das "Nein" der Franzosen und Niederländer 2005 ausgelöst hatte, aber er trägt den Keim neuer Krisen in sich, da einzelnen Ländern Ausnahmen zugestanden wurden, die juristisch gesehen Grauzonen gleichen. Man könnte das Thema ironisch abkürzen, indem man feststellt, dass "Krise" offenkundig Europas Identität ausmacht.

Von außen betrachtet stellen sich die Verhältnisse völlig anders dar. Im Zusammenhang der Debatte um den Irakkrieg veröffentlichte Robert Kagan ein Buch, das auf Grund des hohen Bekanntheitsgrades seines Autors Furore machte. Der Titel der zeitgleich erscheinenden deutschen Ausgabe "Macht und Ohnmacht" verwischt die Identifizierung Europas mit "Paradies" und der USA mit "Macht" bzw. "Schutzmacht Europas". Die Metapher des Paradieses leitet sich aus der Realisierung von Frieden und Wohlstand sowie aus dem Verzicht auf die bis zum Zweiten Weltkrieg für Europa typische, rücksichtslose Machtpolitik ab. Dieses Paradies konnte nach 1945 nur unter dem militärischen Schutz der USA entstehen, die gewissermaßen die Tore zum Paradies bewachten und noch immer bewachen. In der Vorstellungswelt vieler afrikanischer Migranten, die ihr Leben in seeuntüchtigen Booten aufs Spiel setzen, nimmt der Vergleich Europas mit dem Paradies, mit paradiesgleichen Lebensbedingungen, ebenfalls einen wichtigen Platz ein.

Dessen ungeachtet ist in Europa die Neigung, EU-Europa als Paradies zu betrachten und damit auch eine eindeutige Identität zu besitzen, wenig verbreitet. Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors (1985 bis 1995) fasste diesen "Mangelzustand" in das Bild von der "Seele", die Europa gegeben werden müsse. Sieht man von früheren Einzelschritten und Akten wie dem Dokument über Europäische Identität, das auf dem Kopenhagener EG-Gipfel im Dezember 1973 veröffentlicht wurde, ab, so betreibt die EU seit den 1980er Jahren eine Identitätspolitik, die sich ganz der Insignien eines auf Einheit beruhenden Staates bedient. Man könnte sagen, die Identitätspolitik der EU richtet sich an der durchschnittlichen Identitätspolitik eines Nationalstaates aus: Flagge, Hymne, Europatag, Devise, EU-Staatsbürgerschaft drücken symbolisch die Einheit aus. Die allenthalben vorherrschende Vielfalt, die als Mitursache der häufigen Krisen erscheint, wird immer wieder auf die Möglichkeit und Machbarkeit von Einheit hin "gescannt". In der Tat setzt der gängige Begriff von Identität ein hohes Maß an Einheit mit sich selbst, an In-sich-eins-sein, voraus, ganz gleich, ob es sich um die Identität eines Individuums oder um die eines Kollektivs handelt.

Historisch gesehen gab es Zeiten, in denen "Europäische Identität" als Selbstverständlichkeit galt. Seit dem 15. Jahrhundert haben sich zwei aufeinander folgende Identitätskonzepte entwickelt: Europa als Christliche Republik (in der Frühen Neuzeit) und Europa als Kultur (seit der Aufklärung). In beiden Fällen spielt die Konstruktion und Definition des Fremden und Anderen eine entscheidende Rolle. Rufen wir uns in aller Kürze die historischen Situationen in Erinnerung.

Christliche Republik in der Frühen Neuzeit

Im 15. Jahrhundert kreuzten sich mehrere Entwicklungen. Obwohl bereits im Mittelalter "Europa" als geographische Bezeichnung existiert hatte, wurde der Kontinent vorwiegend im Kontext der Welt als solcher gesehen: Beliebt waren Weltkarten, in denen die Erde, bestehend aus den drei Kontinenten Asien (nahm in der Regel 50 Prozent der Fläche ein), Afrika ("rechtes" unteres Viertel) und Europa ("linkes" unteres Viertel), als Körper Christi fungierte: Kopf, Hände und Füße waren die des Sohnes Gottes, der restliche Körper wurde mittels der Erde, des Erdkörpers dargestellt. Erst seit dem 15. Jahrhundert wurde Europa immer mehr für sich wahrgenommen und selbständig auf Karten dargestellt, gewissermaßen aus dem - nivellierenden - Zusammenhang der mittelalterlichen Weltkarte, in der Jerusalem den Mittelpunkt bildete, herausgenommen. So lässt sich anhand der Kartographie feststellen, wie sich Europa seiner selbst bewusst wurde.

In der selben Zeit weitete sich der Blick: Portugiesische Seefahrer rückten Meile für Meile, Jahr für Jahr, längs der Küste Afrikas immer weiter bis zum Äquator und dann südlich des Äquators vor. Ende des 15. Jahrhunderts, 1492, "entdeckte" Kolumbus Amerika und eröffnete damit eine neue Weltsicht. Außer Asien, über das die Europäer schon immer mehr gewusst hatten und für das sie sich schon immer näher interessiert hatten, stellten Afrika und der "neue" Kontinent Amerika neue Eckpfeiler im Bezugssystem der Europäer dar. Es wurde eine Neuverortung Europas erforderlich, welche die Bildung eines Bewusstseins von sich selbst, von Europa, im Vergleich zu den anderen Kontinenten beförderte. Der Vergleich führte im Übrigen zu einem Rückschluss auf die Überlegenheit Europas und der Europäer im Weltsystem.

Das Vordringen der Osmanen aus dem "Morgenland" schließlich erhöhte den Druck, sich selbst zu definieren. Die Osmanen galten als Heiden. Im Kriege waren sie nicht zu schlagen, sie drängten die Grenzen der Christenheit zurück, reduzierten aus der europäischen Perspektive die Christenheit auf Europa. Militärisch, so schien es, bedurfte es des Zusammenhalts der europäischen Staaten, wenn die "Türkengefahr", wie es damals hieß, gebannt werden sollte. Insoweit verwundert es nicht, wenn Begriffe wie "Haus" und "Vaterland" auftauchten, um Europa im Kontext der "Türkengefahr" zu bezeichnen. Indem die Christenheit und der Kontinent Europa beinahe in eins gefallen waren - als Symbol dafür gilt der Fall Konstantinopels 1453 -, setzte sich das Verständnis von Europa als "Christliche Republik" durch. Gemeint war die Gemeinschaft der christlichen europäischen Staaten. Der Kontinent Europa wurde als der von Gott geschaffene geographische Körper dieser Christlichen Republik interpretiert. Dahinter steht eine vollkommen essentialistische Vorstellung von Identität. Getragen wurde diese Identitätsvorstellung von einer nicht einmal kleinen alphabetisierten Bevölkerung, die quer durch Europa auf vielfältige Weise miteinander verflochten war und eine Art von "europäischem Demos" darstellte.

Dieser bestand aus den untereinander verheirateten Herrscherdynastien wie dem Haus Österreich (Habsburger), den Valois bzw. Bourbonen (Frankreich) oder den Medici (Italien); neben vielen anderen größeren und kleineren Fürstenhäusern sind auch die Stuarts, die Oranier, die Wasa, die Wettiner zu nennen. "Angehängt" waren zahlreiche Verwandtschaften, adlige und nichtadlige Gruppen und Klientelschaften, die in einem engeren Zusammenhang mit diesen Dynastien standen (Patronagesysteme, Hofgesellschaften, Amtsträger, ökonomische Auftragnehmer wie Künstler, Gelehrte und Handwerker, religiöse Orden, die Kirchen). Es handelte sich um die sozialen Gruppen, die über Bildung und Wissen(schaft) verfügten, die politische, ökonomische, soziale, kulturelle und religiöse (kirchliche) Macht innehatten oder um diese miteinander kämpften bzw. durch die Vernetzung im Rahmen der Klientel-, Patronage-, Auftrags- und Verwandtensysteme in relativer Nähe zur Macht standen.

Die Selbstdefinition Europas als Christliche Republik in einer Welt voller Heiden und Ungläubigen wurde im 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der so genannten Glaubensspaltung, sowohl von Katholiken als auch von Protestanten verwendet; sie überstand den Dreißigjährigen Krieg und fand sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in den europäischen Friedensverträgen. Die vom russischen Zaren, also einem orthodox-gläubigen Christen, 1815 auf dem Wiener Kongress initiierte Heilige Allianz (zunächst zwischen dem katholischen Österreich, dem orthodoxen Russland und dem protestantischen Preußen gegen Frankreich geschlossen, später dann aber gerade um Frankreich erweitert) modernisierte das Konzept von Europas Identität als einer Christlichen Republik ein letztes Mal.

Europäische Kultur der Aufklärung

In der Zwischenzeit hatte infolge der Neudefinition des Kulturbegriffs in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Gleichsetzung europäischer Identität mit "europäischer Kultur" immer mehr Anhänger gewonnen. Der erwähnte europäische Demos der Frühen Neuzeit wurde im Lauf der Zeit durch Bürger, "Freiberufler" und "Intellektuelle" angereichert, soziale Gruppen, die Teil des europäischen Kommunikationsnetzwerkes im Zeitalter der Aufklärung waren oder wurden. Seit der Aufklärung waren es die durch ihre Interessenlage kommunikativ, sozial und ökonomisch miteinander verflochtenen gesellschaftlichen Gruppen, welche die Aufklärung in ihren vielen Facetten trugen, die sich durch die typische Geselligkeit der Aufklärung auszeichneten und die ein der Selbstdefinition als "europäisch" bedürfendes grenzüberschreitendes Kollektiv bildeten. Dieses europäische Kollektiv kann als Demos der Aufklärung bezeichnet werden.

Es ist kein Zufall, dass die Strukturveränderungen des europäischen Kollektivs, das an einer Selbstdefinition Interesse besaß - vom Demos der Frühen Neuzeit hin zu jenem der Aufklärung -, vor allem seit dem 18. Jahrhundert mit der Vorstellung von "europäischer Kultur" als europäischer Identität zusammenhingen. Als Identitätsemblem wurde vornehmlich die Europa als Erdteilallegorie verwendet. Sie wurde mit einer Unzahl von Attributen ausgestattet, welche die als wesentlich erachteten Errungenschaften der europäischen Kultur darstellten. Die Attribute der Europa materialisierten, was man sich unter "europäischer Kultur" im Einzelnen vorstellte: Kunst, Wissenschaft, Gelehrsamkeit, Kriegskunst, die Expansion in überseeische Gebiete, der natürliche Reichtum, Christlichkeit, auch das politische System, und vieles anderes mehr.

Europas Kultur im Sinne europäischer Identität wurde in den zahlreichen Kulturgeschichten der Epoche von Johann Christoph Adelung über Gottfried Herder und Immanuel Kant bis Voltaire dargelegt. Zumeist wurde die Entwicklung der europäischen Kultur in die Geschichte der Menschheit eingebettet, was eine gute Gelegenheit bot, Europas Überlegenheit im Kulturvergleich auszuweisen. Gemeinsam ist den Kulturgeschichten, dass sie erstmals eine zusammenhängende Geschichte Europas schufen, in der die transnationalen und nationalgeschichtlichen Elemente in einer systematischen Darstellung im Zusammenhang gesehen wurden.

Der Demos der Frühen Neuzeit und der Demos der Aufklärung stellten trotz ihrer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung begrenzten sozialen Basis etwas dar, was als europäischer Demos bezeichnet werden kann. Kriterien sind die europäische Vernetzung, die aktive Teilhabe an den richtungweisenden Diskursen, gemeinsame politische Grundansichten, gemeinsame Auffassungen über Europa, ein gemeinsames Interesse an der Selbstdefinition über Europa, ein gemeinsames Identitätsemblem. Im Gegensatz zum Demosbegriff in demokratischen Staatswesen, wie wir ihn heute verwenden, besaß die Mehrzahl der Mitglieder beider historisch aufeinander folgender Demoi keine direkten und formal abgesicherten politischen Mitbestimmungsrechte - was nicht bedeuten muss, dass es ihnen an politischem Einfluss gefehlt hätte; man denke nur an die wichtigsten Aufklärer.

Schon in der Aufklärung hatte sich das Ende der frühneuzeitlichen Einigkeiten angekündigt. Dieses Ende fällt dann in die Epoche der Französischen Revolution in Europa. Das bezieht sich auf alle oben genannten Kriterien, auf denen die Bestimmung der beiden frühneuzeitlichen europäischen Demoi basiert. Seit der Revolution lassen sich diese Kriterien auf eine ganze Reihe soziopolitisch charakterisierbarer, europäisch vernetzter Gruppen anwenden, die oftmals in Konkurrenz zueinander standen, eine Konkurrenz, die nicht selten in bewaffnete Konflikte mündete. Wir haben es mit europäischen Kollektiven zu tun, die Europas Identität unterschiedlich definierten: (1) die dem Legitimitätsprinzip folgenden Monarchen, die bis zu einem gewissen Grade das frühneuzeitliche Kollektiv des europäischen Demos' fortführten - ihre europäische Identität wird mit dem Begriff der Heiligen Allianz ausgedrückt; (2) das liberale Bürgertum, das den politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Liberalismus zur europäischen Identität machte; (3) die Demokraten und oftmals mit diesen die republikanischen Geheimbündler und die Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts, die ausgehend vom Grundgedanken der Brüderlichkeit der politisch emanzipierten europäischen Völker (Nationen) die Identität Europas in den angestrebten Vereinigten Staaten von Europa erkannten; (4) im Verlauf des 19. Jahrhunderts kristallisierten sich weitere europäische Kollektive mit ganz anderen Zielsetzungen heraus: die Arbeiterschaft, die "Intellektuellen", die "Kapitalisten" (europaweit tätige Unternehmer und Bankiers), die (zumeist universitären) Wissenschaftler.

Obwohl die Trennungslinien unscharf waren - ein im 19. Jahrhundert berühmter Autor wie Conrad von Schmidt-Phiseldek verband Heilige Allianz und Vereinigte Staaten von Europa -, vermehrten sich innereuropäische Exklusionen, insbesondere in Richtung Osteuropa und Balkan (ausgenommen Griechenland), und die jeweiligen Zielsetzungen klafften immer weiter auseinander. Anders als zu Zeiten des europäischen Demos der Frühen Neuzeit und des Demos der Aufklärung war Europa für sich kein gemeinsames Ziel mehr. Übrig geblieben waren Vorstellungen von europäischer Kultur, die im Zeitalter der Weltausstellungen gelegentlich noch einmal durch die Verwendung der Europafigur (als Erdteilallegorie) wie etwa auf der Pariser Weltausstellung von 1878 visualisiert wurden. In den Diskursen der verschiedenen europäischen Kollektive hielten sich zumindest im Hinblick auf eine kulturelle Identität gewisse Schnittmengen, allerdings bedrängten rassistische Geschichtskonzeptionen nun zunehmend die in der Aufklärungsepoche entwickelte Vorstellung von einer kulturellen europäischen Identität.

Europäisten im 20. Jahrhundert

Aus Angst vor dem politischen, ökonomischen und kulturellen Untergang Europas bildete sich nach dem Ersten Weltkrieg in Gestalt der verschiedenen Europabewegungen und -interessengruppen ein neues europäisches Kollektiv, das der Europäisten. Viele Schriftsteller zählten dazu, nicht zuletzt Thomas Mann. Mit den Europabewegungen und -interessengruppen der Zwischenkriegszeit (1918 - 1939) wurden deutlich mehr Menschen in die Europadebatte einbezogen und aufgefordert, über die eigene europäische Identität nachzudenken und für deren Erhalt zu wirken. Die Bewegungen vernetzten auch die Politik (Parteien, Regierungen) mit sehr unterschiedlichen Interessen- und Sozialgruppen. Bedeutsam bleibt, dass die Widerstandsgruppen des Zweiten Weltkriegs und die Föderalisten der 1940er und 1950er Jahre an die Europäisten der Zwischenkriegszeit anknüpften und deren Weg fortsetzten.

Geradlinig verlief die Entstehung dieses neuen europäischen Kollektivs nicht: Die Europäisten der Zwischenkriegs- und der Kriegszeit stammten aus einem sehr breiten politischen Spektrum, von sozialistisch bis rechtskonservativ. Dieses umfasste den politischen Katholizismus ebenso wie den politischen Protestantismus, in der Zwischenkriegszeit auch jüdische Intellektuelle. Am rechten Rand bestanden anfangs keine klaren Grenzziehungen zu Antidemokraten, Faschisten, Falangisten und Nationalsozialisten. Vor allem die Nationalsozialisten entwickelten aus propagandistischen und machtstrategischen Erwägungen heraus Europakonzepte - die gemessen an den Traditionen von Europakonzepten allerdings als antieuropäisch zu charakterisieren sind -, die in Deutschland selbst sowie bei den zahllosen Kollaborateuren in Europa und bei den deutschen und nicht-deutschen Kämpfern in der Waffen-SS nicht ohne Wirkung blieben. Einzelne Funktionsträger der Nationalsozialisten wie Baldur von Schirach mit seinem Europäischen Jugendverband, dessen Gründungskongress vom 14. bis zum 18. September 1942 in Wien stattfand, versuchten, die Grundlagen für ein europäisch-nationalsozialistisches Kollektiv zu schaffen, doch wurde dies nicht zuletzt von Hitler selbst unterbunden, da jede Form von Vernetzung auch die Teilung von Herrschaft erfordert und keine unumschränkte Herrschaft, wie Hitler sie verfolgte, zugelassen hätte.

Die Europäisten im europäischen Widerstand stellten kein homogenes europäisches Kollektiv dar, doch bauten sie unter Lebensgefahr Vernetzungsstrukturen auf und diskutierten Fragen eines künftigen, einigen Europas. Im Vergleich zu der Zeitspanne, die von den Revolutionen von 1848 - diese Revolutionen hatten aufgrund ihres Kausalzusammenhanges eine starke europäische Komponente, führten aber im Endeffekt zu mehr Nationalismus - bis in den Zweiten Weltkrieg reicht, gelang den Mitgliedern der Widerstandsgruppen - ob nun in Frankreich, Italien, Deutschland, dem Londoner Exil, in Genf oder anderswo - eine Überbrückung der weltanschaulichen Differenzen. Selbst ein Teil des kommunistischen Widerstandes nahm für rund drei Jahre an dieser Überbrückung der Gegensätze teil. Auch wenn nach dem Krieg kein europäischer Bundesstaat entstand und Europa ideologisch in zwei Blöcke geteilt wurde, blieb die Überbrückungs- und Vernetzungsleistung des Widerstandes eine historische. Sie bestand unter anderem darin, gegenüber einem rund 150-jährigen Prozess zunehmender Enteinung und Konflikteskalation in Europa eine Alternative aufgezeigt und diese im Rahmen der eng begrenzten Möglichkeiten des Agierens und Lebens im Untergrund oder in der Haft praktiziert zu haben.

Der Europäismus der Nachkriegszeit gründete im Wesentlichen auf den Europäismus des Widerstands, aber er erreichte immer breitere Kreise in Politik, Wirtschaft, Kultur und bei den Kirchen. Die führende Rolle von Sozialisten bzw. Sozialdemokraten sowie Christdemokraten, nicht zu vergessen die Liberalen, bei der Formulierung von Europakonzepten im Widerstand während des Zweiten Weltkriegs unterstützte die Verankerung des Europäismus bei den Volksparteien in der Nachkriegszeit. Gegenüber der Zwischenkriegszeit konnten neue soziale Schichten für das Ziel der europäischen Einheit und Einigung gewonnen werden. Ungeachtet der Differenzen, wie diese Einheit genau aussehen sollte, entwickelten sich wieder Bedingungen, wie sie zur Zeit des europäischen Demos der Frühen Neuzeit und des Demos der Aufklärung gegolten hatten: Europa selber als Ziel, als europäisches Kollektiv, das seine Identität mittels Europa definiert. Angestoßen durch den Europarat wurde schließlich ein Identitätsemblem geschaffen, die allseits bekannte Europaflagge mit zwölf goldenen Sternen, im Kreis auf blauem Grund angeordnet. Allen religiösen Konnotationen, die mit der Zahl Zwölf verbunden werden, sind von Seiten des Europarats wie der EU, die das Emblem übernommen hat, offiziell immer Absagen erteilt worden; das Emblem symbolisiere Einheit und Harmonie. Wie dem auch sei, es handelt sich heute um das einzige Identitätsemblem, das sich gegen alle anderen Vorschläge durchgesetzt hat.

Diese Entwicklung beschränkte sich zwischen 1945 und 1989 im Wesentlichen auf die demokratischen europäischen Länder. Aber auch im Ostblock überlebte der Europagedanke und formierten sich Personennetzwerke. Vor allem die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wirkte sich in dieser Beziehung positiv aus. Als 1989/90 die Zeitenwende eintrat, musste die Vereinigung des Kontinents im Zeichen der Demokratie keineswegs bei Null ansetzen.

Europäische Identität im 21. Jahrhundert

Was "lehrt" uns diese recht kurze "Geschichte europäischer Identität"? Ich habe die transnationalen und staatenübergreifenden historischen Etappen herausgestellt. Die Detailbetrachtung ergab, dass wir es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder mit einem Phänomen zu tun haben, das mit Recht als "europäischer Demos" bezeichnet werden kann. Im historischen Vergleich existiert auch heute ein europäischer Demos, selbst wenn die Kritiker bestimmte Bedingungen hierfür nicht erfüllt sehen. So wird das - vermeintliche? - Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit beklagt. Ferner sei eine europäische Staatsbürgerschaft mehr oder weniger unverbindlich, da die national definierte Staatsbürgerschaft die maßgebliche und entscheidende geblieben sei. Im historischen Vergleich haben wir heute nicht weniger europäischen Demos als zu früheren Zeiten, nachdem er zwischendurch - im 19. und frühen 20. Jahrhundert - beinahe verlorengegangen war. Die Forderung von Jacques Delors, Europa eine "Seele" zu geben, findet hier ihren Anknüpfungspunkt, denn er zielte ja auf die Europäerinnen und Europäer, auf den europäischen Demos.

Was kann der Kern der künftigen europäischen Identität des europäischen Demos sein - nach der "Christlichen Republik" in der Frühen Neuzeit und der "Kultur" mit und seit der Aufklärung? In der Zwischenkriegszeit, im Widerstand im Zweiten Weltkrieg sowie im Zuge der Europäischen Integration seit 1945 wurden die Weichen in Richtung einer großen, letztlich staatlichen europäischen Gemeinschaft gestellt. Die Grenzen dieser Zielsetzung werden immer wieder durch die Nationalstaaten Europas aufgezeigt. Staatlich und verfassungstypologisch stellt die EU ein schwer fassbares Etwas dar, mit dem man sich ebenso schwer identifizieren kann. Infolgedessen wandte sich die Identitätspolitik der EU, die im Prinzip seit 1973 betrieben wird, vermehrt den angenommenen Gemeinsamkeiten in der europäischen Geschichte und Kultur, dem so genannten kulturellen Erbe, der Förderung der Bildung eines europäischen Gedächtnisses sowie der Formulierung und Propagierung gemeinsamer Werte zu.

Genau genommen wird Europas Identität neuerlich in "Europäischer Kultur" gesehen, wobei der Kulturbegriff gegenüber der Aufklärungsepoche eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Kultur wird heute in Anknüpfung an Max Weber semiotisch definiert: Unter Kultur wird all das verstanden, was die Sinngebungen, die Herstellung von Sinn und Bedeutung, und Zielsetzungen bestimmter menschlicher Gemeinschaften symbolisch ausdrückt. Dieser Kulturbegriff ist sehr offen gefasst, er setzt weniger auf Einheit und Einigkeit überall, sondern lässt Vielfalt zu, sofern Kohärenzen geschaffen werden. Darum geht es - um Kohärenz in der Vielfalt, weniger, sehr viel weniger um Einheit in der Vielfalt, wie es das Motto der EU etwas unpassend ausdrückt.

Kohärenz stellt zweifellos eine Möglichkeit, eine Realisierungsform von Identität dar. Vielfalt als das Eigentliche Europas akzeptieren, soviel Kohärenz wie irgend möglich erzeugen, soviel Einheit wie nötig suchen - in diesem Dreieck wird sich die europäische Identität des werdenden europäischen Demos Gestalt geben. Zu unterstreichen ist für die Gegenwart der Praxisbezug, die Realisierung von europäischer Identität: Sowohl die Christliche Republik wie Europa als Kultur (im Sinne der Aufklärung) waren Imaginationen geblieben und konnten es bleiben. Die EU als Rahmen und ggf. als Ausdruck europäischer Identität ist hingegen praxeologisch (rational und entscheidungslogisch) zu betrachten: Sie stellt einen realen Praxisrahmen dar, innerhalb dessen Vielfalt und Kohärenz realisiert werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003; Original: Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003.

  2. Das Kürzel wird im Folgenden auch dort benutzt, wo die Vorgängerinnen EG und EWG gemeint sind.

  3. Vgl. zum Folgenden Wolfgang Schmale, Eckpunkte einer Geschichte Europäischer Identität, in: Julian Nida-Rümelin/Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007.

  4. Vgl. zu Schmidt-Phiseldek Winfried Schulze/Gerd Helm, Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldek (1770 - 1832), in: Heinz Duchhardt/Ma?gorzata Morawiec/Wolfgang Schmale/Winfried Schulze (Hrsg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Bd. 1, Göttingen 2006.

  5. Diese und andere Erdteilallegorien sind auf dem Vorplatz des Musée d'Orsay in Paris aufgestellt.

  6. Vgl. als Modellstudie Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004.

  7. Die beste Dokumentation ist zu finden bei Walter Lipgens (Hrsg.), Documents on the History of European Integration. Vol. 1: Continental Plans for European Union 1939 - 1945, Berlin-New York 1985.

  8. Vgl. dazu Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen Institution, Frankfurt/M. 1999.

Dr. phil., geb. 1956; Ordentlicher Universitätsprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger-Ring 1, 1010 Wien/Österreich.
E-Mail: E-Mail Link: wolfgang.schmale@univie.ac.at