Einleitung
Die Bildung von Nationalstaaten war und ist auf das Engste verbunden mit der Konstruktion einer möglichst homogenen und stolzen Vergangenheit, die sich in den Tiefen der Urzeit verliert. Dieser Zusammenhang ist durchaus kein Phänomen der Moderne.
Und doch bestreiten die meisten Nationalismusforscher heute nicht, dass der Nationsdiskurs mit der amerikanischen und französischen Doppelrevolution Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität gewann. In der europäischen "Sattelzeit" (Reinhart Koselleck) am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gaben eine Reihe von Faktoren der Nation neues Gewicht: Bessere und schnellere Kommunikationsstrukturen und Transportverbindungen ermöglichten eine Massenmobilisierung in ganz neuem Umfang. Die Industrialisierung, Säkularisierung und der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft boten dem Nationsdiskurs einen neuen Referenzrahmen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Schulpflicht, der Buchdruck und die Ideen des Liberalismus ließen den Nationsbegriff in neuem Licht erscheinen. Die Nation wurde zunehmend sakralisiert, und der Nationsbegriff verband sich mit politischen Partizipationsforderungen des Bürgertums und unterer sozialer Schichten.
Der Übergang zur Moderne sieht nicht nur die Revolutionierung des Nationsdiskurses, sondern auch die Etablierung der Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, die den Historikern wiederum einen privilegierten Zugang zur Interpretation der Vergangenheit erlaubte. Dieser Anspruch erlaubte es professionellen Historikern, sich als Gralshüter der Nation zu stilisieren. Natürlich waren ihre umfänglichen wissenschaftlichen Werke nicht unbedingt massenwirksam. Bis heute schreiben Historikerinnen und Historiker weitgehend für Kollegen und Studierende, und nur wenige erreichen ein historisch aufgeschlossenes Laienpublikum. Aber Historiker waren eben immer auch als Redenschreiber, Redner und Journalisten tätig und erlangten so eine Scharnierfunktion zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik.
Insgesamt war eine national orientierte Geschichtswissenschaft immer dort besonders wichtig, wo es eine starke Korrelation zur Instabilität bzw. Unsicherheit nationaler Diskurse gab. Je ungewisser die nationale Identität, desto notwendiger schien die Vergewisserung der nationalen Vergangenheit und desto bedeutsamer war die Geschichtswissenschaft. Im Großbritannien des 19. und frühen 20.Jahrhunderts bildeten Protestantismus, Imperialismus, das Meer und die splendid isolation sowie die Abgrenzung von mächtigen Kontinentalstaaten (Frankreich, Deutschland) die Folie für einen extrem stabilen und kaum hinterfragten Nationsdiskurs. Die Geschichtswissenschaft entwickelte sich spät und wurde nie zur Leitwissenschaft. Debatten um die nationale Vergangenheit blieben peripher. Eine kaum hinterfragte Whig historiography bestimmte die meisten nationalen Narrative.
War also die Geschichtsschreibung als Gralshüterin der Nation nicht überall in gleichem Maße gefragt, so fand man doch im Verlauf des 19. Jahrhunderts in nahezu jedem Winkel Europas Bemühungen um eine Funktionalisierung der Nationalgeschichte im Sinne bestehender oder noch zu schaffender Nationalstaaten. Von staatlicher Seite propagierte Nationalgeschichten waren in noch jungen Nationalstaaten, etwa in Deutschland, Italien oder auch Norwegen, besonders beliebt. Als im Jahre 1811 die neue Universität von Oslo gegründet wurde, gab es dort nur 18 Professoren, von denen allerdings gleich zwei Geschichtsprofessoren (mit dem Schwerpunkt norwegische Geschichte) waren.
Die unterschiedlichen Professionalisierungsgrade der Geschichtswissenschaft in Europa hatten wichtige Auswirkungen auf das spezifische Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Propagierung der Nationsidee. Die frühe Professionalisierung in Deutschland bedeutete gleichzeitig Politikferne und Staatsnähe, während die relativ späte Professionalisierung auf dem Balkan umgekehrt Politiknähe und Staatsferne (gegenüber dem imperialen Staat) produzierte. Politiker waren hier oft die ersten Historiker, da sie in der Funktionalisierung der Historie eine wichtige Waffe für ihre politischen Forderungen nach Errichtung einer eigenen Nation fanden. Eine Überlappung von Historiker- und Politikerkarrieren findet sich im 19. Jahrhundert auch in den westlichen Nationen, besonders in Frankreich. Doch mit zunehmender Professionalisierung wurden diese Karrieresprünge seltener.
Deutlichstes Zeichen der Verwissenschaftlichung der Nationalgeschichte waren die Regale füllenden Sammlungen von Quellen und Dokumenten, die in vielen europäischen Ländern des 19. Jahrhunderts erschienen, oftmals nach dem Modell der deutschen "Monumenta Germaniae Historica". Institutionenbildung führte zur Errichtung von historischen Seminaren an Universitäten sowie von nationalen Archiven und Akademien. Die wissenschaftliche Konferenz mauserte sich zum Forum für den wissenschaftlichen Austausch. Die Fußnote wurde zum Ausweis, das historische Seminar zum Labor wissenschaftlichen Arbeitens. Je wissenschaftlicher sich Klio präsentierte, um so größer wurde die Spannung zwischen Historikern als Propheten der Nation und Historikern als transnationale Gemeinschaft von Fachleuten, die um Objektivität bemüht waren in ihren Versuchen, die Vergangenheit so erzählen, "wie es eigentlich gewesen" (Leopold von Ranke).
Ingredienzen der Nationalgeschichte
Sieht man sich die Nationalgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts näher an, wie es beispielsweise das von der European Science Foundation zwischen 2003 und 2008 geförderte Projekt "Representations of the Past: The Writing of National Histories in 19th and 20th Century Europe" (NHIST)
Nicht nur die Anfänge waren für die Nationalgeschichte ein Problem. Auch ihr Ende war schwer greifbar, muss Geschichte doch offen bleiben. Je nach Standpunkt und Gegenwartsperspektive nahmen die Nationalgeschichten unterschiedliche Prognosen für den Fortgang der Geschichte vor: Mahnung vor drohendem Abstieg, triumphalistische Selbstbestätigung, Selbstzweifel und Aufruf zur Sammlung von nationalen Kräften - die Strategien unterschieden sich, doch die Zukunftsperspektive war wichtiger Bestandteil aller Nationalgeschichten und ruhte in ihren Erzählstrategien und -strängen. Für letztere war auch die zeitliche Gestaltung von Nationalgeschichte wichtig. Buchzeit war durchaus nicht gleichbedeutend mir "Realzeit". Manche Jahre, Jahrzehnte oder gar Wochen erhielten eigene Kapitel, während über Jahrhunderte mit einigen Sätzen hinweggegangen wurde. Diese temporale Dimensionierung von Nationalgeschichte gab ihr eine je eigene Färbung.
In der langen Mitte von Nationalgeschichten zwischen problematischen Anfängen und divergierenden Zukunftsperspektiven entwickeln Historiker ein Panorama von Nationalhelden,
Das Denken in Lebensphasen verband sich häufig mit der Betonung von Genderperspektiven, besonders der Vorstellung von der Nation als Familie, in der Männer und Frauen, Jungen und Mädchen unterschiedliche, aber durchaus komplementäre Funktionen erfüllten.
Die Nationalhistoriker ließen ihre Vorstellung einer Genderordnung nicht nur in ihre Geschichten einfließen, sie beschrieben auch die eigene Arbeit in geschlechtsspezifischer Manier. So bezeichneten sie etwa Quellen als "Prinzessinnen", Archive wurden zu "Geliebten", und so mancher Historiker schenkte seiner Verlobten eher seine letzten Sonderdrucke als Blumen. Thomas Babington Macauley sagte es deutlich: Seine Geschichten waren nicht für Höhere Töchterschulen geschrieben, sondern sollten neue "Schulen für Männer" begründen. Während die Nationalgeschichten der größeren Nationen Europas häufig mehr in sich und der eigenen Entwicklung ruhen, trifft man bei den kleineren Nationen Europas eine Selbststilisierung als Mittlerin zwischen größeren Nationen oder als kosmopolitischer Treffpunkt verschiedener nationaler Traditionen an. Die belgische Nationalgeschichte bietet hierfür ein hervorragendes Beispiel.
War die Nationalgeschichte im Zeitalter der Aufklärung vor allem Universalgeschichte, und suchte man in der nationalen Entwicklung allgemeinere Prinzipien der Menschheitsentwicklung aufzuzeigen, so war die romantische Nationalgeschichte geradezu obsessiv darum bemüht, das spezifisch Eigene der nationalen Entwicklung von dem jeweils Anderen und Fremden abzugrenzen. Erst jetzt rückte die Frage nach der Authentizität von Sprache, Literatur und Kultur in den Mittelpunkt der Untersuchung. Es begann die Zeit der Konstruktion nationaler Sonderwege in Europa. Die Verwissenschaftlichungsprozesse im 19. Jahrhundert führten zur Dekonstruktion der romantischen Nationalgeschichte durch nachfolgende Historikergenerationen, die wissenschaftlicher arbeiteten, aber meist nicht weniger nationalistisch waren in ihren Perspektiven auf die Nationalgeschichte.
Ideologische und territoriale Gegenkonzepte
Nationalhistoriker waren mit dem Problem konfrontiert, wie sie ihre nationalen Narrative gegenüber anderen Meistererzählungen, vor allem denen der Ethnizität, Rasse, Religion und Klasse, situierten.
Obwohl Kirchengeschichte in vielen Staaten Europas eine wichtige Stellung innerhalb der Geschichtswissenschaft einnahm, wurde sie nicht zu einer ernsthaften Rivalin der Nationalgeschichte. Mit der Sakralisierung der Nation im 19. Jahrhundert ging die Nationalisierung religiöser Narrative einher. So wurde etwa in Ländern wie Polen das Leiden der eigenen Nation christlich überhöht (Polen als "Christus unter den Nationen"), während in anderen Ländern eine bestimmte Konfession mit dem spezifischen Charakter der Nation eine symbiotische Beziehung einging (Lutheranischer Glaube in Schweden; Katholizismus in Spanien; Orthodoxie in Rumänien und Russland). Die Befreiung bzw. der Schutz Europas vor nicht-christlichen Religionen wurde zum wesentlichen Sendungsgedanken diverser europäischer Nationalgeschichten (z.B. die Reconquista als religiös-nationale Aufgabe Spaniens). Zwar bedeutete eine liberal-demokratische Nationalgeschichte durchaus eine säkulare Herausforderung für die Religion, und liberale Historiker vollzogen den formellen Bruch mit der organisierten Religion (sehr viel stärker im katholischen als im protestantischen Europa). Aber dennoch: Charakteristisch blieb in weiten Teilen Europas die Einverleibung religiöser Motive in nationale Meistererzählungen.
Die Klassengeschichtsschreibung entstand im 19. Jahrhundert vor allem im Umfeld der Arbeiterbewegungsgeschichte. Hier waren es meist keine professionellen Historiker, sondern Autodidakten wie Eduard Bernstein in Deutschland, Robert Grimm in der Schweiz oder Jean Jaurès in Frankreich, die eine stark politisch funktionalisierte Form der Nationalgeschichte vorlegten. Der zunehmenden Nationalisierung der Arbeiterbewegung Europas entsprach die Nationalisierung der Klassengeschichte, die sich um eine historische Integration der Arbeiter in die Nation bemühte. Sie tat dies, indem sie sich das Streben nationaler Narrative nach innerer Homogenität zunutze machte, um soziale Konfliktlinien innerhalb der Nation als sichtbarstes Zeichen, dass die Nation innerlich unvollendet blieb, zu brandmarken. Auch die Revolutionsgeschichte Europas wurde zunehmend als Nationalgeschichte konzipiert: 1789, 1848 und 1917 wurden zu den jeweiligen Grundpfeilern nationaler Narrative in Frankreich, Zentraleuropa und der Sowjetunion. Eine transnationale Klassengeschichtsschreibung wurde im 20. Jahrhundert nur ansatzweise entwickelt, so etwa am 1935 in Amsterdam gegründeten Internationalen Institut für Sozialgeschichte.
Nun gab es potentiell nicht nur ideologische Gegenkonzepte zur Nation. Auch territoriale Alternativen waren vorhanden. Noch im 18. Jahrhundert gab es mehr Regional- und europäische Geschichten als Nationalgeschichten. Die sich im 19. Jahrhundert immer stärker in den Vordergrund drängenden nationalen Narrative mussten sich gegenüber rivalisierenden räumlichen Identitätsdiskursen situieren.
Unter den Territorialitätskonstruktionen des 19. Jahrhunderts war die der Nation mit Abstand die erfolgreichste. Im Zuge des Imperialismus verbreiteten sich europäische Nationsbegriffe über die ganze Welt, wobei sie oftmals mit indigenen Identitätskonstruktionen territorialer und ideologischer Art konfrontiert wurden. Adaptiert, zurückgewiesen und verändert, blieb die Nation doch der zentrale Referenzrahmen der postkolonialistischen Welt, und die Geschichtsschreibung auf allen fünf Kontinenten verschrieb sich der Propagierung nationaler Narrative.
Ein konstitutives Merkmal von Nation waren feste Grenzen, aber diese blieben vielerorts in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts stark umstritten. Nationalgeschichten waren daher auch immer Geschichten um Grenzkonflikte und Grenzregionen. Gerade weil die Nation an den Grenzen gestärkt werden musste, konzentrierten sich die Historiker darauf, Grenzverläufe entweder zu rechtfertigen oder in Frage zu stellen und Grenzregionen für die eigene Nationalgeschichte zu vereinnahmen.
Da die Grenzverläufe in Westeuropa nach dem Wiener Kongress von 1815 relativ stabil blieben und kaum in Frage gestellt wurden, war dieses Thema in Mittel- und Osteuropa von ungleich größerer Bedeutung. Sich überlappende Nationalgeschichten und Territorien, die für mehr als eine nationale Meistererzählung zentrale Bedeutung hatten, waren hier an der Tagesordnung. Die Konkurrenz um territoriale Vereinnahmung war umso größer, als die Historiker in Mittel- und Osteuropa ihre Nationalgeschichten, anders als in Westeuropa, oftmals nicht an eine lange Geschichte von Staatlichkeit und staatlichen Institutionen hängen konnten. Die Dominanz von Imperien in Mittel- und Osteuropa stellte für die Nationalgeschichte ein Problem des Fluchtpunktes dar. Konnte man Nationalgeschichte nicht anhand von staatlichen Institutionen und Herrschern erzählen, so blieb nur der Fluchtpunkt des Volkes, der Volkssprache und der Volkskultur. Nicht von ungefähr gingen den Nationalhistorikern hier die Grammatiker, Volkskundler und Märchensammler voran.
Der Kampf der Historiker um Grenzen und Grenzverläufe erreichte in der Zwischenkriegszeit seinen Höhepunkt. Durch die in den Friedensverträgen von 1919 festgelegten Grenzverläufe sollte das nationalstaatliche Souveränitätsprinzip auch in Osteuropa seine endgültige Durchsetzung finden. Die komplexe ethnische Durchmischung vieler Regionen bedeutete aber, dass unweigerlich ethnische Minderheiten ihnen "fremden" Nationalstaaten zugeschlagen wurden, obwohl ihre identitäre Loyalität anderen Nationalstaaten gehörte. Besonders in den im Ersten Weltkrieg unterlegenen Staaten wie Deutschland oder Ungarn kam es in der Folgezeit zu einer Geschichtsschreibung, die sich darum bemühte, Argumente für eine Grenzverschiebung unter Verweis auf ethnische und kulturelle Eigenarten von Bevölkerungen zu liefern.
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs trugen Historiker dann eine unmittelbare Mitverantwortung für "ethnische Säuberungen" und Völkermord, machten sie sich doch zu willigen Vollstreckern der Machthaber, die solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Verweis auf historische Argumente gerechtfertigt sehen wollten. Die intensive Rivalität von Nationalgeschichten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man exemplarisch im Baltikum, auf dem Balkan oder auch an der deutsch-polnischen und der ungarisch-rumänischen Grenzregion anschaulich machen.
Renaissance der Nationalgeschichte
Betrachtet man in groben Umrissen die Entwicklung der Nationalgeschichte in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, so wird man von einer Unterschätzung der nationalen Meistererzählungen auch im 21. Jahrhundert abraten müssen. Nicht nur entwickelten sie eine erstaunliche Fähigkeit, sich andere Meistererzählungen und "regimes of territoriality"
Doch die Renaissance nationaler Vergangenheitsdiskurse beschränkt sich durchaus nicht auf Osteuropa. Bereits in den 1980er Jahren kam es in vielen westeuropäischen Staaten in identitätsstiftender Absicht zu einer Wiederbelebung der Gattung Nationalgeschichte.
Liberale Nationalisten zeigen sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts davon überzeugt, dass es so etwas wie einen guten Patriotismus gibt, den man von seinem missratenen und engstirnigen Bruder, dem Nationalismus, scharf abgrenzen kann. Angesicht der Janusgesichtigkeit nationaler Narrative bleibt dies allerdings fraglich. Nationale Vergangenheitsdiskurse eignen sich vorzüglich, um Feindbildern Nahrung zu geben. Das Umkippen von Patriotismus in Nationalismus bleibt jederzeit eine Möglichkeit und Gefahr. Eines der wichtigsten Argumente liberaler Nationalisten besteht darin, dass jedes Gemeinwesen ein Minimum an Solidarität benötigt, um zu funktionieren. In modernen Staaten bietet die Nation eine solche Unterfütterung von Solidarität: Ohne den Referenzrahmen der Nation stellte sich die Frage, wieso Bürger Steuern zahlen oder sich sonstwie mit anderen solidarisch erklären sollten. Angesichts des Gefahrenpotentials nationaler Vergangenheitsdiskurse scheint mir jedoch die Idee Alan Megills einleuchtender, nach genuin politischen Projekten zu suchen, die solidarisches Handeln unterhalb von nationalen (oder anderen) Identitätsdiskursen einfordern.
Wenn man in dieser Weise die Nation als Identitätskitt "umschifft", wo bleibt dann die Nationalgeschichte? Zunächst einmal bestätigt es die Notwendigkeit eines selbstkritischen Nationsdiskurses, wie er sich in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge der Aufarbeitung von Faschismus, Völkermord und Kollaboration an vielen Orten in Westeuropa etablierte. Nationalgeschichte sollte dazu beitragen, die Konstruktionen positiver nationaler Vergangenheiten kritisch zu hinterfragen. Die Geschichte der Nation kann nicht mehr heller Leitstern der Geschichtswissenschaft sein, sondern eher eine dunkle Folie, vor der eine verstärkte Suche nach Alternativen zur Nationalgeschichte plausibel wird.
Seit den 1980er Jahren gibt es eine solche Suche nach Alternativen durchaus: Vergleichende Geschichte, Kulturtransfer, transnationale Geschichte, europäische Geschichte, außereuropäische Geschichte und die Geschichte der Imperien wurzeln in einer kritischen Aneignung der Nationalgeschichte. Letztere wird nicht zuletzt durch solche neuen methodischen und inhaltlichen Zugänge immer mehr zu einem zersprungenen Spiegel, in dessen Fragmenten sich ein kaleidoskopisches und nicht-essentialistisches Nationsverständnis spiegelt.
Der Versuch, Meistererzählungen als verbindlich festzulegen, führte immer wieder zu Gegenentwürfen. Oppositionelle, alternative Formen von Nationalgeschichte standen neben Formen von Geschichtsschreibung, welche die Nationalgeschichte nicht in den Mittelpunkt stellten. Nationalgeschichte als Infragestellung nationaler Identitätskonstruktionen könnte auch für die Geschichtswissenschaft von morgen ein lohnendes Betätigungsfeld sein.