Einleitung
Noch einmal die Frage, ob er sich wirklich sicher sei. Ja. Ob er dann bitte auf dem Bett nebenan Platz nehmen könne. Wortlos geht er in den anderen Raum und setzt sich auf die Bettkante: Ein alter Mann mit Hosenträgern, der sich, kaum dass man ihm den Becher reicht, das tödliche Medikament entschlossen in die Kehle kippt. Er hat seinen Willen bekommen: Gleich wird er einschlafen und in einer knappen halben Stunde werden sein Atem und sein Herz ihren Dienst versagen.
Paul Zögli ist einer von Hunderten, die sich jedes Jahr in der Schweiz bei ihrem Suizid helfen lassen.
In der Schweiz ist eine solche Praxis qua Gesetz erlaubt. So besagt Artikel 115 des Strafgesetzbuches, dass eine Suizidbeihilfe zulässig ist, wenn keine selbstsüchtigen Motive vorliegen. Die Freitodhilfeorganisationen achten in ihren Statuten darauf, dass ihnen ein solches Motiv nicht unterstellt werden kann, und müssen nachweisen, dass die erhobenen Mitgliedsbeiträge lediglich zur Unkostendeckung verwendet werden. Demzufolge sind sie keine zwielichtigen Einrichtungen, die sich am Rande der Legalität bewegen, sondern ein gesetzlich verankerter, kaum mehr wegzudenkender Bestandteil einer Gesellschaft, die dem Recht auf einen selbstbestimmten Tod einen hohen, unverbrüchlichen Stellenwert beimisst. So zählt die 1982 gegründete Organisation Exit 50 000 Mitglieder, von denen sich jährlich etwa 150 in ihren Freitod begleiten lassen. Die wesentlich jüngere Schwesterorganisation Dignitas erhielt bislang immerhin fast 5 000 Beitrittserklärungen - viele davon stammen aus dem Ausland. Anders als Exit begleitet diese 1998 durch Ludwig A. Minelli ins Leben gerufene Organisation auch Nichtschweizer in ihren Freitod - ein Angebot, dem Minelli im Spätsommer 2005 Nachdruck verlieh, indem er eine Dependance im niedersächsischen Hannover eröffnete.
Die Situation in Deutschland
Mit diesem Vorstoß hat der Rechtsanwalt und ehemalige Spiegel-Korrespondent zielsicher den Nerv der Deutschen getroffen - und das in einem doppelten Sinne. Einerseits stammt ein Drittel der Dignitas-Mitglieder aus der Bundesrepublik, was ein eindeutiges Zeichen für die immense Nachfrage ist, die hierzulande nach Suizidbeihilfe herrscht. Auf der anderen Seite sind wir Deutschen durch unsere nationalsozialistische Vergangenheit nach wie vor herausgefordert, einer gesellschaftlichen Unterstützung des Sterbens mit äußerster Vorsicht zu begegnen. Vor diesem Hintergrund wird häufig darauf verwiesen, dass eine solche Unterstützung, wenn sie missbraucht werde, über kurz oder lang zu einer Vernichtung "unwerten Lebens" führe, wie sie von den Nationalsozialisten praktiziert wurde.
Die gesamte Debatte krankt nun aber insbesondere dann an einer fatalen begrifflichen Unschärfe, wenn im Eifer des Gefechts die so genannte "Euthanasie" (griech. "schöner Tod") ins Feld geführt und zwischen den verschiedenen Formen der Sterbehilfe nicht immer sauber differenziert wird. So unterscheidet sich die Freitodhilfe ganz wesentlich von aktiver Sterbehilfe, wie sie in den Niederlanden und Belgien erlaubt ist. Unter aktiver Sterbehilfe versteht man eine Tötung auf Verlangen, das heißt die Tötung eines anderen Menschen aufgrund seines geäußerten oder mutmaßlichen Willens. Diese Praxis birgt insofern die Gefahr des Missbrauchs, als ein solcher Wille nicht immer zweifelsfrei vorliegt. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland durch die Paragraphen 216 ebenso verboten wie in der Schweiz durch den entsprechenden Artikel 114.
Um eine Beihilfe zur Selbsttötung dagegen handelt es sich dann, wenn der oder die Sterbewillige selbst die entscheidende, zum Tode führende Handlung vornimmt und die Beihilfe sich auf die Ermöglichung oder Erleichterung dieser Handlung beschränkt. Für eine solche Beihilfe gibt es im deutschen Strafgesetzbuch keine ausdrückliche Regelung, und infolgedessen ist sie grundsätzlich nicht verboten. Aufgrund des Paragraphen zur Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c) wären wir jedoch dazu verpflichtet, dem oder der Sterbenden sofort zu Hilfe zu eilen. Aus diesem Grund ist eine institutionelle Freitodhilfe hierzulande aus gesetzlicher Perspektive streng genommen nicht möglich.
Allerdings gab es einige Fälle, in denen deutsche Ärzte Suizidbeihilfe leisteten und dennoch nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Der Krebsarzt Julius Hackethal zum Beispiel war in den achtziger Jahren angeklagt, weil er seiner Patientin Hermine Eckert tödliches Kaliumcyanid besorgt hatte. Die Äußerung ihres Todeswunsches zeichnete Hackethal auf Video auf; das tödliche Medikament nahm Frau Eckert ein, als ihr Arzt sich in einem anderen Raum befand. In seinem Urteil bekundete das Münchener Oberlandesgericht, dass Hackethal lediglich straflose Suizidbeihilfe geleistet und sich keinesfalls, wie von der Staatsanwaltschaft behauptet, einer Tötung auf Verlangen schuldig gemacht habe. Darüber hinaus sei der Arzt nicht verpflichtet gewesen, seiner bewusstlosen Patientin zu helfen, da er ihr ein schnell wirkendes Mittel zur Verfügung gestellt hatte und deshalb davon ausgehen durfte, dass sie nicht mehr zu retten sei.
Im Sommer 2006, also ungefähr zwanzig Jahre nach dem spektakulären Hackethal-Fall und noch nicht einmal ein Jahr nach Eröffnung der Dignitas-Filiale in Hannover, sprach sich der Nationale Ethikrat dafür aus, dass Angehörige, Ärztinnen und Ärzte auch in Deutschland nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen, wenn sie bei Selbsttötungsversuchen schwerkranker Menschen, die diesen Versuch "aufgrund eines ernsthaft bedachten Entschlusses" unternommen haben, eine mögliche Rettung unterlassen.
In der Bevölkerung und den Medien finden solche Forderungen breite Unterstützung. In Würde sterben, so titelte der Stern im November 2006 und ließ "zwölf schwer kranke Menschen erzählen, weshalb sie dafür ins Ausland fahren müssen"
Wenn man diese Parallele weitertreibt, dann wäre es durchaus denkbar, dass die Freitodhilfe in Deutschland bald genauso legal sein wird, wie es die Abtreibung durch die gesetzlich verankerte Fristenlösung seit 1995 ist. Oder so legal wie die passive und indirekte Sterbehilfe, die in hiesigen Krankenhäusern immer wieder angewandt wird.
Wie objektiv sind die Kriterien für eine Freitodhilfe?
Die Frage nach den ethischen Prämissen und Konsequenzen einer Suizidbeihilfe wird vor dem Hintergrund dieser Entwicklung drängend: Darf ein Mensch, der für sich entscheidet, aus dem Leben gehen zu wollen, eine solche Hilfe überhaupt in Anspruch nehmen? Anders gefragt: Welche moralische Verantwortung tragen die Freitodbegleiterinnen und -begleiter? Kann ihre Arbeit als ein "humaner Akt" bezeichnet werden oder gerät eine Gesellschaft, die eine derartige Praxis toleriert, auf die schiefe Ebene? Um sich diesen Fragen zu nähern, ist es zunächst einmal notwendig, die genauen Kriterien für die Gewährleistung einer Freitodhilfe zu betrachten.
Die Akte, in der sich dieser Brief befindet, ist vorne mit einem roten Punkt versehen. Susanna Schönburg, die ihn geschrieben hat, ist also schon tot und ihre Akte geschlossen. Frau Schönburg ist einer der ersten und bislang wenigen psychisch kranken Menschen, die durch Exit bei ihrem Suizid unterstützt wurden. Aufgrund eines skandalträchtigen Falles im Jahre 1999 hatte die Organisation entschieden, nur bei eindeutig somatischen Leiden Suizidbeihilfe anzubieten. Im Herbst 2004 lockerte der Vorstand dieses selbst auferlegte Moratorium und beschloss, dass Menschen, die psychisch litten, in demselben Maß Anspruch auf eine Beihilfe hätten wie körperlich kranke Menschen.
Helfen lassen kann sich bei Exit jeder Mensch, der an einer "unzumutbaren Behinderung" leidet und einen "dauerhaften", "wohlerwogenen" und "autonomen" Sterbewunsch hat. Voraussetzung für eine Suizidassistenz ist folglich nicht eine unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheit, sondern lediglich eine Einschränkung des eigenen Lebens, die ein urteilsfähiger Mensch dauerhaft und ohne Einflüsse Dritter als unerträglich empfindet. Insofern versteht sich Exit auch nicht primär als eine Sterbehilfeorganisation, sondern als eine Freitodhilfeorganisation. Ihre Hilfe beschränkt sich nicht darauf, einen ohnehin schon eingeleiteten Prozess des Sterbens zu befördern, sondern einem Menschen, der unter Umständen noch Jahre leben könnte, bei seinem selbst gewählten Tod zu assistieren.
Doch was genau ist eine "unzumutbare Behinderung"? Ist dies in letzter Konsequenz ein subjektives Kriterium? Wenn tatsächlich die Meinung des Betroffenen ausschlaggebend ist - wie wäre dann eine Beihilfe zu rechtfertigen? Bedürfte es nicht eines Mindestmaßes an Objektivität, um moralische Integrität zu wahren?
Die Exit-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sind sich dieser prekären Situation durchaus bewusst. "Ich würde es für ethisch nicht verantwortbar halten", meint etwa Pressesprecher Andreas Blum, "wenn nicht zuerst abgeklärt würde, ob nicht irgendwo doch ein Ausweg aus einer fundamental-existenziellen Krise möglich ist." Exit gerate auf diesem Wege allerdings, so schränkt er ein, leicht in einen Selbstwiderspruch, denn "der zentrale Begriff für uns ist ja das Selbstbestimmungsrecht". Dieses Recht werde aber offensichtlich mit Füßen getreten, wenn man Kranke allzu sehr bevormunde und ihre subjektive Ausweglosigkeit infrage stelle. "Das mündet dann sehr schnell in eine Haltung der Bevormundung, in eine Art des gut gemeinten Paternalismus, der in fundamentalem Widerspruch steht zum Autonomieprinzip." Einerseits geht es darum, das Selbstbestimmungsrecht - und das heißt: die subjektive Einschätzung des eigenen Leidens - zu respektieren. Auf der anderen Seite jedoch muss geprüft werden, ob Alternativen zum Suizid existieren, ob Kranke ihre Lage tatsächlich realistisch und objektiv einschätzen.
Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit sieht die Organisation in einer gewissenhaften Überprüfung der oben genannten Bedingungen: Wenn Sterbewillige ihren Wunsch tatsächlich "dauerhaft", "wohlerwogen" und "autonom" vertreten, dann können sie auch beurteilen, ob ihre "Behinderung" tatsächlich "unzumutbar" ist. Ob diese Bedingungen erfüllt sind, wird durch ein oder mehrere ärztliche Gutachten, die über den körperlichen Zustand und die Urteilsfähigkeit der Betreffenden Auskunft geben, sowie durch ein obligatorisches "Erstgespräch" zwischen dem oder der Sterbewilligen und einem Exit-Mitarbeiter oder einer-Mitarbeiterin festgestellt. In diesem Gespräch müssen Antragstellerinnen und Antragssteller die Gründe für ihre Entscheidung und ihre derzeitige Situation darlegen.
Auch psychisch kranke Menschen, meint Blum, hätten mitunter dauerhafte, wohlerwogene und autonome Sterbewünsche. Natürlich gebe es Todeswünsche, die ein Symptom, ein direkter Ausfluss der psychischen Krankheit seien. Doch das sei längst nicht immer der Fall, wie wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt hätten. Auch Dr. Norbert Mayer, der das psychiatrische Gutachten über Susanna Schönburg schrieb und ihr das Rezept für das Natrium-Pentobarbital ausstellte, befürwortet die Begleitung psychisch Kranker. Unsere Gesellschaft, sagt er, rücke den funktionierenden Menschen in den Vordergrund und akzeptiere landläufig eher die Aggression als die Depression. Der Suizid sei nach wie vor tabuisiert, was dazu führe, dass Menschen ihre Todeswünsche verheimlichten. Er selbst versuche dagegen immer, Gespräche über Suizidalität zuzulassen, ohne direkt mit einer Einweisung zu drohen - was interessanterweise dazu führe, dass Männer wie Frauen oft von sich aus von ihrem Wunsch zurückträten. Dennoch gebe es Fälle, in denen der Todeswunsch trotz zahlreicher Gespräche bestehen bleibe. So sei es "einfach eine Tatsache, dass auch Menschen mit psychischen Störungen durchaus als unheilbar bezeichnet werden können." Sie müssten damit leben, in regelmäßigen Abständen schwerste Depressionen zu bekommen, was das Leben für viele Betroffene vollkommen entwerte.
Wer aber bestimmt in letzter Konsequenz, ob ein depressiver Zustand tatsächlich eine "unzumutbare Behinderung" darstellt? Wo genau wäre die Grenze zu ziehen? Was geschieht, wenn jemand etwa aufgrund des Dahinscheidens eines geliebten Menschen keinen Sinn mehr im Leben sieht? Wenn es aber Suizidwünsche gibt, die sich einer objektiven Beurteilung mindestens teilweise entziehen - wäre es dann nicht besser, den entscheidenden Akt dem oder der Suizidbereiten selbst zu überlassen? Warum wendet sich ein Mensch, der sich prinzipiell selbst töten könnte, überhaupt an eine Organisation wie Exit? "Weil wir ihm die Sicherheit geben", antwortet Andreas Blum, "dass er auf humane Weise aus dem Leben gehen kann. Wenn Sie an all die zahlreichen gescheiterten Suizidversuche denken, mit zum Teil irreversiblen Schädigungen für das so genannte Weiterleben, ist das wohl der entscheidende Grund."
Susanna Schönburg jedoch hat sich bei genauerem Hinsehen nicht nur aus rein praktischen` Gründen an Exit gewandt. So schreibt Dr. Mayer in seinem Gutachten, dass "die Persönlichkeit der Patientin durch eine große Abhängigkeit dominiert" werde. Frau Schönburg lebte in dem Glauben, selbst nichts wert und vollständig auf andere angewiesen zu sein - selbst in ihrem Todeswunsch. Nach einem missglückten Suizidversuch war sie der Meinung, noch nicht einmal selbständig sterben zu können und suchte bei Exit professionelle Hilfe. Durch diese Hilfe versicherte sie sich abermals ihrer gefühlten Minderwertigkeit und Abhängigkeit. In Fällen wie diesem ist die Organisation folglich nicht einfach nur ein Instrument in der Hand des oder der Sterbewilligen, dessen sich jemand bedient, der selbstbestimmt aus dem Leben gehen möchte, sondern ihre Inanspruchnahme ist auch ein Symptom des grundsätzlichen Leidens.
Anderseits: Ist die Vermutung, dass sich Susanna Schönburgs Bitte vielleicht doch nicht klar und eindeutig von ihrem psychischen Leiden abgrenzen lässt, schon ein hinreichendes Argument dafür, die Begleitung durch Exit im Nachhinein zu verurteilen? Frau Schönburg befand sich mehrmals in psychiatrischen Kliniken, bekam Schmerzmittel, Betablocker, Migränemittel sowie Antidepressiva verschrieben, und sie befand sich zehn Jahre lang in psychotherapeutischer Behandlung. All das hatte keinen Erfolg. Ist nicht die Tatsache, dass Susanna Schönburg die letzten Minuten ihres Lebens gemeinsam mit Norbert Mayer und einem Freitodbegleiter verbringen konnte, letztlich akzeptabler als die Vorstellung, dass sie allein einen weiteren Selbstmordversuch unternommen hätte? Warum ist ein Tumor als Ursache für einen Sterbewunsch annehmbarer als ein andauernder, unerträglicher "Druck auf der Brust"? Ist nur das, was wir auf einem Röntgenbild sehen können, eine unzumutbare Behinderung?
Die moralische Verantwortung der Freitodbegleiter
Die Freitodhilfe wäre keine Freitodhilfe, wenn sie ausschließlich auf todkranke Menschen in ihrem Suizidwunsch unterstützte. Vielmehr fühlt sie sich gerade für jene zuständig, die, obwohl sie noch Jahre oder Jahrzehnte leben könnten, darin keinen Sinn mehr sehen. Wie weit aber reicht das Recht auf Selbstbestimmung im Zweifelsfall? So weit, dass Beihelfende sich nicht eines Vergehens schuldig machen, wenn sie den tödlichen Becher trotz objektiv noch bestehender Lebensmöglichkeiten reichen? Der Freitodbegleiter und Ex-Pfarrer Walter Fesenbeckh kann diese Bedenken nicht teilen. "Ich spiele ja nicht Gott", sagt er. "Sondern derjenige, der die Tatherrschaft in jeder Sekunde hat, ist der Sterbewillige selbst."
Für den deutschen Philosophen Volker Gerhardt dagegen, der Mitglied des Nationalen Ethikrates ist, reicht dieses Argument nicht aus, um Freitodhelfende von ihrer moralischen Verantwortung freizusprechen. "Ich fände es wirklich eine unerhörte Zumutung, von jemand anderem zu verlangen, dass er sich [an einer Beihilfe] schuldig macht. Er [der Beihelfer] weiß ja gar nicht, was das für ihn und sein Gewissen bedeutet."
Gerhardt zufolge ist es also legitim und aus ethischer Perspektive sogar zwingend, dass ein todkranker Mensch, der den entsprechenden Wunsch äußert, nicht länger künstlich beatmet oder ernährt wird. Dieser Behauptung liegt die Annahme zugrunde, dass das Selbstbestimmungsrecht des oder der Einzelnen mehr wiegt als die lebensverlängernden Möglichkeiten der Medizin - und in der Tat ist dieses Recht für Gerhardt unverbrüchlich: "Die Selbstbestimmung ist eine Prämisse unserer ethischen, rechtlichen und politischen Überzeugungen. Sie ist der Ausdruck der individuellen Freiheit. Sie begründet die menschliche Würde und damit jeden anderen Wert, für den wir glauben, vernünftige Gründe nennen zu können. Wer die grundlegende Funktion der Selbstbestimmung in Zweifel zieht, stellt alles in Abrede, was zum Selbstverständnis des modernen Menschen gehört."
Die Hoheit des Selbstbestimmungsrechts geht für den Philosophen sogar so weit, dass der Wille des Menschen - in einer Patientenverfügung niedergelegt - auch dann zu berücksichtigen sei, wenn diese Verfügung mögliche Hilfe- oder Rettungsmaßnahmen verhindere. Den möglichen Einwand, dass ein Mensch in gesundem Zustand doch gar nicht wissen könne, was er im Fall einer tödlichen Krankheit wolle, weist Gerhardt zurück: "Die Demokratie geht davon aus, dass die Menschen selber entscheiden, was sie tun. Und es ist leider so, dass Einzelne in manchen Fällen auch gegen ihr objektives Wohl entscheiden."
Aber gerät der Philosoph durch diese Argumentation nicht in einen Widerspruch? Auf der einen Seite behauptet er, dass eine Suizidassistenz moralisch nicht zu verantworten sei, da Beihelfende eine unzumutbare Verantwortung trügen. Auf der anderen Seite aber müsse ein Arzt, eine Ärztin auf lebensverlängernde, ja vielleicht sogar heilende Maßnahmen verzichten, wenn eine Patientenverfügung eine solche Unterlassung vorsehe. Der Widerspruch besteht darin, dass dem Selbstbestimmungsrecht in beiden Fällen ganz offensichtlich ein jeweils unterschiedliches Gewicht beigemessen wird. Während es im Fall einer passiven Sterbehilfe sogar dann gilt, wenn objektiv noch Heilungschancen vorhanden wären, scheint es im Fall einer Suizidbeihilfe überhaupt keine Rolle zu spielen.
Zwar ist es zunächst einmal tatsächlich etwas anderes, ob man jemandem ein tödliches Medikament verabreicht oder eine lebensverlängernde Maßnahme aussetzt. Doch wird dieser Unterschied nicht durch den Umstand aufgewogen, dass Kranke im Falle eine Suizidbeihilfe ihren Willen bis zum allerletzten Augenblick bekräftigen und revidieren können? Während eine Patientenverfügung unter Umständen schon vor Wochen, Monaten oder Jahren verfasst wurde und erst dann zum Tragen kommt, wenn Betreffende ihren Willen aufgrund eines Wachkomas oder Ähnlichem nicht mehr äußern können, ist ein zum Freitod entschlossener Mensch notwendigerweise bei Bewusstsein und daher in der Lage, seinen Wunsch unmittelbar zu artikulieren. Entsprechend fragen Freitodbegleiterinnen und -begleiter in der Regel noch kurz vor der Einnahme des Natrium-Pentobarbitals, ob der Wunsch, sich selbst zu töten, tatsächlich immer noch Bestand habe.
Doch die Argumentation, dass zwar eine passive Sterbehilfe, nicht aber die Freitodhilfe zulässig sei, ist noch aus einem anderen Grund problematisch - denn was passiert dann mit Menschen, die nicht an einer Beatmungsmaschine hängen, aber dennoch keine Lebensperspektive mehr haben? Welchen Tod soll beispielsweise jemand sterben, der vom Krebs zerfressen wird, aber keinen Platz in den gerade einmal hundert deutschen Palliativstationen bekommt? Und was soll jemand tun, dessen Schmerzen sich durch Palliativmedizin - die gerade erst in Entwicklung ist und dringend Gelder benötigt, um effektivere Schmerztherapien zu erforschen - nicht oder nur unzureichend lindern lassen?
Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die bei vollem Bewusstsein aus dem Leben gehen wollen und aus diesem Grund ein "Dahindämmern im Morphin-Nebel", wie es mitunter in Sterbehospizen geschieht, konsequent ablehnen. Und: Warum hat jemand, der nach einem Motorradunfall im Koma liegt und in seiner Patientenverfügung jede lebensverlängernde Maßnahme ablehnt, ein größeres Anrecht auf den Tod als ein Mensch, der seit zehn, zwanzig oder dreißig Jahren unter schwersten Depressionen leidet? Ist eine psychische Krankheit weniger qualvoll als beispielsweise eine Querschnittslähmung? "Die psychische Krankheit kann um vieles schrecklicher sein als ein krankes Organ", so behauptet Volker Gerhardt selbst in einem Interview.
Thanatoethik statt Bioethik? Abschließende kritische Bemerkungen
Die immer weiter voranschreitenden Human- und Lebenswissenschaften, meint der französische Historiker Georges Minois, verurteilen uns rücksichtslos zum Leben - und insofern sei die Frage durchaus berechtigt, ob "wir dem schwierigen Wertewandel, dem wir gegenwärtig beiwohnen, bei den Debatten, die sich auf die Bioethik polarisieren, nicht auch eine Thanatoethik in Erwägung ziehen" sollten.
Eine solche Debatte ist zwar in der Bundesrepublik vorerst unvorstellbar. Aber auch hierzulande sind Einsamkeit und gesellschaftliche Isolation weit verbreitet. Darüber hinaus droht die zunehmende Rationierung der gesundheitlichen Grundversorgung zu einer Privatisierung der Gesundheit und zu einer Auflösung unseres Solidarsystems zu führen - eine Entwicklung, die auf beunruhigende Weise begleitet wird durch einen immer lauteren Ruf nach Sterbehilfe. Wird also das marode Sozialsystem in Zukunft durch eine gesellschaftlich legitimierte Sterbehilfe ergänzt, die einer Entsorgungseinrichtung für unbrauchbar gewordene Mitbürgerinnen und Mitbürger gleichkommt?
Vor diesem Hintergrund erfährt die so genannte "Selbstbestimmung am Lebensende" eine entscheidende Relativierung - denn wie selbstbestimmt ist es, wenn ein Mensch sich aufgrund zunehmender gesellschaftlicher Entsolidarisierung, Armut und Einsamkeit für seinen Tod entscheidet? Was kann mit einem "autonomen" Sterbewunsch überhaupt noch gemeint sein, wenn er innerhalb einer solchen Gesellschaft geäußert wird? Freitodorganisationen wie Exit sehen die gesellschaftlichen Einflüsse durchaus - was sie jedoch nicht daran hindert, nach wie am Ideal der Selbstbestimmung vor festzuhalten: "Im Zentrum", meint Andreas Blum, "steht immer der Wille des betroffenen Menschen." Für manche Freitodbegleiter besitzt dieser Wille ein derartiges Gewicht, dass sie sich selbst lediglich als ein "Instrument" in der Hand des Sterbewilligen begreifen, und auch die für Exit arbeitenden Gutachter prüfen Freitodanträge mitunter bedenklich unkritisch. "Das wollen die nicht", antwortet etwa Dr. Norbert Mayer auf die Frage, warum er manchmal auf langwierige Befragungen psychisch Kranker verzichte. Doch ist ein Gutachter nicht gerade dazu da, die Kriterien für eine Begleitung sorgfältig zu prüfen - auch um den Preis, dass sich der oder die Kranke womöglich enttäuscht abwendet? Angesichts dieses Missstandes forderte die Schweizer Nationale Ethikkommission im Jahr 2006, verbindliche, staatlich kontrollierte Qualitätsstandards einzuführen. Wenn etwa nach dem Erstgespräch ausschließlich schriftlich oder telefonisch kommuniziert werde, sei dies schlichtweg nicht ausreichend.