Einleitung
Die Euthanasie oder die Kunst den Tod zu erleichtern - so lautet der Titel eines Buches, das 1835 in Berlin erschien. Es stammt aus der Feder von Karl Ludwig Klohss, "der Medizin und Chirurgie Doctor, Land-Physikus und praktischer Arzt zu Zerbst". Im Text entwickelt Klohss, was er selbst eine "Lehre der Euthanasie" nennt - mit sechs zentralen Punkten. Diese umfassen die sichere Todesfeststellung samt ordentlichem Begräbnis, ein angenehmes Sterbeambiente und die effektive Schmerzbekämpfung. Auch der "Trost der Religion" solle gewährleistet sein. Die erste Forderung aber lautet: "Dahin strebe, die Menschen nicht vor der Zeit und so viel wie möglich am natürlichen Tode im engern Sinne sterben zu lassen."
Das Euthanasieverständnis, das Klohss formuliert, schließt Tötungshandlungen eindeutig aus. Klohss verweist auch auf die bekannten Sätze des berühmten Mediziners Christoph Wilhelm Hufeland: Töteten die Ärzte, so würden sie "die gefährlichste Menschenklasse im Staate, die gefährlichsten Giftmischer", vor denen man nichts sichern könne.
Hufeland und Klohss stehen für die Position der "Euthanasia medica"
Der Geist der "Euthanasia medica" - also einer Hilfe beim Sterben ohne aktive Tötungshandlung - bleibt bis Mitte des 19. Jahrhunderts diskursbestimmend.
Der Gedanke an ein staatlich, das heißt durch ein gesetzliches Verfahren, institutionalisiertes Angebot einer Hilfe nicht im, sondern zum Sterben - einer Sterbehilfe (die innerhalb oder außerhalb der Medizin) in bestimmten Standardsituationen regulär verordnet und vollstreckt oder aber privat nachgefragt werden kann - ist also eine junge Errungenschaft. Aktive Sterbehilfe unter staatlicher Ägide setzt den modernen Rechtsstaat und eine professionalisierte Wohlfahrtsmedizin voraus.
Ein relevanter öffentlicher Diskurs über "Tötung auf Verlangen" oder "Suizidbeihilfe" durch Ärzte oder Laien entsteht kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts. Ältere, malthusianische Motive (die Schwachen sind eine ökonomische Belastung) und jüngere, eugenische Motive (bestimmte Individuen sind erbbiologisch unerwünscht) mischen sich. Es entstehen sozialplanerische Konzepte, die Kranke und Behinderte als Hindernis auf dem Weg zur gesundheitspolitisch optimierten Gesellschaft betrachten. Nicht erst im Nationalsozialismus, sondern bereits am Ende des 19. Jahrhunderts werden so das individuelle Verlangen eines Lebensmüden nach Hilfe zur Lebensverkürzung genauso thematisiert wie die Kostenlasten des Gesundheitssystems. Der entstehende Sterbehilfediskurs hat so von Beginn an ein doppeltes Gesicht: Zum einen prägt ihn eine neue Rhetorik der individuellen Freiheit, die eine Tötungsbeihilfe als Mitleidsakt oder Freundschaftsdienst umschreibt. Zum anderen prägt ihn das Thema der gesellschaftlichen Notwendigkeit: Eine Belastung der Gesunden durch Alte und Kranke soll "in Grenzen" gehalten werden. Der Diskurs verbindet die Idee moralisch-ethischer "Autonomie" zum Tod mit einer Logik des Gemeinnutzens und der strikten sozialen Steuerung. In der Rechtsentwicklung der modernen Sterbehilfe lassen sich drei relevante Phasen unterscheiden: die Phase des Beginns einer Debatte der Verrechtlichung um 1900, eine staatsrassistische Phase von den 1920er Jahren bis zum Ende des zweiten Weltkriegs und eine liberale Phase von den 1960er Jahren bis heute.
Konzepte der Sterbehilfe um 1900
Symptomatisch für das Profil des modernen Sterbehilfediskurses ist die 1895 erschienene Programmschrift Das Recht auf den Tod des Göttinger Wirtschaftsstudenten Adolf Jost. Wie Georg Simmels Einleitung in die Moralwissenschaft (1893) sowie Ernst Haeckels Lebenswunder (1904) kann Josts Schrift zu den Gewährstexten einer neuen Autonomiefigur gezählt werden: einer "Autonomie" im Sterben, die genau darin bestehen soll, dass nicht etwa ich mich selbst umbringe, sondern mein Wille sich genau darin realisieren soll, dass jemand anderes - eine "dritte Hand" - an mir die tödliche Handlung vollbringt.
Jost greift mit seiner Schrift einen "starren Punkt in unseren moralischen und sozialen Anschauungen" an.
In Josts Schrift spiegeln sich jedoch vor allem ökonomische Argumente des Aufwandes der Pflege schwer Kranker und der (finanziellen wie seelischen) Belastung, die den Angehörigen und der Gesellschaft hier entstünden. "Der Kranke konsumiert eine beträchtliche Menge materieller Werthe, mehr als der gesunde Mensch. Einer von ihnen, oder wenigstens mehrere zusammen absorbieren die Arbeitskraft mehrerer Leute, die sie zu pflegen und zu warten haben, sie verbrauchen Nahrung und Arzneien."
Jost will die Tötungserlaubnis für Kranke und Schwache einerseits von der Diagnose eines oder einiger Ärzte abhängig machen und andererseits von der Zustimmung des Patienten selbst - hiermit zeichnen sich bereits die auch heute noch geltenden zentralen Kriterien für die aktive Sterbehilfe ab. Es geht Jost aber explizit nicht nur um ein "Mehr" an Privatautonomie für das Individuum, sondern um eine soziale Reformstrategie. Sei nicht "vom Standpunkt der Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft aus" ein Recht auf den Tod anzuerkennen? Im Vordergrund steht damit eine Moral des sozialen Nutzens. Das Recht auf den Tod soll vor allem der sozialen Wohlfahrt dienen, und das geforderte "Recht" ist nicht zuletzt ein Recht der Gesellschaft auf den Tod des Einzelnen. Nicht nur das autonome Individuum steht also am Beginn des Sterbehilfediskurses, sondern und untrennbar geht es auch um die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Gesellschaft, die knappe Ressourcen zu rationieren hat.
Die Jostschen Sterbehilfeargumente werden kurz nach der Jahrhundertwende unter anderem in dem von dem Biologen Ernst Haeckel und dem Arzt Auguste Forel gegründeten Deutschen Monistenbund wieder aufgegriffen. In den Diskussionskontexten der nicht zuletzt eugenisch geprägten Vereinigung entsteht 1913 der erste komplette Gesetzentwurf zur Sterbehilfe. Der von Roland Gerkan, Mitglied des Monistenbundes, verantwortete Text hebt hervor, dass der Sterbewillige einzuwilligen habe und dass Ärzte am Tötungsakt beteiligt sein sollen. In Grundzügen ähnelt er den heute gültigen Regelungen in den Niederlanden und Belgien. Im parlamentarischen Raum blieb er weitgehend ohne Resonanz.
Staatsrassistische Phase
Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs beeinflussen den europäischen Sterbehilfediskurs in den 1920er bis in die 1940er Jahre maßgeblich. Sie schieben zunächst die ökonomische Seite des Diskurses in den Vordergrund. Das ist nicht zuletzt auf die Kriegserfahrungen selbst zurückzuführen, wie Heinz Faulstich in seiner bedeutenden Studie über "Hungersterben in der Psychiatrie 1914 - 1949"
In ihrer Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" greifen Karl Binding und Alfred Hoche 1920 den Sterbehilfediskurs wieder auf. Der Strafrechtler Binding stellt zu Beginn seiner "rechtlichen Ausführung" zum Thema die Frage: "Soll die unverbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte - vom Notstand abgesehen -, auf die Selbsttötung des Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung auf Tötungen von Nebenmenschen erfahren und in welchem Umfange?"
Während die Mehrheit der Psychiater und Anstaltsärzte nach dem Ersten Weltkrieg offenbar nicht sehr weit von den Positionen Bindings und seines Ko-Autors, des Ökonomen Alfred Hoche, entfernt ist, stoßen ihre rechtspolitischen Vorschläge bei der Mehrheit der praktischen Ärzte auf Widerstand.
Die "preußische Denkschrift" findet auch in die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission Eingang, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter dem Vorsitz von Justizminister Franz Gürtner ab November 1933 das Strafrecht reformieren soll. Nur im Hinblick auf die Tötung auf Verlangen weicht die endgültige Position der Strafrechtskommission von der Linie der Denkschrift ab. Nach dem Vorschlag der Kommission sollte der Tatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216) entfallen, denn die milde Behandlung dieses beruhe auf einer "individualistischen Einstellung" des bisherigen Rechts. Jedes Mitglied der Volksgemeinschaft habe aber die Pflicht, der Gemeinschaft bis zum letzten zu dienen, und dürfe sich dem nicht feige durch Suizid oder "verlangte" Tötung entziehen. Insgesamt setzt die Kommission eher auf vorbeugende Eugenik als auf Tötung.
Unabhängig von den Beratungen einer in gewisser Weise immer noch "rechtsstaatlich gebundenen juristischen Fachdiskussion"
Nach gültigem Recht bleiben während der NS-Zeit trotz vieler Regelungsentwürfe sowohl die Tötung auf Verlangen als auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" strafbar. Noch in der 12. Auflage eines Kommentars zum RStGB, der 1943/44 erschien, heißt es: "Ein Recht auf Sterbehilfe (...) ist nach dem geltenden Recht weder dem Arzt noch sonst einer Person zuzubilligen (...) Andere Arten von Vernichtung lebensunwerten Lebens, z.B. die Tötung unheilbar Blödsinniger, könnten erst recht nur durch Änderung der Gesetzgebung straffrei werden."
Hitler hatte bereits 1929 angeordnet, dass die "Gewährung des Gnadentodes" in alleiniger Zuständigkeit der Kanzlei des Führers als "Geheime Reichssache"
Nach Kriegsende und Kapitulation sind in Deutschland kaum Publikationen zum Thema "Sterbehilfe und Recht" zu finden. Auf dem Konstanzer Juristentag 1947 wird gefordert, dass über eine "echte Euthanasie"
Liberale Phase
Erst Anfang der 1970er Jahre beginnt in Europa eine dritte Phase der Diskussion über Sterbehilfe, in welcher nun die Niederlande für Europa die Vorreiterrolle einer durch das Medizinsystem kontrollierten Tötung auf Verlangen übernehmen.
Der niederländische Weg der Legalisierung stilisiert die Sterbehilfe als Therapie, bewegt sich also im Medikalisierungs-Paradigma und setzt dabei auf "Patientenautonomie". Der Präzedenzfall für eine lange Phase der Duldung von medizinischen Tötungen ist ein Prozess wegen "Tötung auf Verlangen" (Art. 293) gegen die Ärztin Gertrude Postma im Februar 1973. Sie hatte ihre Mutter getötet, wurde am Ende jedoch lediglich zu einer "symbolischen" Strafe von einer Woche Haft auf Bewährung verurteilt. Das milde Urteil wird damit begründet, die Mutter habe in einem irreversiblen Krankheitszustand ausdrücklich den Tod verlangt und es habe keine therapeutischen Alternativen mehr gegeben. Der Fall wurde als menschliches Drama in den Massenmedien ausführlich erörtert und führte zur Gründung der niederländischen Euthanasievereinigung NVVE (heute NVVL). Heute gilt der Postma-Fall als entscheidender Schritt zur Durchsetzung der Euthanasie in der niederländischen Gesellschaft.
Nur wenige Wochen später wurde ein "Euthanasie-Bericht" des niederländischen "Gesundheitsrates" - einer von der Regierung bestellten Sachverständigen-Kommission - veröffentlicht, der ebenfalls die Euthanasie nicht mehr grundsätzlich ablehnt und eine neue Rechtslage für Fälle von Patiententötung fordert.
Weitere Stationen einer De-facto-Legalisierung der Tötung auf Verlangen in den Niederlanden sind das Jahr 1985, in dem das Akademische Krankenhaus in Utrecht als erste Klinik Sterbehilfe-Richtlinien für seine Ärzte erlässt, und die Jahre 1990/91, in denen sich die Niederländische Ärztevereinigung KMNG und das Justizministerium auf ein freiwilliges Meldeverfahren für Sterbehilfe und medizinisch assistierten Suizid einigen. Zwei Jahre später wird eine gesetzliche Meldepflicht für Tötungshandlungen durch Ärzte eingeführt. 1999 legte dann das niederländische Kabinett einen Entwurf für ein Euthanasiegesetz vor, nach dem Staatsanwälte bei Tötung auf Verlangen nur noch ausnahmsweise tätig werden und Ärzte Fälle nur noch an die dafür eingerichteten Kommissionen melden müssen.
Am 1. April 2002 tritt in den Niederlanden ein Gesetz unter der Bezeichnung "Überprüfungsverfahren bei aktiver Sterbehilfe und ärztlich betreutem Freitod"
Auch in anderen Ländern der westlichen Welt gibt es seit Beginn der 1970er Jahre wiederholt öffentliche Diskussionen zur Frage, ob die Tötung auf Verlangen legalisiert werden soll oder nicht. Regelmäßig sind medienwirksame Einzelfälle der Anlass - so Mitte der 1970er Jahre der Fall der US-amerikanischen Koma-Patientin Karen Ann Quinlan. Eine "Right to die-Bewegung" formiert sich international.
Die Schweiz bietet mit einem seit 1942 existierten Erlaubnistatbestand zum "assistierten Suizid" durch medizinische Laien eine besondere Rechtslage, vor deren Hintergrund sich gemeinnützige Vereine bilden (Exit e.V., Dignitas e.V.), die Sterbehilfe international anbieten, was auf zunehmende Nachfrage stößt. Im Paradigma der Suizidbeihilfe wird der Sterbehilfetod als Freitod stilisiert und aus angeblich uneigennützigen Gründen unterstützt. Als Suzid betrachtet, bleibt diese Praxis freilich mit dem unerklärlichen Paradox behaftet, dass ein Dritter den "eigenen" Willen des Lebensmüden vollstrecken soll.
Im Deutschland der 1980er Jahre ist es vor allem die "Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben" mit ihren Vorsitzenden Hans-Hennig Attrott sowie Julius Hackethal, welche die gesellschaftliche Debatte forciert. Am 15. Mai 1985 findet eine Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages zum Thema Sterbehilfe statt. Zu den 15 eingeladenen Sachverständigen gehörten auch Hackethal und Atrott, die vergeblich eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen fordern. Einen weiteren Vorstoß für eine Gesetzesänderung unternimmt 1986 der Arbeitskreis "Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe", der unter anderem den Behandlungsabbruch beiLangzeit-Komapatienten und schwerstgeschädigten Neugeborenen legalisieren will. Ebenso sollen "die Nichtbehinderung einer Selbsttötung" straffrei gestellt werden sowie die Tötung auf Verlangen bei einem "schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden Leidenszustand". Dieser Gesetzentwurf wird auf dem Deutschen Juristentag 1986 diskutiert und mehrheitlich abgelehnt. Umso wichtiger werden in der Folge weitere Gerichtsurteile. Das Oberlandesgericht München lehnt es 1987 ab, gegen Hackethal ein Verfahren wegen Tötung auf Verlangen einzuleiten, obwohl dieser einer Krebskranken den Giftbecher mit Zyankali zum Munde geführt hatte. Das Gericht wertet den Fall als eine Beihilfe zum Suizid, die straflos sei.
Das Urteil gibt der deutschen Sterbehilfe-Bewegung publizistischen Auftrieb. Hackethal wird zum lautstarken Verfechter einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe sowie ärztlicher Beihilfe zum Suizid. Der so genannte "Kemptener Fall", die Erlaubnis für den Abbruch der Sondenernährung einer Frau im Wachkoma, führt dazu, dass der Bundesgerichtshof Mitte der 1990er Jahre
In Deutschland sind somit heute rechtspolitische Suchbewegungen unverkennbar, die auf eine internationale Angleichung der Dogmatik und des öffentlichen Redens in Sachen Sterbehilfe zielen. Für die europäische Sterbehilfepolitik generell ist festzustellen: Ob "medizinische Maßnahme am Lebensende" oder "assistierter Suizid" - eine bestimmte, staatlich kontrollierte und bioethisch flankierte Form der Tötung von fremder Hand ist aus dem allgemeinen Raum der verbotenen Fremdtötung ausgegliedert worden. Mit der Einführung von Patientenverfügungen wird unter anderem durch Krankenkassen für eine Kultur des frühzeitigen Nachdenkens über Vorab-Bestimmungen über individuell gewollte Behandlungsbegrenzungen geworben. Die Zielgruppen für das Tötungsangebot ähneln auch heute denen, die schon Jost oder Haeckel zu Beginn des Diskurses im Blick hatten: Menschen im Sterbeprozess, Menschen mit irreversibel zum Tode führenden Krankheiten sowie Komapatienten, an denen Behandlungsaufwand erspart werden kann - pauschal gesprochen: Alte und Kranke ab dem Punkt einer schlechten Prognose.
Auch in den jüngsten Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates zum Thema geht es um das öffentliche Aushandeln von Bedingungen, unter denen eine Lebenswertentscheidung, die mit einer sozialen Wertentscheidung im Einklang steht, in eigenem Namen getroffen werden soll.