Einleitung
Vor einigen Jahren wurden im Depot des Mannheimer Zeughauses neunzehn Mumien entdeckt, die dort - verpackt in Kartons - seit mehr als einhundert Jahren lagerten. Ein glücklicher Zufall: Die offenbar vergessenen Toten konnten nun akribisch untersucht und erforscht werden; mit allen Mitteln moderner Medizin und Biologie - von der Computertomographie bis zur Genanalyse - ließen sich nicht nur die jeweiligen Mumifizierungstechniken in Erfahrung bringen, sondern auch Geschlecht, Lebensalter, Krankheiten oder Todesursachen. Die Mumien werden gegenwärtig in der Ausstellung Mumien - Der Traum vom ewigen Leben (bis zum 24. März 2008) gezeigt; die Mannheimer Ausstellung umfasst insgesamt siebzig konservierte Leichname von Menschen und Tieren aus verschiedenen Kulturen und Epochen, darunter beispielsweise eine weibliche Mumie aus der Inkazeit, eine peruanische Kindermumie, das ausgetrocknete Skelett eines jungen Mannes aus der chilenischen Atacamawüste, neuseeländische und altägyptische Mumienschädel, das "Mädchen von Windeby" (Schleswig-Holstein), eine Frau, die sogar namentlich bekannt ist: Veronica Skripetz, eine Familie aus einer ungarischen Kirche, die "Schwurhand" Rudolfs von Schwaben aus dem Merseburger Domstift, schließlich einige mumifizierte Tiere - ein eiszeitliches Mammut, ein Frettchen, eine Katze.
Das Projekt ist nicht unumstritten. So hat etwa Dietrich Wildung, Ägyptologe und Direktor des Ägyptischen Museums Berlin, im Interview mit "Deutschlandradio Kultur" die "Mumien-Pornographie" angeprangert und betont, "daß hier ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Menschen stattfindet, die auch noch bestehen, wenn dieser Mensch in manchen Fällen seit tausenden von Jahren tot ist." Gegen diese rhetorische Empörung lässt sich sofort einwenden, dass die Vorstellung vom persönlichen, unsichtbaren und intimen Tod erst in der Moderne aufgekommen ist; mit Hilfe dieser Vorstellung wurde der Tod als ewiger Schlaf idealisiert, zugleich aber jede religiöse, ritualisierte Inszenierung des Sterbens scharf kritisiert. Tod, Bestattung und Trauer wurden seit dem späten 18. Jahrhundert aus der Öffentlichkeit verdrängt; in einem Essay über das Werk Nikolai Lesskows und die Krise moderner Erzählkunst behauptete Walter Benjamin sogar, die bürgerliche Gesellschaft habe "mit hygienischen und sozialen, privaten und öffentlichen Veranstaltungen einen Nebeneffekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer (...) - sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (...) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut."
Wenige Jahre später wäre Benjamins Diagnose von 1936 schon als nostalgische Miszelle erschienen. Wer in Sanatorien oder Krankenhäusern sterben durfte, hatte Glück gehabt; sein Leben hätte ja auch im Krieg, im Bombenhagel, im Gefängnis, auf der Flucht oder im Lager enden können: außerhalb jeder Merkwelt der Lebenden. Dass schließlich eine gesamte Nation nach Ende des Kriegs behaupten konnte, sie habe den verwalteten Massenmord an mehr als sechs Millionen Menschen nicht wahrgenommen, bezeugt eine hohe Bereitschaft zu psychischer Verdrängung, die übrigens noch in den Fünfzigerjahren regelrecht eingeübt wurde: als Fähigkeit, das Sterben anderer Menschen ebensowenig zu bemerken wie die Risiken des eigenen Todes. Diesem Training verdankte sich auch die Unfähigkeit zur Angst vor den Atomwaffen, jene "Apokalypse-Blindheit", die der Philosoph Günther Anders eindringlich beklagte. Der Tod avancierte tatsächlich zum Tabu, zur eminent "privaten" Angelegenheit; und wer sich gegen diese Tabuisierung zur Wehr setzen wollte, musste dem französischen Existentialismus - mit seinen Debatten, Filmen, Clubs und Chansons - anhängen.
Die Zeit solcher Tabuisierung des Todes ist inzwischen längst wieder vorbei; aus historischem Abstand könnte sogar der Eindruck entstehen, die Verdrängung des Todes hätte schon nach der Kubakrise nur mehr in den Nischen soziologischer oder philosophischer Theorien überlebt. Spätestens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begannen die Künste, den Tod und die Toten neu zu zeigen und zu reflektieren. Fotografen wie Jeffrey Silverthorne, Hans Danuser, Rudolf Schäfer oder Andres Serrano publizierten Porträts und Detailstudien aus dem Leichenschauhaus; Arnulf Rainer übermalte fotografierte Totengesichter. Nachhaltige Proteste und temporäre Ausstellungsverbote provozierte der amerikanische Fotograf Joel-Peter Witkin mit seinen Stilleben aus Leichenteilen, etwa im Foto Le Baiser (1982), für das der Künstler den Kopf einer Leiche zersägte, um die beiden Hälften im Kuss vereinigen zu können. Kurz vor Herbstbeginn 2007 wurde die Ausstellung Six Feet Under - Autopsie unseres Umgangs mit Toten (bis zum 30. März 2008) im Deutschen Hygiene-Museum Dresden eröffnet; diese Ausstellung, die zuerst im Kunstmuseum Bern gezeigt wurde, dokumentiert die Vielfalt neuerer künstlerischer Auseinandersetzungen mit den Toten. Im Zentrum stehen dabei nicht allein die Bilder, sondern auch Objekte, Zeugnisse und Spuren der Toten selbst.
Der Titel der Ausstellung - Six Feet Under - ist ein Zitat. Er verweist auf eine erfolgreiche US-amerikanische Fernsehserie, die von 2001 bis 2005 in fünf Staffeln ausgestrahlt wurde. Produziert wurde sie von einem Pay-TV-Sender und dem Oscar-Preisträger Alan Ball, Drehbuchautor von American Beauty, der die meisten Folgen schrieb. Die Serie handelt von der Familie Fisher und ihrem Bestattungsinstitut, das nach dem Tod des Vaters von den beiden Brüdern Nate und David weitergeführt wird. Der deutsche Untertitel der TV-Serie - Gestorben wird immer - artikuliert den subtilen schwarzen Humor, der charakteristisch ist für ihr Profil. Ein Bestattungsinstitut als Fernseh-Szenerie? Diese Entscheidung korrespondiert mit einem Trend, der vom Kino - spätestens seit The Silence of the Lambs (1991) - bis in die Fernsehanstalten vorgedrungen ist: der radikalen Enttabuisierung des Todes. Inzwischen sind es zahlreiche Serien, die etwa im Milieu der Kriminalistik (C.S.I.), der Forensik (Crossing Jordan, Bones) oder der Medizin (Dr. House, Grey's Anatomy) angesiedelt sind. Sie zeigen, was zuvor nur einem Spezialpublikum zugemutet werden durfte: Leichen, Obduktionen, Bestattungen.
Was im Fernsehen ankommt, ist der Wirklichkeit nicht völlig fremd. Auch die Bestattungsunternehmen haben inzwischen die aktuellen Chancen ihrer Branche erkannt und in ein breiteres Angebot von Dienstleistungen übersetzt; sie werden nicht mehr bloß den Hinterbliebenen offeriert, sondern auch den Individuen selbst, die erfolgreich eingeladen werden, das Zeremoniell ihrer Bestattung oder die Gestalt ihrer letzten Ruhestätte strategisch vorwegzunehmen. Lediglich die konkrete Planung des eigenen Todes - sei es als Freitod oder als Auftrag an eine Organisation für aktive Sterbehilfe - bleibt ein Tabu, wie gerade jüngste Diskussionen bezeugen.
Kritisiert und bekämpft wird dagegen der gesetzliche "Urnenzwang", der die private Aufbewahrung von Urnen in Deutschland verbietet; schon heute kann das Verbot - etwa durch den Gebrauch von silbernen "Asche-Amuletten", wie sie manche Bestattungsunternehmen, als Zitate des Reliquienkults, anbieten - teilweise umgangen werden. Offenbar braucht der Tote kein Knochenlager mehr; Erinnerung fühlt sich an keine Friedhofs- oder Grabadresse gebunden. Die letzte Ruhestätte unseres Zeitalters findet sich ohnehin auf keinem Friedhof, sondern verstärkt im Internet. Im Netz haben sich multimedial inszenierte "Halls of Memory" etabliert, die der Toten gedenken. Zeitliche Ewigkeit wird durch räumliche Reichweite ersetzt; wie unzählbare Moleküle schwimmen Nekrologe durch die elektronischen Datenströme: letzte Spuren, die kaum wahrgenommen werden.