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Wettbewerb der Systeme | Corona-Krise | bpb.de

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Wettbewerb der Systeme Die Corona-Pandemie als Herausforderung für Demokratie und europäische Integration

Philipp Ther

/ 16 Minuten zu lesen

Die Covid-19-Pandemie begann als Herausforderung für eine postmoderne Diktatur. Als Ende 2019 in der chinesischen Provinz Hubei die ersten Krankheitsfälle infolge einer bis dahin unbekannten Viruserkrankung auftraten, erinnerte die Reaktion der chinesischen Regierung an die Haltung der Sowjetunion nach dem Atomunfall von Tschernobyl. Das Regime unterdrückte die Nachrichten über den Krankheitsausbruch und machte einen Arzt, der als einer der Ersten auf die Gefahren des neuartigen Corona-Virus hinwies, mundtot. Als sich der Ernst der Lage nicht mehr bestreiten ließ, sperrte die Regierung Stadtviertel, Großstädte und ganze Provinzen ab. China griff so stark in das Privatleben seiner Bürger ein wie zuletzt während der Kulturrevolution unter Mao. Die Machthaber kontrollierten die Ausgangssperren mit ihrem orwellschen Überwachungsstaat, den sie in den vergangenen Jahren mit Handy-Apps und Artificial-Intelligence-Instrumenten wie der Gesichtserkennung aufgebaut hatten, wohlgemerkt auf Basis amerikanischer Technologien.

Globaler Systemwettbewerb

Inzwischen ist der Umgang mit der Pandemie zu einem globalen Systemwettbewerb mutiert. Jeden Tag melden die Medien und internationale Organisationen, wie sich die Pandemie in verschiedenen Staaten entwickelt, welches Land die meisten neuen Infektionen, Todesfälle und Genesungen verzeichnet. Die Datenbasis ist zwar ungleich und nicht überall vertrauenswürdig, aber der globale Wettbewerb liegt in der Logik der Quantifizierung der Welt seit den 1990er Jahren. Das haben als erstes die chinesischen Kommunisten begriffen, die den Rückgang der Infektions- und Opferzahlen im In- und Ausland als Erfolg ihres Landes und des "weisen Führers" Xi Jinping anpreisen.

Die Regierung der USA ist aus innen- und außenpolitischen Gründen voll in diesen Wettbewerb eingestiegen. US-Präsident Donald Trump, der zuvor einen Handelskrieg mit China begonnen hatte, bezeichnete den Covid-19-Erreger als "chinesisches Virus", um von der Gefahr für die USA und dann vom eigenen Versagen abzulenken. Doch mit der Mär, das Virus sei absichtlich in einem Labor in Wuhan erzeugt worden, hat Trump wieder einmal überzogen und seine Glaubwürdigkeit auch in diesem Bereich verspielt. Sein Slogan "America First" bekommt angesichts der Opferzahlen bei den Ansteckungen und Todesfällen durch Covid-19 eine traurige Bedeutung.

Das liegt jedoch nicht allein am überforderten Präsidenten der USA, der das Virus sträflich unterschätzte. Die unter Präsident Ronald Reagan in den 1980er Jahren geförderte Privatisierung des Gesundheitssystems führte zu einer Fokussierung auf Gewinne anstatt auf eine gute Grundversorgung. Die USA geben im Verhältnis zum BIP fast sechs Prozent mehr für ihr Gesundheitssystem aus als vergleichbar wohlhabende westeuropäische Länder, doch 45 Millionen US-Bürger sind nicht krankenversichert, noch mehr können sich den Besuch eines Arztes wegen der Zuzahlungen kaum leisten. Die tiefe Spaltung zwischen Arm und Reich und das Fehlen einer allgemeinen Krankenversicherung haben während der Pandemie auf die USA zurückgeschlagen. Besonders betroffen sind Afroamerikaner, sie sind gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung mehr als zweieinhalb mal häufiger an der Viruserkrankung verstorben als Weiße. Barack Obama hatte als einziger US-Präsident in den vergangenen fünf Jahrzehnten den Willen und die nötige Überzeugungskraft, das überteuerte und sozial selektive Gesundheitssystem zu reformieren. Doch die "Obama-Care" war nur ein Teilerfolg und hat die Grundversorgung kaum verbessert.

Ein weiteres Problem beim Umgang mit der Pandemie in den USA war das mehrfache Hin- und Herschwenken zwischen Lockdown und Öffnung sowie die Weigerung republikanischer Gouverneure, dem Rat von Gesundheitsexperten zu folgen. Selbst angesichts einer großen Gefahr schielte die Politik ständig auf Meinungsumfragen und Social-Media-Analysen. Es gehört zum Wesen von Demokratien, dass sie an Volkes Meinung orientiert sind, doch die gleichzeitige Abfrage und Manipulation von Debatten in den Sozialen Medien haben den zeitlichen und inhaltlichen Horizont der Politik weiter verkürzt. Die demoskopischen Demokratien des Internet-Zeitalters haben offenbar ein großes Problem bei der Verarbeitung von Informationen, die die der Soziologe Manuell Castells Mitte der 1990er Jahre als Insigne und Chance des "Information Age" erfasste. Stattdessen dienen das Internet und vor allem die sozialen Medien heute primär der Desinformation, auf die von Castells als Chance betrachtete Globalisierung folgt nun ein Zeitalter der Deglobalisierung.

Die gleichzeitige Katastrophe in Großbritannien, das in Europa die meisten Todesopfer hinnehmen musste und relativ zur Bevölkerungsgröße noch schlechter dasteht als die USA, belegt einmal mehr das Versagen rechtspopulistischer Governance und bestätigt die Faustregel, dass alles noch viel schlimmer kommt als erwartet, wenn Rechtspopulisten an die Macht gelangen. Dass es so weit kommen konnte, hängt allerdings auch mit dem Mehrheitswahlrecht und der dadurch begünstigten politischen Polarisierung zusammen.

Dagegen hatten die rechtspopulistischen Regierungschefs im östlichen Europa während der Pandemie eine andere und vorteilhaftere Ausgangsposition. Länder wie Ungarn und Polen liegen an der Peripherie der Weltwirtschaft und fungieren innerhalb der EU vor allem als Zulieferer von Wertschöpfungsketten. Die Reisekontakte nach China, in die USA und die Zentren Europas waren geringer, daher hatten die Regierungen mehr Zeit, auf die Pandemie zu reagieren. Bei ihrem radikalen Lockdown spielte die Einsicht eine Rolle, dass die schlecht ausgebauten und ausgestatteten Gesundheitssysteme einer Ansteckungswelle noch weniger gewachsen sind als in Italien und Spanien. Insofern war das strenge Vorgehen auch der Not geschuldet. Das wollten die ungarische und die polnische Regierung selbstverständlich nicht einräumen. Die Schließung der Grenzen – hier agierten die beiden Länder als Vorreiter in Europa – war von Hetze gegen Ausländer, Migranten und in Ungarn auch gegen den aus einer jüdischen Familie stammenden Investor George Soros begleitet. Die Rhetorik weist somit Parallelen zu Trump auf, im Gegensatz zum US-Präsidenten können die rechtpopulistischen Regierungschefs in Ostmitteleuropa jedoch auf den bisher relativ milden Verlauf der Pandemie verweisen.

Die stärker regulierten sozialen Marktwirtschaften und liberalen Demokratien in Europa, allen voran die Bundesrepublik, haben die Pandemie bislang ebenfalls relativ gut bewältigt. Dabei gehörte eine Portion Glück dazu. Deutschland konnte die Ausbreitung der Pandemie in Italien beobachten und sich entsprechend vorbereiten. In Südkorea, Taiwan und Japan half der zeitliche Vorsprung ebenfalls, rechtzeitige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Diese unterscheiden sich jedoch aufgrund kultureller Vorprägungen. Das technikaffine Südkorea setzte ähnlich wie China auf Handy-Apps, gegen die es in den individualistischer geprägten europäischen Gesellschaften Europas Bedenken wegen des Eingriffs in die Privatsphäre gab, sodass die Regierungen dort mehr auf das Verantwortungsbewusstsein ihrer Bürger und entsprechende Verhaltensänderungen setzten.

Auch die USA zählen bekanntlich zu den Gesellschaften, in denen der Freiheit des Individuums große Bedeutung beigemessen wird, doch sie waren seit jeher stärker auf sich selbst bezogen. Das liegt an der schieren Größe der Vereinigten Staaten und ihrer geografischen Lage, fast wie auf einem eigenen Kontinent. Die mangelnde Lernfähigkeit während der Pandemie hängt mit mentalen Vorprägungen zusammen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkt haben. Ein Land, das zwei Weltkriege gewonnen hat, lange Zeit als Modell für viele Staaten und Gesellschaften der Welt diente und sich nach 1989 als Sieger des Kalten Krieges fühlte, ist offenbar weniger aufnahmefähig für fremde Impulse und Vorbilder als die aufholende Großmacht China und die EU-Staaten. Der "America-First"-Nationalismus von Donald Trump trägt zu einer weiteren Abgrenzung bei, die EU gilt bei vielen Republikanern als dekadenter Sozialstaatskontinent, und China wird mehr emotionale Ablehnung als echtes Interesse entgegengebracht.

Das Schlagwort vom "Systemwettbewerb" könnte ähnlich wie das Denken in Blöcken und Einflusssphären während des Kalten Krieges dazu verführen, interne Unterschiede zu unterschätzen. Innerhalb der EU schlugen sich nicht nur einzelne Länder sehr verschieden durch die Krise, sondern auch bestimmte Regionen. In Italien beispielsweise verzeichnete Venetien wesentlich weniger Todesfälle als die benachbarte Lombardei. Das lag an den unterschiedlichen Gesundheitssystemen, die in Italien föderal organisiert sind. Die Lombardei setzte stärker auf Ärztezentren und Krankenhäuser, die dann teilweise selbst zu Inkubationszentren wurden. Dagegen gibt es in Venetien eine gut ausgebaute Versorgung mit Hausärzten, die schnell reagierten, Verdachtsfälle nicht mehr in die Praxis ließen, zu Hause behandelten und dort isolierten. Etwas abstrakter betrachtet funktionierte das dezentrale System mit seinem Schwerpunkt auf lokale Ressourcen besser. In dieselbe Richtung deuten die hohen Opferzahlen in Frankreich, einem stark zentralisierten System. In Spanien und Großbritannien spielten auch die Sparmaßnahmen nach der Finanz- und Währungskrise von 2008/09 eine Rolle, wobei es schwierig ist, deren langfristige Auswirkungen genau zu bemessen und mit anderen Faktoren abzugleichen.

Trotz dieser Varianten im Umgang mit der Pandemie kann man zwei Pole ausmachen, die sich derzeit dezidiert als solche positionieren: China und die USA. Wie dieser Systemwettbewerb ausgeht, lässt sich erst mit mehr zeitlichem Abstand sagen. Außerdem fehlt noch eine Trophäe in diesem Wettbewerb: ein Impfstoff. Bei dessen Entwicklung verfügen Länder wie China, die schon früher mit anderen Sars-Viren, der Obergruppe des Covid-19-Erregers, konfrontiert waren, über einen Vorsprung. Im August 2020 gab Russland überraschend die Meldung heraus, einen Impfstoff entwickelt zu haben, wobei Präsident Wladimir Putin hinter der Fassade der Sputnik-Rhetorik eigentlich nur bekannt gab, dass sein Land in die Phase eines Massentests eintreten würde. Über die Wirksamkeit dieses Impfstoffs weiß man noch nichts, aber die damit verbundene PR zielte klar auf den Systemwettbewerb im Umgang mit Covid-19. Wir wissen außerdem nicht, ob es eine staatliche Forschungseinrichtung sein wird, die der Entwicklung eines Impfstoffs die Pionierrolle übernehmen wird, oder ein multinationaler Konzern. Im Moment sieht es danach aus, als würden Konzerne unabhängig von ihrem Standort jenem Land den Zuschlag zur ersten Belieferung mit einem Impfstoff geben, das ihnen die höchste Forschungsförderung oder den besten Kaufpreis anbietet. Das wäre dann eine Art Meistbieterverfahren, das zum globalisierten Kapitalismus passt, der sich nach 1989 entwickelt hat.

Hat Europa eine Chance, wie im Kalten Krieg als der heimliche Sieger aus der Konkurrenz zwischen zwei Großmächten hervorzugehen? Die Covid-19-Statistiken, die in den internationalen Vergleichen bezeichnenderweise für die einzelnen Mitgliedsländer, nicht für die EU als Gesamtes geführt werden, sprechen nicht dafür. Eine Wende, auch in der Außen- und Selbstwahrnehmung, wäre wohl nur möglich, wenn eine europäische Forschungsinstitution einen Impfstoff entwickeln und sich dann als Weltenretter präsentieren könnte.

Risiken für die liberale Demokratie

Bis es so weit kommt, wird die Weltwirtschaft die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren durchlaufen. Wie welches Land aus der Krise kommt, ist ein zweites und länger relevantes Element des globalen Systemwettbewerbs. China hat nach vier Jahrzehnten hohen Wachstums erstmals eine tiefe Rezession durchgemacht, im ersten Quartal 2020 schrumpfte das BIP um 6,8 Prozent. Der in den Diskursen über die Pandemie häufig bemühte Vergleich mit einer kriegsartigen Situation und einem dann nötigen "Wiederaufbau" verweist indes auf eine Stärke, die kommunistische Kommandowirtschaften in der Vergangenheit in beiden Kontexten gezeigt haben. Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg lagen ihre Wachstumsraten zeitweilig höher als in Westeuropa. Erst ab Ende der 1960er Jahre gerieten die Ostblockstaaten ins Hintertreffen.

Nun ist China keine kommunistische Planwirtschaft mehr, und die Nachfrage lässt sich nicht mehr so steuern wie vor dem Beginn der Wirtschaftsreformen 1979. Dennoch könnten sich der Dirigismus und die helfende Hand des Staates in der Schwerindustrie und anderen Branchen, bei denen die Regierung direkt mitmischt, sowie bei der Kreditvergabe der Banken als Vorteil erweisen. Auch die Abkehr von der Orientierung auf globale Exporte könnte in einem System mit teilweiser staatlicher Lenkung leichter gelingen als in einer rein marktwirtschaftlich organisierten Exportwirtschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland.

In den USA hingegen rächt sich in der Pandemie das weitgehende Fehlen eines Sozialstaates. Ein Land, das schon Probleme hatte, Gegenmaßnahmen gegen die Pandemie zu organisieren, wird noch größere Schwierigkeiten haben, die zeitweise über 45 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen zu versorgen und Hunderttausende strauchelnde Betriebe zu stützen. Unter US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren führte die Regierung die Wirtschaft mit großen Bauprogrammen und Investitionen aus der Rezession. Doch der libertäre und der rechtspopulistische Flügel der Republikaner haben seit den 1980er Jahren gegen das "Big Government" polemisiert. Sie hätten den Staat im Prinzip am liebsten auf die Justiz und eine starke Polizeipräsenz reduziert, in länger republikanisch regierten Bundesstaaten haben sie das weitgehend umgesetzt. Wird eine derart reduzierte Verwaltung imstande sein, ein Aufbauprogramm zu organisieren und zu koordinieren? Und wem wird dann geholfen? Die Armut der Unterschichten hat seit den Sozialreformen Mitte der 1990er Jahre zugenommen, die Mittelklasse steht ebenfalls schon länger unter Druck und nun vor einem weiteren sozialen Abstieg.

Mit einer Zunahme sozialer Spannungen muss auch die EU rechnen. Die Entlassungen infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie treffen vor allem arbeits- und kontaktintensive Berufe zum Beispiel in der Gastronomie. Menschen mit einem geringen Einkommen sind häufiger von der Pandemie und von Arbeitslosigkeit betroffen als gut bezahlte und hoch qualifizierte Arbeitnehmer, die auf Homeoffice umstellen können. Letztere profitieren eher von den staatlichen Stützungs- und Rettungsprogrammen für große Konzerne. Daher hat wie während der Finanzkrise von 2009 eine Umverteilung von unten nach oben begonnen.

Das derzeitige Comeback des staatlichen Interventionismus in der gesamten westlichen Welt bedeutet das Ende des neoliberalen Rückzugs des Staates aus der Wirtschaft. Umso drängender wird die Frage, in wessen Händen die Macht im Staate liegt. Sollte das im Juli 2020 beschlossene Corona-Krisenprogramm der EU ohne verschärfte Aufsicht umgesetzt werden, ist in Ungarn zu erwarten, dass die Gelder erneut in den Taschen von Unternehmern landen, die der Fidesz-Partei sowie ihrem Vorsitzenden und ungarischen Regierungschef Viktor Orbán nahestehen. Unabhängige Gerichte, die die Ausgaben kontrollieren könnten, existieren nicht mehr, freie Medien nur noch in kleinen Nischen, die parlamentarische Kontrolle ist faktisch ausgeschaltet. In Polen gibt es keine so offensichtliche Korruption und noch Meinungspluralismus, aber auch dort benachteiligt die Regierung Unternehmen, die der Opposition nahestehen und bringt die Justiz immer mehr unter ihre Kontrolle. Wie sich die politische Stimmung verändert, wenn die Wirtschaftskrise voll durchschlägt, bleibt abzuwarten. In Polen wird der Regierung das Geld fehlen, um weiterhin kostspielige Sozialprogramme zu finanzieren, den Garanten ihrer bisherigen Beliebtheit. Doch nach Stand der Dinge hat Covid-19 die autoritären und rechtsnationalistischen Parteien und Politiker in Ostmitteleuropa gestärkt.

Herausforderungen für die EU

Für die EU ist der Verfall der Demokratie und die Aufhebung der Gewaltenteilung in manchen ihrer Mitgliedsländer eine existenzielle Herausforderung, welche durch die Pandemie eine neue Dringlichkeit erreicht hat. Die Koexistenz von liberalen Demokratien sowie antilegalistischen und rechtsnationalistischen Regimes bedroht den Stand der europäischen Integration, von einem weiteren Zusammenwachsen ganz zu schweigen, das jetzt zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise nötig wäre.

Bereits die bisherigen Transferzahlungen der EU haben Orban und Fidesz massiv gestärkt. Als vor zwei Jahren die Central European University (CEU) auch aufgrund ihrer kritischen Haltung zur Regierung ihren Standort in Ungarn aufgeben musste – immerhin handelt es sich dabei auch um ein mittelgroßes Unternehmen – konnten sich die EU und die Europäische Volkspartei (EVP) zu keinen Sanktionen durchringen, wobei ohnehin infrage steht, ob sich eine antilegalistische Regierungspartei von einem Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags wirklich beeindrucken ließe. Inzwischen ist die Gelegenheit dazu ohnehin vertan, weil Orbán durch seine Verbündeten in Warschau und seit der Regierungsbildung vom März 2020 in Slowenien faktisch eine Vetomacht aufgebaut haben. In Slowenien hatten Orbán nahestehende Unternehmer massiv in eine Boulevardzeitung und einen Fernsehsender investiert und auf diese Weise das Meinungsklima für den erwünschten Rechtsruck verstärkt.

Dass die EVP die Fidesz bislang gewähren lässt und sich lediglich zu einer Suspendierung durchringen konnte, hängt zum einen mit einem Machtkalkül zusammen: Das christlich-konservative Parteienbündnis möchte seine relative Mehrheit im europäischen Parlament wahren. Die mangelnde Abgrenzung liegt zum anderen an den fließenden Übergängen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten. Wo die Österreichische Volkspartei mit ihrem Vorsitzenden und Bundeskanzler Sebastian Kurz hier steht, wurde im vergangenen Frühjahr einmal mehr deutlich. Als Orbán die Corona-Pandemie im März 2020 zum Erlass eines Notstandsgesetzes nutzte, das nochmals einen großen Schritt auf dem Weg in ein autoritäres System bedeutete, kam von der Regierung in Wien kein Wort der Kritik, sondern nur der Hinweis, man werde Gespräche führen und dabei die Sorgen deponieren. Die EU und ihr mächtigstes Parteienbündnis sind bei der Schwächung der Gewaltenteilung, des Rechtsstaats und der Demokratie ein Teil des Problems und nicht dessen Lösung, worauf die liberale Opposition in Ungarn gehofft hatte.

Entscheidend ist daher, wie sich die deutsche Regierung verhält, und ob sie die Ratspräsidentschaft dazu nutzt, bei den Corona-Hilfsprogrammen auf Rechtsstaatlichkeit zu beharren. So feierte Orbán das Corona-Krisenprogramm und das Fehlen eines klaren Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit als großen Erfolg "gegen" Brüssel. Umso mehr wird es jetzt auf die Verfahren ankommen, sobald die Vergabe der Gelder ansteht. Auch hier hat Deutschland als größter Nettozahler der EU eine große Machtposition und sollte diese entsprechend nutzen, damit die Gelder im Rahmen der Hilfsprogramme nicht wieder in die bekannten Kanäle fließen. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich enge Weggefährten Orbáns enorm bereichert, sein Jugendfreund Lőrinc Mészáros ist zum reichsten Mann Ungarns aufgestiegen.

Außerdem ist die deutsche Wirtschaft gefordert. BMW verkündete 2018 seine Entscheidung, als dritter großer deutscher Autokonzern in Ungarn eine Fabrik zu errichten, just zu jener Zeit, als die CEU Ungarn verlassen musste. Offenbar gehen die deutschen Konzerne davon aus, dass der in diesem und anderen Fällen verletzte Investorenschutz für sie noch gilt. Das Beharren auf Rechtsstaatlichkeit wäre außerdem wichtig, um einen etwaigen Missbrauch von EU-Hilfsgeldern durch die italienische Mafia zu verhindern.

Dass Italien angesichts der hohen Verschuldung und einem geschätzten Rückgang des BIP um 12,8 Prozent im laufenden Jahr Hilfe benötigt, steht außer Frage. Durch die schwere Rezession wird sich das Verhältnis zwischen Staatsschulden und BIP nochmals verschlechtern, wahrscheinlich wie nach der globalen Finanzkrise von 2009 um mehr als 30 Prozent. Eine Schuldenlast in Höhe von bald 170 Prozent des BIP entspräche dem Stand Griechenlands vor der Euro-Krise, bringt das Risiko steigender Zinsen mit sich und könnte mittelfristig zu einer Zahlungsunfähigkeit und dem Ende der Eurozone führen. Eine unmittelbare Folge der prekären Haushaltslage ist schon jetzt, dass Rom nicht mit Stützungsprogrammen für die Wirtschaft gegensteuern kann wie Berlin. Erfolgt der "Wiederaufbau" unter ungleichen Ausgangsbedingungen, würde das die italienische Wirtschaft weiter schwächen.

Obendrein gibt es eine politische Dimension. Nur mit einem großzügigen Unterstützungspaket wird sich der während der Pandemie entstandene Eindruck korrigieren lassen, in der Krise von den europäischen Partnern im Stich gelassen worden zu sein. Während die Bundesrepublik einen Lieferstopp von medizinischer Schutzausrüstung verhängte und Österreich die symbolträchtige Grenze am Brenner schloss, inszenierten China und Russland zum damaligen Höhepunkt der Corona-Pandemie medienwirksam die Lieferung von Hilfsgütern. Die Debatte um die "Corona-Bonds", in der die EU im Frühjahr 2020 in eine Nord-Süd-Konfrontation wie während der Euro-Krise zurückfiel, hat die Stimmung nochmals verschlechtert. Die selbstmitleidige Saga vom armen, alleingelassenen Italien stimmt so selbstverständlich nicht. Sie unterschlägt unter anderem die Rolle der Europäischen Zentralbank beim Ankauf italienischer Staatsanleihen. Aber es handelt sich um ein mächtiges Narrativ, das die radikale Rechte bei den nächsten Wahlen in Italien für sich nutzen wird.

Werden das EU-Ausgabenprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro wirklich wirken? Dem steht die inhaltliche Leere und Konzeptlosigkeit neoliberaler Politik entgegen, die lange auf finanzpolitische Maßnahmen als Wachstumstreiber gesetzt hat. Wenn die EU gemeinsam die tiefe Wirtschaftskrise bewältigen will, sollte sie sich nicht allein auf Investitionsanreize und eine finanzielle Hebelwirkung verlassen wie im nach 2014 schrittweise umgesetzten "Juncker-Plan", sondern selbst Investitionen veranlassen. Doch ein "Green New Deal" ist von Brüssel aus mit gut 30000 EU-Beamten, was nicht einmal einem Drittel des Personalstands im öffentlichen Dienst des Landes Berlin entspricht, schwer umsetzbar. Die Kluft zwischen den Erwartungen an die EU-Kommission und ihren tatsächlichen Möglichkeiten ist während der Pandemie nochmals gewachsen. Daher sollten die Mitgliedsstaaten auch bilateral aktiv werden – zum Beispiel Deutschland beim Ausbau erneuerbarer Energien oder digitaler Infrastrukturen in Italien – und sich bei der europäischen Solidarität nicht allein auf Brüssel verlassen. Das läge zudem in der Logik der (allerdings bedauernswerten) Verlagerung der Macht von der EU-Kommission zum Europäischen Rat beziehungsweise den Mitgliedsstaaten, die sich seit der Euro-Krise beobachten lässt. Eine unbestreitbare Aufgabe der Kommission läge darin, mögliche Erfolge so zu kommunizieren, dass sie die Menschen der EU anrechnen. Der Systemwettbewerb in und nach der Pandemie ist ein großes Experiment mit offenem Ausgang.

ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien und Direktor des Research Center for the History of Transformations (RECET). E-Mail Link: philipp.ther@univie.ac.at