Die Katastrophe kam nicht völlig überraschend. Sie war in der für den modernen Staat charakteristischen Präventionsplanung bereits imaginiert. In einem Bericht zur Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz entwickelte die Bundesregierung unter Federführung des Robert Koch-Instituts und weiterer Bundesbehörden wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Ende 2012 folgendes Szenario: Durch eine zoonotische Übertragung von Tieren auf Menschen auf einem Wildtiermarkt wird ein neuartiges Corona-Virus von zwei Reisenden aus China nach Deutschland eingeschleppt. Eine der Personen betreut einen Messestand in einer norddeutschen Großstadt, die andere nimmt nach einem Auslandssemester ihr Studium in einer süddeutschen Universitätsstadt wieder auf. Das Virus verbreitet sich schnell und verursacht Fieber, trockenen Husten, Atemnot sowie durch Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel drei bis fünf, in manchen Fällen bis zu 14 Tage. Während jüngere Patientinnen und Patienten die Infektion oft schon nach einer Woche überwinden, beträgt die Letalität bei über 65-Jährigen fast 50 Prozent. Nachdem zehn Personen an dem Virus verstorben sind, beschließt die Bundesregierung die Einleitung antiepidemischer Maßnahmen wie Schulschließungen und Quarantänemaßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz. Begünstigt durch Mutation des Virus, durch die auch bereits infizierte Personen ihre Immunität verlieren, breitet sich dieses in drei Wellen aus. Insgesamt infizieren sich 78 Millionen Menschen in Deutschland, die Letalität beträgt etwa zehn Prozent. Das Gesundheitssystem wird überlastet, es sterben mindestens 7,5 Millionen Menschen an den direkten Folgen des Virus. Ein Impfstoff ist erst nach drei Jahren verfügbar.
Dies war die Entwicklung, die es Anfang 2020 beim Ausbruch einer tatsächlichen, durch ein Corona-Virus verursachten Pandemie zu verhindern galt. Ob die zur Bekämpfung des Virus notwendigen Maßnahmen in der Bundesrepublik "nicht oder nur sehr spät" eingeleitet wurden, wie die Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in einer der ersten Analysen der Pandemie kritisierten,
Dieser Aufsatz zielt darauf, die historische Spezifik der Corona-Krise genauer zu bestimmen und gleichzeitig den relativen Erfolg der Bundesrepublik in der Pandemiebekämpfung zu erklären. Dies geschieht durch die Verortung der Corona-Krise in zwei unterschiedlichen historischen Kontexten: der längeren Angstgeschichte der Bundesrepublik seit 1945 sowie den Globalisierungskrisen seit der Jahrtausendwende. Da die Corona-Krise noch nicht beendet und die Zukunft offen ist, müssen historische Wertungen notgedrungen provisorisch bleiben.
Historisch gewachsene Krisenkompetenz
Spätestens ab Mitte März 2020 war sich die Bundesregierung der Ernsthaftigkeit der Krise bewusst. Am 18. März beschwor Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer ihrer wenigen Fernsehansprachen die historische Einzigartigkeit der Situation. "Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg" habe die Bundesrepublik keiner ähnlichen "Herausforderung" gegenübergestanden, bei der "es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln" ankomme.
Die von Angela Merkel, aber auch in der Berichterstattung propagierte These der Corona-Krise als historisch einzigartig war für die Legitimation der ergriffenen Maßnahmen notwendig. Eine weiter gefasste historische Tiefenschärfe erlaubt es jedoch, besser zu erkennen, was genau "neu" an der Krise war und ist. Das Virus traf nicht auf eine heile "Welt von Gestern", wie sie ohnehin nur in der nostalgischen Rückschau erscheinen kann, sondern auf eine Gesellschaft mit einer ausgesprochenen Krisenerfahrung.
Die Bekämpfung der Pandemie basierte auf einer bemerkenswert hohen Zustimmung der Bevölkerung zu den massiven Einschränkungen der Grundrechte. So erklärten am 27. März 2020 beispielsweise 75 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger, dass die staatlichen Einschränkungen "genau richtig" seien, 20 Prozent gingen sie nicht weit genug, nur vier Prozent hielten sie für übertrieben.
Diese intensive emotionale Reaktion war in einem historisch spezifischen Gefühlsregime begründet. Dies zeigt sich im Vergleich mit vergangenen Gesundheitskrisen. An der "Asiatischen Grippe" 1957/58 und der "Hongkong Grippe" von 1968 bis 1970 starben in Deutschland nach Schätzungen jeweils zwischen 20.000 und 30.000 Menschen, weltweit eine bis zwei Millionen Menschen.
Ein weiterer kultureller Kontext erklärt die unterschiedlichen Reaktionen auf vergangene Grippe-Pandemien und das Corona-Virus: das gewandelte Verhältnis zum vorzeitigen Tod. Die Grippe-Pandemien trafen auf eine Gesellschaft des Nachkrieges, die noch im Bann des massenhaften gewaltsamen Todes während des Zweiten Weltkrieges stand. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag Ende der 1950er Jahren noch unter 70 Jahren, die Kindersterblichkeit war relativ hoch – auf 1.000 Geburten starben 1955 noch knapp über 45 Kinder in den ersten fünf Jahren, 2019 nur noch vier.
Ganz im Gegensatz dazu traf die Corona-Pandemie auf eine Gesellschaft, für die der vorzeitige Tod generell unakzeptabel war. Im Zuge des medizinischen Fortschritts und steigender Lebenserwartung, aber auch angesichts der fehlenden Erfahrung von Massentod im historischen Bewusstsein, wird jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft das Recht auf ein erfülltes Leben und einen natürlichen Tod zugestanden. Dies ist zu Recht als einer der großen Verdienste der Moderne gewürdigt wurden.
Schließlich unterscheidet sich die Gegenwartskultur von der frühen Bundesrepublik auch durch eine voranschreitende Individualisierung. Die Pandemie traf auf eine Gesellschaft, in der spätestens seit den 1990er Jahren die individuelle Selbstentfaltung zu einer wichtigen kulturellen Norm geworden war. Gerade in der neuen Mittelklasse der urbanen, gebildeten Schichten nahm das Streben nach Selbstverwirklichung eine besondere Bedeutung ein. In einer "Gesellschaft der Singularitäten" definierte sich das "spätmoderne Subjekt" über das "Individuelle, Besondere, Nichtaustauschbare".
Moderne Unsicherheiten
Die Corona-Angst war und ist eine dezidiert moderne Angst. Ähnlich wie Radioaktivität ist das Virus (ohne Elektronenmikroskop) weder sichtbar noch anderweitig sinnlich wahrnehmbar. Die Gefahr bedarf somit der Vermittlung durch Experten und Expertinnen. Die Krise wurde zur Stunde der Virologen und Virologinnen. Deren Wissenstand im Hinblick auf Ursprung, Übertragungswege und Gefährlichkeit des Virus entwickelte sich dynamisch und hat bis heute zu keiner endgültigen Sicherheit geführt, reichte aber deutlich weiter als dies während der Grippe-Pandemien der Nachkriegszeit der Fall war. Dennoch stellte sich auch in der Corona-Pandemie das klassische Problem der Risikogesellschaft: Gerade, weil gesellschaftliche Risiken nur noch über Expertinnen und Experten wahrgenommen werden, werden sie Teil des gesellschaftlichen Diskurses und verlieren ihre Monopolstellung. Unterschiedliche politische Positionen werden mit jeweils konfligierenden wissenschaftlichen Positionen begründet und abgesichert. Die politische Diskussion wird auch zur Diskussion um die Geltungsansprüche konträrer wissenschaftlicher Einschätzung, wie dies beispielsweise im Konflikt um die Atomenergie der Fall war. Es kommt zur "Feudalisierung der Erkenntnispraxis".
Wenngleich die etablierte Gefühls- und Angstkultur der Bundesrepublik vielfältige Anknüpfungspunkte für die spezifische Corona-Angst bot, blieb die politische Bedeutung und potenzielle Funktion dieser Angst zunächst ambivalent. Einerseits führte sie zum Anwachsen von Angst eindämmenden Emotionen, also vor allem Vertrauen in staatliche Handlungs- und Problemlösungskapazität und gesellschaftliche Solidarität. Andererseits begann der anfängliche Vertrauensvorschuss gegenüber den staatlichen Maßnahmen Anfang Mai 2020 zu bröckeln. Allerdings scheinen sich die kurzfristig aufflackernden Corona-Demonstration nicht in eine nachhaltige Protestbewegung zu verstetigen. Rechtspopulistische Bewegungen scheiterten, anders als während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, mit dem Versuch, ein wachsendes Unzufriedenheitspotenzial zu mobilisieren und politisch zu binden.
Darüber hinaus stand die Angst vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der epidemiologischen Maßnahmen zunehmend in Konkurrenz zur Angst vor dem Virus. Diese emotionale Dynamik konkurrierender Ängste war immer schon Teil der Geschichte der Bundesrepublik. Im Kalten Krieg neutralisierte die Angst vor dem Kommunismus die Angst vor einem neuen Krieg, eine Dialektik linker und rechter Ängste prägte lange die innenpolitische Auseinandersetzung. Allerdings entsprach die im öffentlichen Diskurs oft behauptete Unvereinbarkeit konkurrierender Ängste nicht den Tatsachen: Im Mai 2020 zeigte eine gemeinsame Studie des Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, dass eine effektive Bekämpfung des Virus auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Studien zu den Erfahrungen unterschiedlicher Städte während der Spanischen Grippe kamen zu einem ähnlichen Ergebnis.
Sowohl bei der Bekämpfung des Virus wie bei der Analyse der historischen Bedeutung der Pandemie ist eine rein nationale Perspektive allerdings unzureichend. Die Pandemie war vielmehr auch Teil einer verstärkten und beschleunigten Krisenhaftigkeit der Globalisierung seit der Jahrtausendwende, die Corona-Angst war mithin auch eine Globalisierungsangst.
Corona-Angst als Globalisierungsangst
Globalisierungsängste zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die in der Geschichte der Bundesrepublik wichtige Unterscheidung von "inneren" und "äußeren" Ängsten überwinden. Anders als den Atom- oder Umweltängsten fehlt ihnen ein konkreter Ort, sie sind entterritorialisiert. Im jährlich neu erstellten Angstindex der R&V Versicherung nehmen solche entterritorialisierten Ängste seit 2011 die Spitzenposition in Deutschland ein. Ängste vor "Kosten für Steuerzahler durch EU-Schuldenkrise" (2011 bis 2015), "Terrorismus" (2016/17), einer "gefährlichere[n] Welt durch Trump-Politik" (2018) oder einer "Überforderung durch Flüchtlinge" (2019) hatten allesamt ihren Ursprung in einer zunehmenden Vernetzung der Welt.
Neue Infektionskrankheiten bilden die perfekte Metapher für die unsichtbaren und ortlosen Gefahren der Globalisierung. Bereits die Aids-Pandemie der 1980er Jahre unterlief den weitverbreiteten epidemiologischen Optimismus der Zeit nach 1945, demzufolge sich die tödlichen Krankheitsursachen von natürlichen auf menschengemachte verschoben hätten.
Die neu auftauchenden Epidemien und Pandemien seit der Jahrtausendwende haben den epidemiologischen Optimismus des späten 20. Jahrhunderts beendet. Sie transformierten die Krisenhaftigkeit der Globalisierung in sinnlich erfahrbare Körperängste. Mit anderen Worten, die Sars-Pandemie ab 2002, die sogenannte Schweinegrippe ab 2009 oder die Ebola-Epidemie ab 2014 evozierten die Gefahr, die Risiken der Globalisierung am eigenen Körper zu erfahren. In diesen Bedrohungen verband sich das – wenn auch nur vage – Unbehagen an der Globalisierung mit der Angst um die Integrität des eigenen Körpers. Zwar gelang es in diesen Fällen, die Krankheiten relativ schnell lokal zu begrenzen oder sie erwiesen sich, wie im Fall der "Schweinegrippe", als weniger gefährlich als zunächst vermutet, auch aufgrund von bestehenden Immunitäten bei der älteren Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund offenbart sich in der Corona-Krise auch eine "zivilisatorische Kränkung".
In weit größerem Maße als die vorangegangen Globalisierungskrisen wirkte sich die Corona-Pandemie auf das Alltagsleben und das subjektive Empfinden der Menschen aus. Die Pandemie repräsentierte ein kaum zu übertreffendes Beispiel für jene "Unverfügbarkeiten", die laut dem Soziologen Hartmut Rosa für das spätmoderne Subjekt zunehmend schwerer zu ertragen sind.
Im Vergleich mit anderen Globalisierungskrisen unterschieden sich auch die betroffenen Gruppen. Während die Klima-Angst vor allem von der jüngeren Generation, die um ihre Zukunft fürchtet, artikuliert wurde, betrifft die Corona-Angst vor allem ältere Menschen.
Ausblick
Es ist diese subjektive Erfahrung der Corona-Krise, in der möglicherweise ihre Langzeitwirkung begründet liegt. Selten schlug die Krisenhaftigkeit der Globalisierung so massiv auf die Alltagserfahrung der Menschen durch. Zu Beginn der Pandemie offenbarte sich beispielsweise die Abhängigkeit von globalen Lieferketten im Hinblick auf plötzlich essenzielle Güter wie Masken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte. Historisch bietet sich hier die Analogie zur Erfahrung der ersten Globalisierungskrise nach dem Ersten Weltkrieg an. So führte auch die durch die britische Seeblockade provozierte Hungersnot während des Ersten Weltkrieges in Deutschland zu einer neuen Sehnsucht nach Autarkie und "Lebensraum im Osten". Die Erfahrung der Spanischen Grippe stärkte womöglich ebenso die Tendenzen zur Deglobalisierung in der Zwischenkriegszeit.
Schließlich wirft die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängende Angstwelle auch die Frage nach dem Status des Ereignisses in der globalen Moderne auf.
Wie immer man im Einzelnen diese Maßnahmen bewerten mag, in der Krise offenbaren sich neue Möglichkeitsräume der Politik, die auch für die Zukunft bedeutsam sein könnten. Aus dem Gefühl, einer potenziell allgegenwärtigen und unsichtbaren Gefahr ausgeliefert zu sein, erwuchs somit paradoxerweise ein neues Bewusstsein politischer Handlungsfähigkeit. Die Krise wurde im eigentlichen Sinn des Wortes zu einer Entscheidungssituation. Die bisher relativ erfolgreiche Bewältigung der Pandemie in der Bundesrepublik scheint weitgehend Konsens zu sein, auch wenn ein abschließendes Urteil angesichts wieder steigender Infektionszahlen hier noch nicht möglich ist. Die Diskussion über ihre langfristigen Folgen hier und anderswo hat dagegen gerade erst begonnen.