Die Corona-Krise wird oft mit einem Brennglas verglichen, das bestehende Probleme verschärft und verdeutlicht. Trifft das auch auf das Thema Bildungsungerechtigkeit zu?
Aladin El-Mafaalani: Das ist zumindest ganz stark anzunehmen. Noch kann man das nicht umfassend empirisch belegen. Aus der jahrzehntelangen Forschung zu Bildungsungleichheit wissen wir jedoch, dass die Ungleichheit kaum bis gar nicht in der Schule selbst entsteht, sondern mehr mit der Familie, dem häuslichen Umfeld, dem Milieu zu tun hat. Der Schule und den Bildungsinstitutionen kann man vorwerfen, dass sie die Ungleichheit, die in unserer Gesellschaft strukturell verankert ist, nicht zufriedenstellend ausgleichen. Aber während der Schulschließungen haben die Faktoren, die Ungleichheit erzeugen, einen noch größeren Raum.
Da hilft auch die Fernlehre nicht. Die funktionierte in der einen oder anderen Schule recht gut, wobei wir selbst dort wahrscheinlich feststellen werden, dass sie nicht so gut funktioniert wie die Präsenzlehre. An den meisten Schulen passierte aber praktisch gar nichts und schon gar nicht ungleichheitssensibel. Gleichzeitig glaube ich aber, dass alle Kinder in ihrer Lern- und Kompetenzentwicklung eine tiefere Kurve haben werden als vor und nach Corona. Die Schere geht wahrscheinlich auseinander, während sie sich nach unten neigt.
Woran liegt das, und wovon ist gelungenes Lernen zu Hause abhängig?
Ich sehe mindestens drei wichtige Punkte. Erstens haben wir keinen Hinweis, dass es irgendwelche Konzepte gibt, bei denen Fernlehre gleichwertig mit Präsenzunterricht sein kann, vorausgesetzt, dass eine Lehrkraft eine Klasse mit 25 bis 30 Kindern unterrichtet. Natürlich gibt es Konzepte von Fernlehre mit einer 1:1- oder höchstens 1:5-Betreuung, die anständig funktionieren. Aber dafür fehlen uns einige Millionen Lehrkräfte. Zweitens haben relativ wichtige wissenschaftliche Akteure, meist Psychologen, die Digitalisierung im Bildungsbereich regelrecht verteufelt – neben der allgemeinen Zurückhaltung in Deutschland im Hinblick auf Digitalisierung war das sicher auch ein Grund dafür, dass wir auf den Einsatz digitaler Mittel in der Präsenzlehre bisher weitgehend verzichtet haben. Hätten Kinder und Lehrkräfte vor dem Shutdown schon Erfahrung mit der gemeinsamen Nutzung digitaler Mittel in der Schule gemacht, wäre es ungleich leichter gewesen, das dann auch in die Fernlehre zu übertragen.
Der dritte Punkt ist eine grundsätzliche Sache: Selbst die Lehrkräfte, die sich auf längeren Fernunterricht eingestellt haben, hatten das Problem, dass sie über die Kinder faktisch nichts wussten. Sie wussten nicht, was überhaupt zu Hause für Arbeitsvoraussetzungen vorliegen, ob die Familien einen Laptop, einen Drucker, ob die Kinder ein eigenes Zimmer, einen Schreibtisch haben und so weiter.
Wir haben vorher faktisch keine systematische Kommunikation mit den Eltern betrieben. Das heißt, wir haben in der Breite Wochen gebraucht – die Ausnahmen sind eher Leuchttürme –, bis die Lehrkräfte eine Idee von den Voraussetzungen bei den Kindern zu Hause während des Shutdowns hatten. Das ist dann tatsächlich wie ein Brennglas. Denn es ist immer, nicht nur in der Corona-Krise, sinnvoll zu wissen, wie die Kinder eigentlich aufwachsen und wie die Rahmenbedingungen zu Hause sind – insbesondere, wenn man die Bildungschancen für Benachteiligte verbessern möchte.
Welche Gruppen sind mit Blick auf die Corona-Krise besonders von Bildungsbenachteiligung betroffen?
Vermuten muss man, dass es alle benachteiligten Gruppen sind, die sich also gemessen am Bildungsniveau der Eltern und der Schichtzugehörigkeit in prekären Lebenslagen befinden, und zudem alle, die ohnehin Probleme haben, dem Unterricht zu folgen. Zusätzlich auch Kinder, die in Familien aufwachsen, die von Suchterkrankungen oder psychischen Erkrankungen oder auch Behinderungen betroffen sind, Familien, in denen Gewalt eine große Rolle spielt und in denen die Kinder zunehmend auf sich gestellt sind. Während eines Shutdowns geht es nicht mehr nur um die feinen Unterschiede, sondern um wirklich massive ungleiche Familien- und Lebensverhältnisse.
Abseits von Corona: Wie ist Schule generell aufgestellt für Kinder aus armen Familien oder aus sozial benachteiligten Verhältnissen?
Es hat viele gute Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten gegeben, aber man muss wissen, dass die Problematik von Kindern, die heute in prekären Verhältnissen aufwachsen, eine grundlegend andere ist als noch vor 30 Jahren. Das Problem ist, dass wir es in den untersten benachteiligten Milieus heute häufig mit Resignation zu tun haben. Die Kinder wachsen nicht nur in ökonomisch prekären Lagen auf, sondern dazu auch noch in einem Milieu, in dem die Erwachsenen häufig keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben. Die Eltern – und damit auch die Kinder und Jugendlichen – bringen immer weniger von dem mit, was in der Schule erwartet wird. Deshalb stimmt beides: Die Schulen haben sich deutlich besser auf benachteiligte Kinder eingestellt, aber die Prekarität, in der diese aufwachsen, hat sich verschärft, weshalb die Schulen dann doch überfordert sind. Und ich würde wirklich von Überforderung sprechen. Denn circa 20 Prozent der Kinder in Deutschland leben in Armut, aber die allermeisten Kinder wachsen in soliden und gesicherten Verhältnissen auf und zudem ganz überwiegend so behütet, gewaltfrei und anerkennungsreich, wie es noch nie der Fall war. Die beiden Extreme, also immer stärker auseinanderklaffende Kindheiten, muss die Institution Schule bewältigen.
Außerdem sollte man sich durchaus fragen, warum Milieus resigniert haben und sich apathische Strukturen etablieren konnten. Das hat nicht nur mit dem Schulsystem zu tun und kann auch nicht nur im Schulsystem bearbeitet werden, aber für Kinder aus diesen Milieus sind die Bildungsinstitutionen die einzige Chance.
Können digitale Tools helfen, um dem Auseinanderklaffen der Bildungsschere entgegenzuwirken?
Dafür gibt es gute Indizien. Beispielsweise gibt es schon Berichte von Projekten aus anderen Ländern, wo die Kinder Feedbacks von digitalen Medien total gut finden, weil sie das Gefühl haben, das ist fairer, als wenn das eine Lehrkraft macht. Aus habitustheoretischer Perspektive hat das eine hochgradige Plausibilität. Ein Roboter oder ein Algorithmus können wahrscheinlich deutlich eher Talente entdecken als eine Lehrkraft. Das hat viele Gründe, zum Beispiel, dass Lehrkräfte häufig bestimmte Potenziale und Talente bei Kindern nicht erkennen, weil es sich je nach Milieu, nach sozialer Herkunft des Kindes anders ausdrückt. Lehrkräfte kommen in der überwiegenden Zahl selbst aus einem bildungsbürgerlichen Milieu. Wenn sich Kinder entsprechend so verhalten wie die eigenen Kinder, führt das wechselseitig zu einer ganz anderen Resonanz. Ich habe die Redewendung geprägt, dass Armut das Talent für Lehrkräfte verdeckt. Die Aufgabe wäre es also, Talent zu entdecken. Man bräuchte folglich Forschergeist. Und ähnlich wie weite Teile der empirischen Forschung ohne digitale Unterstützungssysteme überhaupt nicht mehr möglich sind, können digitale Mittel auch Lehrkräften helfen, Potenziale zu erkennen.
Es gibt beispielsweise ein Projekt, in dem ein Algorithmus im Mathematikunterricht erkennt, was die Kinder bei einer Aufgabe nicht können. Ohne dass das Kind in irgendeiner Form beschämt wird, sagt er dem Kind, dass es offenbar diese Regel, die vor zwei Jahren in der Schule behandelt wurde, nicht mehr beherrscht, und gibt ihm Übungen für diese Regel. Und wenn es diese Regel erklärt bekommen und dann ein, zweimal angewendet hat, kommt die alte Aufgabe zurück. Dann schaut man erneut, ob das Kind diese Aufgabe lösen kann. Meistens ja – und wenn nicht, wird noch eine andere Regel identifiziert, die es nicht beherrscht. Dafür haben Lehrkräfte keine Zeit und die meisten auch nicht die Kompetenz. Auf der anderen Seite können solche digitalen Hilfen auch systematisch erkennen und speichern, was die Kinder beherrschen. Digitalisierung kann also helfen bei der individuellen Diagnose von Defiziten und Potenzialen und bei der individuellen Förderung derselben. Und das hilft den Kindern und der Lehrkraft. Das ist allerdings weitgehend eine Begleitung der Arbeit der Lehrkräfte und kein Ersatz.
Was Lehrkräfte richtig gut können, ist ein Klassenunterricht, in dem man 20 bis 30 ganz junge Menschen in eine Richtung lenkt. Eine hoch anspruchsvolle Aufgabe, die sie so gut wie niemand anderes machen. Aber Diagnostik und individuelle Förderung sind eine große Schwäche. Jetzt kann man sagen, dann müssen wir das ändern, die Lehrkräfte fortbilden und so weiter. Man kann aber auch sagen, hier liegt in den digitalen Mitteln ein riesengroßes Potenzial.
Es geht also darum, wie man digitale und analoge Formen des Lernens in der Schule ineinander verschränkt, auch und insbesondere damit für soziale und kommunikative Prozesse, die nicht digitalisiert werden können, mehr Raum bleibt. Selbst bei einem Fach wie Mathe muss man sich unterhalten, diskutieren und reflektieren – die meisten Menschen eignen sich erst über Kommunikation und Emotion Inhalte oder Fähigkeiten an.
In den vergangenen Monaten wurde vieles an der Schule und an den Lehrkräften kritisiert. Sind die Erwartungen an Lehrende zu hoch?
Ja, sie sind viel zu hoch. Im Augenblick erwarten wir von den Lehrkräften, dass sie für alles Experten sind. Für Gewaltprävention, für Rassismus, für Antisemitismus, für religiösen Fundamentalismus, für digitales Mobbing – egal, was gerade aktuell gesellschaftlich passiert, das sollen Lehrkräfte dann auffangen, und das in einem auf Kante genähten Schulsystem. Das funktioniert nicht. Internationale Studien zeigen, dass es kaum ein anderes Schulsystem gibt, das so stark wie das deutsche von Lehrkräften als professionellen Akteuren geprägt ist.
Deswegen wäre mein Hauptansatzpunkt, die Lehrkräfte in Ruhe zu lassen, aber nicht die Schulen. Nach dem quantitativen Ausbau des Ganztags sollten wir ihn stattdessen auch qualitativ mit multiprofessionellen Teams verbessern.
Aus wem sollten diese Teams bestehen?
Das sollte je nach Ort, Schulmilieu und Stadtteil relativ flexibel gehandhabt werden. Auf jeden Fall geht es um Soziale Arbeit und Psychologie, aber auch Handwerk, Sport, Kunst und Kultur müssen dabei sein und im Prinzip alles, was für Kindheiten und zum Ausgleich von ungleichen Lebenschancen wichtig ist. Dazu gehört für mich auch, dass Kinder in der Schule ein Musikinstrument erlernen und ästhetische Erfahrungen in umfassender Weise machen, aber eben auch, dass es um Gesundheit geht. Zum Beispiel, indem man systematisch mit medizinischem Personal kooperiert. Diese Fachkräfte könnten zum Beispiel die Vorsorgeuntersuchungen, die U-Untersuchungen, übernehmen, damit es nicht mehr von den Eltern abhängt, ob sie gemacht werden oder nicht. Das alles kostet gar nicht so viel Geld, denn das meiste Personal ist schon da. So geht etwa der vielfältigen Vereinslandschaft und den Musikschulen in Deutschland der Nachwuchs aus, weil die Kinder mittelmäßig betreut in Ganztagsschulen sitzen. Hier geht es in erster Linie um Umorganisation. Erst in zweiter Linie auch um Geld.
Was wünschen Sie sich von der Bildungspolitik für das Schuljahr 2020/21?
Beim letzten Shutdown wurden die Schulen als erstes geschlossen, beim nächsten sollten die Schulen als letztes schließen. Ich wünsche mir, dass man verschiedene Szenarien zur Entwicklung von Corona durchspielt, und in jedem Szenario ist das Mindestziel, dass jedes Kind jeden Tag mehrere Stunden zur Schule geht. Wichtig ist auch, dass man sich um Berufsschülerinnen und Berufsschüler kümmert, die dadurch, dass ihre Ausbildungsbetriebe sowie zukünftige mögliche Arbeitgeber von Insolvenz bedroht sind, sowohl von der Bildungskrise als auch von der Wirtschaftskrise unmittelbar betroffen sind.
Außerdem wünsche ich mir, dass kein Aktionismus im Hinblick auf die Digitalisierung stattfindet. Denn es ist überhaupt nicht trivial, digitale Medien einzusetzen, mit denen erstens die Kinder wirklich gut oder sogar noch besser lernen, die zweitens von den Lehrkräften akzeptiert, genutzt und gut eingebaut werden und die drittens den gesamten (regionalen) Kontext berücksichtigen, etwa die Internetversorgung vor Ort. Das muss unbedingt in Kooperation mit den Schulen und den Lehrerverbänden stattfinden und wissenschaftlich evaluiert werden.
Wir hatten historisch gesehen selten die Situation, dass das, was armen Kindern helfen würde, eigentlich von allen Akteuren in der Mehrheit befürwortet wird. Denn richtig gute Ganztagsschulen wären gut im Hinblick auf die Entlastung von Lehrkräften, für die Arbeitsmarkt- und Karrierechancen von Müttern und Vätern, für den Erhalt der deutschen Vereinslandschaft und des Kunst- und Kulturbereichs und vieles mehr. Deshalb sollten Schulen umfassend erweitert werden.
Das Interview wurde in leicht längerer Fassung zuerst auf