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Die Bedeutung von Freiheit und Sicherheit in Europa und in den USA

Gret Haller

/ 15 Minuten zu lesen

Der Beitrag zeigt die unterschiedlichen ideengeschichtlichen Traditionen zwischen Europa und den USA anhand der Begriffe Freiheit und Sicherheit auf. Um die Kluft zwischen beiden Kontinenten nicht weiter zu vertiefen, bedarf es eines intensiven Kulturdialogs.

Einleitung

Wenn man die Begriffe Freiheit und Sicherheit in ihrer unterschiedlichen Bedeutung oder Verankerung im europäischen und im US-amerikanischen Gesellschaftsverständnis vergleichen will, muss vorweg das unterschiedliche Rechtsverständnis diesseits und jenseits des Atlantiks thematisiert werden. Das kontinentaleuropäische Recht geht von Gesetzestexten aus, welche zunächst durch akademische Juristen sowie professionelle Gesetzgeber formuliert und schließlich durch die Parlamente verabschiedet werden. Erst danach werden sie durch Anwälte und Gerichte ausgelegt und angewendet. So unterscheidet man ganz elementar zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung, und das kontinentaleuropäische Recht bildet eigentlich ein Normensystem. Demgegenüber ist das angloamerikanische Recht ein Resultat der Zusammenarbeit von Anwälten und Richtern im Prozessgeschehen. Dabei geht es vor allem um die praktische Bewältigung konkreter Streitigkeiten. In dieser Rechtstradition wird Recht verstanden als lose geformte Masse von Regeln, Argumenten und Entscheidungen, die als Einzelfallentscheidungen in Erscheinung treten. In letzter Zeit findet im Übrigen eine zunehmende gegenseitige Beeinflussung der beiden Rechtstraditionen statt, man beginnt die Vorteile des jeweils anderen Systems zu entdecken.



Nun gibt es innerhalb des angloamerikanischen Rechtsbereiches eine unterschiedliche Entwicklung des englischen und des US-amerikanischen Rechts. Dabei geht es vor allem um die Mentalitätsunterschiede. Dem europäischen Betrachter, der von einer einigermaßen übersichtlichen Rechtsordnung ausgeht, erscheint das US-Recht als völlig chaotisch, dies auch wegen der föderalistischen Struktur dieses Staates, der oft auch im Bereich des Handelsrechtes von Gliedstaat zu Gliedstaat verschiedene Lösungen trifft. Dies ist keineswegs Zufall, sondern programmiert. Man erwartet vom Recht gar nicht, dass es überall gleich sei, sondern man will bewusst eine Auswahl haben. Veränderbarkeit ist wichtiger als Rechtssicherheit im europäischen Sinne. Die philosophische Denkrichtung des Pragmatismus hat von allem Anfang an die Rechtsentwicklung in den Vereinigten Staaten stark beeinflusst, d.h. man orientiert sich nicht an abstrakt-ethischen Prinzipien, sondern an den konkret-praktischen Wirkungen des Handelns, und danach richten sich auch die richterlichen Urteile.

Auch sind die Instrumentalisierung und die Politisierung des Rechts zu nennen, die bewusst und gewollt sind. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. In Europa werden gefährliche Güter durch Gesetze verboten. In den Vereinigten Staaten geschieht dies viel seltener. Wer Güter auf den Markt bringt, tut jedoch gut daran, sich genau zu informieren, wie gefährlich diese Güter sind, denn er riskiert Schadenersatzklagen, oft in der Form von Sammelklagen, wenn er ein gefährliches Gut vertrieben hat. Erreicht wird mit beiden Systemen dasselbe Ziel, nämlich dass keine gefährlichen Güter auf den Markt kommen sollen. Die Wege, dieses Ziel zu erreichen, sind aber völlig verschieden. Dies ist auch der Grund, weshalb in den Vereinigten Staaten viel höhere Schadenersatzsummen zugesprochen werden. Die so genannten punitive damages gehen sogar ganz bewusst weit über den entstandenen Schaden hinaus, denn sie sollen generalpräventiv wirken. Dasselbe erreicht man in Europa durch die Gesetzgebung, also durch einen Akt, der im Bereich der Politik angesiedelt ist. Mit dem Stichwort Politisierung sind nun grundlegendere transatlantische Unterschiede angesprochen, deren historische Wurzeln weit zurück bis ins 17. Jahrhundert gehen.

Mit dem Westfälischen Frieden kam in Europa 1648 ein Jahrhundert blutiger Religionskriege zum Abschluss. Europa hat damals den religiös oder moralisch begründeten Krieg geächtet und die Religion definitiv dem Staat untergeordnet. Gleichzeitig begann die Auswanderung nach Amerika. Die meisten Auswanderer wählten den Weg über den Atlantik aus wirtschaftlicher Not oder aus Abenteuerlust. Die wenigen, die aber eine weltanschauliche Motivation hatten, wollten genau diese neue europäische Rangordnung zwischen Staat und Religion nicht anerkennen. Insbesondere die puritanischen Pilgerväter verstanden ihre religiösen Gemeinschaften als eine öffentliche Ordnungsstruktur, die gar keinen Staat brauchte. Sie gingen von der Idee des auserwählten Volkes Gottes aus und lehnten jede staatliche Einmischung ab. So kam es in Amerika zur strikten Trennung von Kirche und Staat. Diese hatte nie den Sinn, den Staat vor der Religion zu schützen, wie das für Europa gilt. Es geht im Gegenteil darum, die Religion vor dem Staat zu schützen, denn in den Vereinigten Staaten steht die Religion über dem Staat.

Als im ausgehenden 18. Jahrhundert Nationalstaaten geschaffen wurden, entfaltete dieser Unterschied seine Wirkung. Die europäischen Nationen wurden ausnahmslos staatspolitisch begründet. Die US-amerikanische Nation begründet sich hingegen religiös und moralisch. Die religiöse Begründung äußert sich in der Vorstellung vom "auserwählten Volk Gottes" im alttestamentarischen Sinne, die moralische Begründung zeigt sich darin, dass diese Nation das Gute schlechthin verkörpere. Eine andere Begründung der amerikanischen Nation war gar nicht möglich, denn eine staatspolitische Identität im europäischen Sinne gibt es in den Vereinigten Staaten nicht, weil die Rangordnung zwischen Staat und Religion umgekehrt ist.

Diese umgekehrte Rangordnung hat sich auch ausgewirkt auf das Verhältnis zwischen Recht und Moral. In Europa sind Recht und Moral getrennt. Zwar spielen moralische Kategorien in der politischen Auseinandersetzung über die Gesetzgebung eine wichtige Rolle. Ist das Recht aber einmal in Kraft gesetzt, so wird es moralisch neutral. In Europa garantiert die Gewissensfreiheit, dass "gute" und "böse" Menschen rechtlich genau gleich behandelt werden, was immer man sich unter "gut" und "böse" auch vorstellen mag. Alle Menschen werden nur nach ihren Taten beurteilt und nicht nach ihrer Gesinnung. Der Straftäter zum Beispiel ist nicht böse, er ist nur rechtlich strafbar. Die Vereinigten Staaten kennen die Trennung von Recht und Moral im europäisch strikten Sinne nicht. So wird über Sammelklagen praktisch nie rechtlich entschieden, sondern der moralische Druck der Öffentlichkeit zwingt die Beklagten zum Abschluss eines Vergleiches. Straftäter gelten in den Vereinigten Staaten als moralisch verwerflich.

Weil sich die US-amerikanische Nation religiös und moralisch begründet, ist die mangelnde Trennung von Recht und Moral auch für das nationale Selbstverständnis von Bedeutung. Dieser transatlantische Unterschied wird heute vor allem im Völkerrecht sichtbar. Das Völkerrecht wurde in Europa ebenfalls im Westfälischen Frieden 1648 erfunden. Es ist eine zwischenstaatliche rechtliche Ordnung, der sich die Staaten freiwillig unterstellen, womit sie einen teilweisen Souveränitätsverzicht leisten. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt verweigern die Vereinigten Staaten immer systematischer die Teilnahme an völkerrechtlichen Verträgen. Sie bevorzugen die Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten von Fall zu Fall, und sie setzen die so genannte "Koalition der Willigen" an die Stelle der völkerrechtlichen Einbindung. Damit tritt aber die Moral an die Stelle des Rechts: Eine weltweite völkerrechtlich Ordnung muss nämlich moralisch neutral sein, damit sie ihr Ziel erreichen kann. Die UNO und die internationalen Vertragswerke müssen möglichst viele Staaten einbinden, ohne zu unterscheiden zwischen "guten" oder "bösen" Staaten. Die so genannte "Koalition der Willigen" ist hingegen ein moralisches Konzept, indem die "Willigen" zu Freunden der USA werden. Die "Willigen" sind die "Guten", die "Unwilligen" werden unterschiedlich benannt, das Spektrum reicht vom Begriff der "getrübten Freundschaft" bis hin zum so genannten "Schurkenstaat". All dies sind moralische Begriffe. Das Freund-Feind-Schema, das die Vereinigten Staaten heute zur Anwendung bringen, ist die direkte Gegenposition zu einer weltweiten völkerrechtlichen Einbindung. Die beiden Konzepte schließen sich gegenseitig aus.

Zum Ausdruck kommt das nationale Selbstverständnis vor allem im Begriff des "nationalen Interesses". Dieses ist nicht zu vergleichen mit dem, was alle europäischen Staaten unter dem selben Begriff überhaupt auch nur verstehen könnten. Wenn mit dem US-amerikanischen "nationalen Interesse" argumentiert wird, so ist implizit auch immer mitgemeint, dass es sich bei dieser Nation um das auserwählte Volk Gottes handelt. Und es ist mitgemeint, dass diese Nation für das moralisch "Gute" schlechthin steht. Das US-amerikanische "nationale Interesse" kann nicht mit europäischen Maßstäben der Moral gemessen werden, denn es stellt selber einen religiös begründeten, moralischen Maßstab dar. Dies ist nur erklärbar durch die umgekehrte Rangfolge von Staat und Religion in den Vereinigten Staaten. Soweit einige Aspekte des Rechtsdenkens in den Vereinigten Staaten sowie der ihnen zugrundeliegenden historischen Entwicklung.

Das europäische Denken dagegen geht von einer Rechtsordnung aus, und dies ist nur deshalb möglich, weil diese Ordnung dem Staat oder irgend einer Form von Staatlichkeit anvertraut werden kann. Wenn hier nicht nur vom Staat, sondern von "Staatlichkeit" die Rede ist, so soll damit ausgedrückt werden, dass es Staatlichkeit auf ganz verschiedenen Ebenen geben kann, in föderalistisch organisierten Staaten auch im Bereich der Kommunen oder der Gliedstaaten, in Europa aber auch auf der internationalen oder sogar supranationalen Ebene. Die Europäische Union ist das Beispiel einer neuen Form von Staatlichkeit, die nie zu einer Nationalstaatlichkeit werden wird: Europa wird nie eine Nation werden. Und dennoch ist auf dieser Ebene eine Staatlichkeit gleichsam "sui generis" gegeben, der man eine Rechtsordnung anvertrauen kann. Hat man hingegen ideengeschichtlich keinen Staat zur Verfügung, dem man die Rechtsordnung anvertrauen kann, oder ist die Staatlichkeit so negativ besetzt, dass man ihr das Recht lieber nicht anvertraut, so bleibt gar nichts anderes übrig als jenes Rechtsdenken, das sich in den USA entwickelt hat, und welches sich auch vom britischen diametral unterscheidet. Die Briten haben zur Staatlichkeit ein durchaus positives Verhältnis.

Es kann nicht verwundern, dass all diese transatlantisch so unterschiedlichen ideengeschichtlichen Ausgangspunkte in der Tendenz zu verschiedenen Konzeptionen von Freiheit und Sicherheit führen. Seit dem 11. September 2001 werden diese unterschiedlichen Wahrnehmungen immer deutlicher. In den Vereinigten Staaten sind "Freiheit" und "Sicherheit" die beiden zentralen Begriffe, um welche es in der Verfassung überhaupt geht. Nachzulesen ist dies in den "Federalist Papers", einer Streitschrift, welche gegen Ende des 18.Jahrhunderts von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay verfasst worden ist. Die Federalists bildeten damals jene Gruppe, welche eine Verstärkung der Zentralgewalt in den Vereinigten Staaten anstrebten. Sie setzten sich schließlich auch mehr oder weniger durch, und so bildet diese Publikation einen auch heute noch gültigen und sehr instruktiven Kommentar der US-amerikanischen Verfassung, welche aus der amerikanischen Revolution hervorgegangen ist. Die entsprechenden zentralen Begriffe der Französischen Revolution lauten "Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit", wobei "Brüderlichkeit" heute mit "Solidarität" übersetzt werden kann, was der damaligen Bedeutung am nächsten kommt.

Vergleicht man die Errungenschaften der amerikanischen Revolution mit jenen der Französischen Revolution, so stellt man zunächst einmal fest, welche Begriffe fehlen. Der amerikanischen Begrifflichkeit fehlt die Gleichheit und die Solidarität, während der französischen Begrifflichkeit die Sicherheit fehlt. Die historischen Umstände waren völlig verschieden, indem es in Frankreich darum ging, in einer bestehenden Ordnung den König zu entmachten und das Volk beziehungsweise seine Repräsentanten an dessen Stelle zu setzen, während in Amerika nach der Lossagung vom Mutterland eine neue Ordnung geschaffen werden musste, die sich von jener im Mutterland bewusst abheben sollte und dennoch nicht in die Anarchie führen durfte.

Ein ganz entscheidender Unterschied im Freiheitsverständnis ergibt sich aber im Zusammenhang mit den Besitzverhältnissen, und hier tritt zum religiösen Element ein wirtschaftliches hinzu, welches aber in genau die selbe Richtung zielt, so dass sich das religiöse und das wirtschaftliche gegenseitig verstärken. So, wie sich jenseits des Atlantiks die Freiheit zur Religion Hand in Hand mit der Freiheit vom Staat entwickelt hatte - während in Europa die Freiheit von der Religion durch die Freiheit zum Staat errungen worden war -, war nun hundert Jahre später jenseits des Atlantiks die Freiheit vom Staat wichtig, um die Freiheit zum Besitz und die Sicherheit des Eigentums zu garantieren. In den "Federalist Papers" wird wiederholt darauf hingewiesen, dass es Hauptaufgabe der Regierung sei, die unterschiedlichen Fähigkeiten zum Eigentumserwerb zu schützen. In diesem Denken haben die Gleichheits- und Solidaritätsvorstellungen der Französischen Revolution keinen Platz. Umgekehrt aber wird nun auch deutlich, inwieweit die Vorstellung der gleichen Würde aller Menschen eben notwendigerweise mit irgend einer Art von Staatlichkeit verknüpft ist. Der europäisch verstandene Staat ist auch Garant der Freiheit, aber die Freiheit, welche ein solcher Staat garantiert, ist immer eine relativ gleiche Freiheit. "Relativ gleich" deshalb, weil es auch in Europa Unterschiede zwischen den Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der Individuen gibt. Diese Unterschiede stehen aber in keinem Verhältnis zu den bewusst gewollten gesellschaftlichen Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten. Dass schließlich die Sicherheit in der Begrifflichkeit der Französischen Revolution eine kleinere Rolle spielt als in der amerikanischen, erscheint logisch. Der Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit ist kleiner, wenn die Staatlichkeit positiv apostrophiert und die Freiheit auch mit dem Element einer relativen Gleichheit verbunden ist. Erst wenn - wie in den USA - die Staatlichkeit so negativ besetzt ist, werden Freiheit und Sicherheit zu einem potentiellen Gegensatz: Freiheit kann sich der Einzelne alleine nehmen. Sicherheit kann er hingegen nicht alleine herstellen, dafür braucht es immer ein Minimum an Staatlichkeit.

Der unterschiedliche Freiheitsbegriff führt also auch zu einem unterschiedlichen Sicherheitsbegriff. Wenn Freiheit im europäischen Sinne mit dem Element einer relativen Gleichheit verbunden ist, dann ist auch Sicherheit mit diesem Element der relativen Gleichheit verbunden. Wenn umgekehrt Freiheit im US-amerikanischen Sinne diese Verbindung mit dem Element der relativen Sicherheit nicht eingegangen ist, fehlt dieses Element auch dem Begriff der Sicherheit. Und erst dann entsteht - wie oben erwähnt - in der Tendenz ein Widerspruch zwischen der so verstandenen Freiheit und der so verstandenen Sicherheit. Im Zusammenhang mit der Sicherheit stellt sich immer sofort die Frage, für wen diese Sicherheit geschaffen werden soll. Es kann die Sicherheit für eine einzelne Nation gemeint sein, jene für einen bestimmten Kontinent oder eine weltweit verstandene Sicherheit.

Global treten heute die verschiedenen Freiheitsbegriffe - und damit auch die verschiedenen Sicherheitsbegriffe - immer häufiger in Konkurrenz zueinander. Dabei ist es offen, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden. Einige Überlegungen insbesondere zur Rolle der europäisch geprägten Akteure seien im Folgenden genannt. Im Widerstreit der verschiedenen Begriffe sind jene, welche mit einer relativen Gleichheitsvorstellung verbunden bleiben, vielleicht doch nicht ganz chancenlos. Globalisierung hat auch zur Folge, dass immer mehr Bewohner dieses ganzen Planeten ihre Meinung einbringen. Und Dialog fördert ganz generell eine relative Gleichheit, denn schon der Akt des Miteinander-Kommunizierens hebt wenigstens formal alle Diskutanten auf dieselbe Ebene. Es ist kaum vorstellbar, dass der Freiheits- und Sicherheitsbegriff, wie er aus den "Federalist Papers" hervorgeht und in den USA nach wie vor nachhaltig wirksam ist, langfristig gesehen eine globale Verwendung finden wird. Zum einen sind diese Begriffe in einer historisch speziellen Situation entstanden, welche sich nicht wiederholt hat und sich in dieser Form auch nicht mehr wiederholen kann. Und zum anderen hat sich die Rolle Europas in der Welt gegenüber damals stark verändert: Wenn Europa glaubwürdig bleiben will, wird es seine Freiheits- und Sicherheitskonzeption - also die mit einer relativen Gleichheit verbundene - auch weltweit einbringen müssen. Europa wird also kaum den Weg beschreiten können, dieser Konzeption nur im Innenverhältnis zu folgen.

Wie sehr sich die Rolle Europas verändert hat, sei durch ein Zitat aus den "Federalist Papers" belegt, welches übrigens auch ein Beispiel darstellt für den schon vor mehr als zweihundert Jahren angelegten Missionseifer jenseits des Atlantiks: "Unglücklicherweise - für die anderen drei Teile (Afrika, Asien und Amerika) - hat Europa durch Waffen und Verhandlungen, durch Gewalt und Betrug in unterschiedlichem Grad seine Vorherrschaft über sie alle ausgedehnt. Afrika, Asien und Amerika haben nacheinander seine Herrschaft zu spüren bekommen. Seine lange aufrechterhaltene Überlegenheit hat Europa dazu verführt, sich als Herr der Welt aufzuspielen und den Rest der Menschheit als zu seinem Wohl geschaffen zu betrachten. (...) Die Fakten haben diese arrogante Anmaßung der Europäer zu lange gestützt. Es ist an uns, die Ehre der menschlichen Rasse zu verteidigen und jenen anmaßenden Bruder Bescheidenheit zu lehren. Die Union wird uns in die Lage versetzen, dies zu tun. Spaltung hingegen wird seinem Triumph einen neuen hinzufügen. Lasst uns mit Verachtung zurückweisen, ein Werkzeug europäischer Größe zu sein! Lasst die dreizehn Staaten, zusammengefügt in einer festen und unauflösbaren Union, im Aufbau eines einzigen großen amerikanischen Systems zusammenwirken, das keiner Beherrschung durch die Macht oder den Einfluss transatlantischer Kräfte mehr unterliegt und dazu in der Lage ist, die Bedingungen zu diktieren, unter denen sich alte und neue Welt verbinden! Publius (Hamilton)."

Dieser Text ist zweihundert Jahre alt. Es kann behauptet werden, dass die Wünsche von Alexander Hamilton in Erfüllung gegangen sind, allerdings nicht ganz in dem vor zweihundert Jahren gedachten Sinne. Es fand gleichsam ein Rollentausch statt, indem heute in vielen Teilen der Welt den Vereinigten Staaten gegenüber die selben Gefühle wachsen, welche Hamilton damals Europa gegenüber formuliert hat. Wichtiger für den weltweiten Umgang mit Freiheit und Sicherheit sind aber die Veränderung, welche Europa in dieser Zeitspanne durchgemacht hat. Die "Federalist Papers" wurden vor der Französischen Revolution verfasst. Und der Verlauf dieser Revolution - ungleich vielschichtiger, komplizierter und blutiger als jener der amerikanischen - konnte nicht vorausgeahnt werden. Sehr vereinfacht betrachtet unterscheiden sich die beiden Revolutionen dadurch, dass in Frankreich die soziale Frage einbezogen wurde, während in Amerika die unterschiedlichen Besitz- und Einflussverhältnisse bewusst nicht angetastet werden sollten, sondern als solche festgeschrieben wurden.

Dass und inwiefern dieser Unterschied sowohl auf religiöse als auch auf ökonomische Gründe zurückgehen, wurde bereits erwähnt. Der Einbezug oder Nicht-Einbezug des Elementes einer relativen Gleichheit in die Begrifflichkeit sowohl der Freiheit als auch der Sicherheit sind der augenscheinlichste transatlantische Unterschied, zu dem der unterschiedliche Verlauf der beiden Revolutionen geführt hat.

Im Kalten Krieg bedienten sich die Vereinigten Staaten notwendigerweise verschiedener europäisch geprägter Verteidigungsmethoden, so insbesondere der völkerrechtlichen Einbindung des militärisch bedrohlichen Gegners, der auch die eigene Einbindung verlangt. Dies hatte wenigstens im Außenverhältnis die Ausrichtung auf eine europäischere Begrifflichkeit von Freiheit und Sicherheit zur Folge, welche erst mit der Implosion der Sowjetunion weggefallen ist. Die so deutliche Erfahrbarkeit der transatlantischen Unterschiede ist also relativ neu, so dass sich das Bewusstsein darüber, dass die Wurzeln dieser Unterschiede zeitlich so weit zurückreichen, erst langsam ausbreitet. Während des Kalten Krieges hatten Europäerinnen und Europäer keinen Anlass, sich mit transatlantischen Unterschieden auseinanderzusetzen, und sie hätten sich verständlicherweise gehütet, derartige Überlegungen auch nur anzustellen. Heute ist dies jedoch unabdingbar geworden.

Abschließend soll noch auf zwei Problemkreise hingewiesen werden, die sich aus dieser Ausgangslage ergeben. Zum einen stellt sich die Frage, wie unter diesen Umständen der transatlantische Dialog weitergeführt werden kann. Dieser Dialog ist schon deshalb unerlässlich, weil in vielen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit die Interessen der Vereinigten Staaten mit jenen Europas weitgehend identisch sind. Aber auch in jenen Bereichen, in welchen sie offensichtlich nicht oder nicht mehr ganz identisch sind - wie zum Beispiel im Bemühen um eine Stärkung des Völkerrechts -, erscheint es als umso wichtiger, miteinander im Gespräch zu bleiben, denn die europäischen Staaten werden alles daransetzen, die Partner jenseits des Atlantiks wieder vermehrt in eine weltweite Zusammenarbeit einzubinden.

Nun kann man die Randbedingungen unterschiedlich bewerten, welche diesen Dialog erschweren oder erleichtern könnten. Sicher erscheint es zunächst als eine zusätzliche Schwierigkeit, wenn sich die europäische Seite bewusst wird, wie unterschiedlich die Ausgangspunkte sind, und dies aufgrund einer jahrhundertelang verschiedenen ideengeschichtlichen Entwicklung, welche man während des Kalten Krieges aus verständlichen Gründen nicht hat wahrnehmen können. Wollte man jedoch umgekehrt die Unterschiede, die in den vergangenen Jahren so deutlich zu Tage treten, einfach ignorieren und sich so verhalten, als ob der Westen dies- und jenseits des Atlantiks eine absolut identische Wertegemeinschaft darstellen würde, so wäre dies für die Weiterführung des Dialogs mit den Vereinigten Staaten noch viel gefährlicher. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte betreffen so zentrale Fragen im Bereich der Wertskalen, dass Illusionen in diesem Bereich den Dialog grundlegend gefährden, wenn nicht über kurz oder lang sogar unmöglich machen würden.

Zum anderen wird gelegentlich auf Umfragen verwiesen, nach denen - auch in Europa - die Sicherheit vielen Menschen zur Zeit viel wichtiger sei als die Freiheit, dass sie mit anderen Worten eine Freiheitseinschränkung um den Preis der Sicherheit in Kauf nehmen würden. Hier ist Vorsicht geboten. Es muss zunächst geklärt werden, welche Freiheit gemeint ist, und an welche Sicherheit dementsprechend gedacht wird. Ist der Freiheitsbegriff nach europäischem Muster mit der Vorstellung einer relativen Gleichheit verbunden, verbindet sich auch der Sicherheitsbegriff mit der Vorstellung einer relativen Gleichheit, und vor allem bilden die beiden Begriffe nicht mehr in der Weise einen Gegensatz, wie sie es tun würden, wenn die Vorstellung einer relativen Gleichheit fehlt. Werden in einer Fragestellung die beiden Begriffe in einem diametralen Gegensatz oder gar als unvereinbar präsentiert, so kommt darin leicht ein Muster zum Ausdruck, welches aus den dargelegten Gründen viel mehr ein US-amerikanisches als ein europäisches Grundwertverständnis zum Ausdruck bringt. Im Zusammenhang mit den Begriffen Freiheit und Sicherheit liegen die Dinge etwas komplizierter, als man zunächst annehmen möchte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag beruht auf einem redigierten Text eines Vortrages, der im Rahmen der Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung zum Thema "Freiheit und Sicherheit. Transformation als gesellschaftliche Herausforderung" im Kardinal-Schulte-Haus in Bensberg gehalten worden ist.

    Vgl. zum Folgenden Mathias Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts - Versuch einer historischen Erklärung, in: Knud Krakau/Franz Streng (Hrsg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA und Deutschland im Vergleich, Heidelberg 2003, S. 28ff.

  2. Für eine eingehendere Darstellung vgl. Gret Haller, Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002.

  3. Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist-Artikel, hrsg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u. a. 1994, sowie Barbara Zehnpfennig, Die Federalists zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend: Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996, S. 301.

  4. Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist papers. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, S. 43.

  5. Ebd., S. 106.

  6. Hannah Arendt weist darauf hin, dass nur die amerikanische und die ungarische Revolution die soziale Frage ausgeklammert hätten. Dies., Über die Revolution, München 1974, S. 142.

Dr. jur., Dr. rer. publ. h.c., geb. 1947; seit 2007 Lehrbeauftragte am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität und Mitglied der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht des Europarates ("Venedig-Kommission"), Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: Haller@jur.uni-frankfurt.de