Einleitung
Eine Vielzahl von Kommentatoren, Journalisten und Autoren haben die Auswirkungen auf die europäisch- und deutsch-amerikanischen Beziehungen im Vorfeld des Irakkrieges und unmittelbar danach analysiert. Es ist jetzt schon offensichtlich, dass sich viele davon als kurzsichtig erwiesen haben.
Welche langfristigen Auswirkungen und Schäden von der Bush-Regierung verursacht wurden, ist noch nicht absehbar. Trotz - aber vielleicht auch wegen - des Irakkriegs ist die islamistische Bedrohung eher größer als kleiner geworden. Selbst eine Supermacht tut sich schwer, die immensen Kriegskosten zu schultern, finanziell wie psychologisch. Welche Lehren lassen sich aus den jüngsten transatlantischen Auseinandersetzungen für die Zukunft speziell der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA ziehen?
Warum kam es zur transatlantischen Entfremdung?
Bevor Aussagen über mögliche Entwicklungen gemacht werden, müssen die Ursachen bekannt sein, die zu ihnen geführt haben. Was waren die wichtigsten Triebfedern für die deutsch-amerikanische Entfremdung im Gefolge des Irakkrieges? Sehr vereinfacht wurden insbesondere drei Ursachen benannt: subjektive, strukturelle und politisch-kulturelle.
Die subjektive Erklärung konzentriert sich auf Unterschiede in den Persönlichkeiten der beteiligten Akteure und auf kurzfristige Ereignisse, die Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse begünstigen. So offenbarten George W. Bush, Dick Cheney und Ronald Rumsfeld nicht nur einen für Gerhard Schröder oder Jacques Chirac kaum akzeptablen Führungsanspruch - nach dem Motto: wer nicht mit uns ist, ist gegen uns -, sondern befleißigten sich von vornherein eines Führungsstils, der die europäischen Verbündeten befremden musste. Dazu gehörte etwa die in religiöse Beschwörungsformeln gekleidete Sicherheitsstrategie.
In der Tat zeigen Momentaufnahmen der damaligen Zeit, bis hin zum Bush-Besuch in Mainz, eine nur mühsam verborgene persönliche Verstimmung. Aber solche persönlichen Unterschiede existierten auch schon früher, etwa zwischen Jimmy Carter und Helmut Schmidt, ohne dass daraus weiterreichende Verstimmungen erwachsen wären. Auch in Vietnam, Nicaragua oder im Iran (um den Schah auf den Thron zu setzen) wurde das Recht der USA betont und durchgesetzt, aufgrund seiner Einzigartigkeit unilateral handeln zu dürfen.
Das veränderte Verhalten der Führungspersonen wird möglicherweise besser durch gewandelte Umstände verständlich. Dies beansprucht die strukturelle Erklärung. In der Tat änderte das Ende des Kalten Krieges die Beweggründe für das transatlantische, politische und militärische Bündnis auf beiden Seiten.
Weitere neue Bedingungen kommen hinzu, etwa die strukturelle Hegemonie der konservativen Partei im Süden und Mittleren Westen der USA, eine Verlagerung der Handelsströme weg von Europa-USA hin zu Europa-Asien und USA-Asien. In Europa erwies sich die Europäische Union als attraktiver Schwerpunkt, während in den USA der militärisch-(öl)industrielle Komplex an Einfluss gewann. Gesellschaftliche Unterschiede wie in der demographischen Entwicklung kommen hinzu.
Aber nicht alle diese Wandlungsprozesse weisen auf einen größeren Abstand zwischen den USA und Europa hin. Beispielsweise führt der gestiegene Handel mit China auch zu gemeinsamen Interesse diesseits und jenseits des Atlantiks, China zum stärkeren Schutz von Eigentums- und Patentrechten zu bewegen. Allgemeiner gesprochen: Wandlungsprozesse bedürfen ihrer Interpretation, bevor sie politisch wirksam werden.
Der politisch-kulturelle Ansatz untersucht solche Interpretationsmuster. Er analysiert den Einfluss von Weltsichten und Hintergrundannahmen auf die gewählte Entscheidung.
Allerdings weist auch dieser Ansatz einige Schwächen auf. So sind Gesellschaften in ihren Wertemustern weder homogen noch statisch. Sie sind Veränderungen unterworfen und können widersprüchlich sein. Es ist daher meist willkürlich, aus der kulturellen Gemengelage bestimmte Aspekte als besonders folgenreich hervorzuheben. Auch können sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen untereinander unterscheiden. Gleiches gilt für die Eliten. Zudem müssen auch in demokratischen Systemen die politischen Eliten keineswegs immer der breiten öffentlichen Meinung folgen. So beteiligten sich Spanien, Italien und auch Großbritannien und Dänemark trotz seiner überdeutlichen Unpopularität am Irakkrieg, was aber unmittelbar - nach den Bombenanschlägen von Madrid - nur zur Abwahl der Aznar-Regierung in Spanien führte.
Somit lassen sich zu einem beobachtbaren Trend in den Wertemustern stets vermeintliche Gegenbeispiele finden. Dennoch erscheint ein politisch-kultureller Zugang im Fall der deutsch-amerikanischen "Krise" zwischen 2002/2005 als lehrreich. Mehrere Indizien sprechen dafür, nach den kulturellen Untertönen der diplomatischen Ereignisse zu fragen: Die deutsche Reaktion auf die amerikanischen Kriegsvorbereitungen waren - gemessen an Deutschlands Vergangenheit als treuer Verbündeter - nicht nur ungewöhnlich deutlich. Ungewöhnlich auch war die breite Übereinstimmung zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung. Sie ging soweit, dass kritische Intellektuelle vom Schlag eines Jürgen Habermas oder Günter Grass
Politisch-kulturelle Unterströmungen
Im Fall der deutsch-amerikanischen Entfremdung bietet sich als eine einfache politisch-kulturelle Erklärung diejenige an, die Öffentlichkeit Europas, seine Eliten und Medien seien tendenziell pazifistisch gestrickt, während die USA den 11. September als militärische Herausforderung verstanden habe, auf die es ebenso reagieren müsse. Ein Beispiel dafür ist die bekannt gewordene Unterscheidung von Robert Kagan
Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der französischen Afrikapolitik oder Großbritanniens Entschlossenheit im Falklandkrieg lässt diese Sichtweise fragwürdig erscheinen. Auch die deutsche Öffentlichkeit ließ sich im Fall der NATO-Bombardierung Serbiens durchaus zur Unterstützung eines -im Übrigen formal völkerrechtswidrigen - Militäreinsatzes bewegen. Über 7 000 deutsche Soldaten sind derzeit ständig im Auslandseinsatz. Schließlich werde, so der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, "Deutschland am Hindukusch verteidigt".
Eine andere, politisch-kulturelle These geht von einem untergründig stets vorhandenen Antiamerikanismus aus, der sich anlässlich des Irakkriegs Bahn gebrochen habe.
Zunächst einmal: Was ist und wie misst man Antiamerikanismus? Wenn man bereits einzelne Einstellungen gegenüber diesem oder jenem Attribut des amerikanischen politischen, kulturellen oder sozio-ökonomischen Systems oder gar gegenüber der politischen Führung als Antiamerikanismus definiert, wird man überall Antiamerikanismus erblicken.
Zumindest nach den Ergebnissen der Meinungsforschung vermag die These, dass Antiamerikanismus im Zentrum der deutschen Haltung zum Irakkrieg gestanden habe, nicht zu überzeugen. Richtig ist, dass die Europäer - zumal die Deutschen - der Politik von Präsident Bush ausgesprochen kritisch gegenüber stehen. Diese Kritik hat zweifellos auch zu einem deutlichen Ansehensverlust der USA insgesamt geführt. Dennoch unterscheiden die Deutschen weiterhin zwischen dem Präsidenten und den amerikanischen Bürgern: Nur 30 Prozent schätzen gegenwärtig das Image der Vereinigten Staaten als positiv ein, gleichzeitig beurteilen jedoch 63 Prozent die Amerikaner
Nach den Gründen für die verschlechterten Beziehungen gefragt, gaben die Deutschen an, dass dies in erster Linie am Krieg im Irak (37 Prozent) und an der Person des Präsidenten (41 Prozent) liege.
Es sei keineswegs behauptet, dass es Antiamerikanismus überhaupt nicht (mehr) gibt. In den vergangenen 40 Jahren gaben zirka zehn Prozent der Deutschen, Briten, Franzosen und Italiener an, eine schlechte oder sehr schlechte Meinung von "den" Amerikanern zu haben. Der Anteil schwankt, aber die Fluktuation über die Zeit ist in allen vier Ländern die gleiche. Einen ersten Einbruch gab es 1954, insbesondere in Frankreich im Gefolge der franko-amerikanischen Krise, dann in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre im Gefolge der Suez-Krise. Einen dritten Höhepunkt erlebte der "Antiamerikanismus" zwischen 1971 und 1976 als Konsequenz des Vietnamkriegs und der Währungskrise und schließlich in den frühen 1980er Jahren in Zusammenhang mit der Raketenstationierung. 2003 brachte der zweite Irakkrieg in allen vier Ländern den höchsten Anstieg. Allerdings kommt - wie schon in der Vergangenheit - die grundsätzliche Sympathie der großen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Amerikanern schnell wieder zum Vorschein.
Es sei auch zugestanden, dass Meinungsumfragen nicht die einzige oder beste Methode sind, Stereotypen und Vorurteilen auf die Spur zu kommen. Meinungen sind flüchtig, und Meinungsumfragen können daher nur ein ungenaues Messinstrument für politische Kulturen sein. Doch auch andere Erhebungsmethoden
Transatlantisches Wertefundament in Gefahr?
In den Meinungsumfragen und in den anderen Erhebungsmethoden treten aber auch aktuelle Differenzen in den Einstellungen diesseits und jenseits des Atlantiks zu Tage. Sie beziehen sich eher auf die Wahl der Mittel als auf die angestrebten Ziele. So wollen Europäer und Deutsche dem Iran weniger häufig mit Gewalt drohen, sollte er an seinem Atomprogramm festhalten. Generell finden militärische Optionen weniger oft Zustimmung, wie zum Beispiel Kampfeinsätze gegen die Taliban.
Unterschiede zwischen Europa und Amerika im Verständnis nationalstaatlicher Souveränität oder in den Einstellungen gegenüber dem Sozialstaat und der Religion sind nicht neu. Seymour Lipset
Wie aber sind diese Unterschiede zu deuten? Bildet sich nach dem amerikanischen Glauben an die eigene Ausnahmeerscheinung ein eigenständiges europäisches Wertefundament der Harmonie und der sozialen Verträglichkeit im Kontrast zum amerikanischen Hegemonialkapitalismus heraus?
Oder aber ist das Wort vom atlantischen Wertefundament nur Schall und Rauch, gut allenfalls für politische Sonntagsreden?
Dafür spricht schon ein Blick auf die Größenverhältnisse der Differenzen. Unterschiede zwischen Werten sind nicht absolut, sondern erschließen sich erst im vergleichenden Bezug. Es ist aber offensichtlich, dass die Unterschiede zwischen Europa und den USA im Vergleich zur grundsätzlichen Geisteshaltung Chinas, Russlands oder Saudi-Arabiens eine untergeordnete Rolle spielen.
Eine andere Interpretation scheint daher naheliegender. Zwar ist die Wertegrundlage geteilt, aber über die geteilte Wertegrundlage wird oft übersehen, dass diese Werte unterschiedlich interpretiert werden. Daraus können "strukturierte Missverständnisse"
Warum aber ist die Möglichkeit von Missverständnissen und gegenseitiger Falschwahrnehmung im vergangenen Jahrzehnt gestiegen? Auf beiden Seiten gibt es weniger Politiker, die ein tieferes Verständnis für die Traditionen ihrer transatlantischen Amtskollegen haben. Dies lässt sich gut mit dem subjektiven und dem strukturellen Ansatz verbinden. Gewiss kam 2001 eine neue Generation von Diplomaten und Fachleuten mit weniger ausgeprägten europäischen Bindungen in Washington ins Amt und vielleicht vollzieht sich derselbe Prozess in Europa und Deutschland. Zugleich sinkt mit der wechselseitigen Wichtigkeit auch die Anzahl der Lehrstühle und Forschungseinrichtungen, die sich miteinander beschäftigen. Vor allem aber geht die Anzahl der Studierenden in den betreffenden Fächern zurück, da sie weniger hoffen dürfen, mit solcher Expertise Karriere zu machen.
Was ist zu tun?
Angesichts der bisherigen Erfahrungen sind wir der Überzeugung, dass starke transatlantische Bande und eine langfristige, strategische Partnerschaft aus Gründen der globalen Sicherheit, der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Erfolgs erstrebenswert bleiben. Die Sicherung deutsch-amerikanischer Beziehungen im neuen Jahrhundert sollte sich daher auf jenen Bereich der politischen Kultur konzentrieren, der oft übersehen wird, nämlich auf die unterschiedliche Interpretation fundamental ähnlicher Werte. Was kann getan werden, um eine aus solchen Interpretationsunterschieden resultierende langfristige Entfremdung zu vermeiden? Erstens gilt es, die Unvermeidlichkeit und vielleicht sogar die Erwünschtheit von Differenzen in den politischen Kulturen, gesellschaftlichen Prioritäten und nationalen Interessen anzuerkennen. Europäische Selbstgefälligkeit und amerikanisches Sendungsbewusstsein sind sowohl im wohlverstandenem Eigeninteresse als auch im gemeinsamen Interesse, das Gewicht der westlichen Wertegemeinschaft global zu stärken, kontraproduktiv. Dies umso mehr, als beide Seiten sich mit der konsequenten Umsetzung der von ihnen proklamierten Werte schwer tun. Zweitens ist es notwendig, zu verstehen, dass diese Unterschiede kein Hindernis für einen beständigen und gegenseitig förderlichen Austausch oder sogar für den Aufbau einer besonderen Beziehung sind, solange eine Atmosphäre von wechselseitigem Vertrauen, Respekt und Toleranz herrscht, in der Gemeinsamkeiten anerkannt werden. Allerdings setzt dieser Ansatz voraus, dass Amerikaner und Europäer und ihre jeweiligen Regierungen einen genaueren Blick auf ihre gemeinsamen humanistisch-universalistischen, normativen Orientierungen und Ziele werfen, welche in ihre politische Kultur eingebettet sind. Drittens sollte für einen lebhaften transatlantischen Austausch neben den üblichen Wegen der Diplomatie und der Politik auch von zwischenmenschlichen Freundschaften und Interaktionen Gebrauch gemacht werden, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, und außerdem vom dichten Beziehungsgeflecht und Austausch ziviler Organisationen, die sich von Familien über Hochschulen und Bildung hin zu den Unternehmen, Forschung, Journalismus, Kunst, Sport, Städtepartnerschaften und dem Tourismus erstrecken. Gerade weil die Anzahl derer abnimmt, die zwischen den unterschiedlichen Interpretationen des transatlantischen Wertefundaments vermitteln können, kommt den bürgerschaftlichen Beziehungen gegenüber der großen Politik eine besondere Bedeutung zu. Hier sind auch (Aus-)Bildungsinstitutionen gefragt.
Das gemeinsame transatlantische Wertefundament ist noch nicht in Gefahr. Es bedarf aber der Pflege. In der Vergangenheit geschah dies angesichts der deutsch-amerikanischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die ein dichtes transatlantisches Wurzelgeflecht entstehen ließ, quasi naturwüchsig. Doch diese Phase ist zu Ende.