Einleitung
Seit Beginn der 1990er Jahre verzeichnen die USA ein steigendes Leistungsbilanzdefizit, das im Wesentlichen auf einem riesigen Handelsbilanzdefizit beruht.
Im Fall der USA ist die Lage paradox. Eines der reichsten Länder der Welt lebt in hohem Maße von Kapitalzuflüssen aus dem Rest der Welt, und zwar zunehmend aus Schwellenländern wie China. Andererseits sind die USA seit langem die Konjunkturlokomotive der Welt. Sie bescheren der Weltkonjunktur ein kräftiges Nachfragewachstum. Seit etwa zehn Jahren erlebt die Weltwirtschaft, parallel zum Anstieg des Leistungsbilanzdefizits der USA, den größten Wachstumsboom seit den 1960er Jahren. Anders als in hochverschuldeten Entwicklungsländern gibt es in den USA bislang keinerlei Anzeichen für Zahlungsunfähigkeit. Allerdings gehen die meisten Analysten davon aus, dass die Entwicklung zunehmend riskanter wird und Korrekturen notwendig sind.
In diesem Aufsatz wird die Auffassung vertreten, dass die US-Entwicklung ein globales Ungleichgewicht ausdrückt, welches einerseits die Folge einer ungeordneten Globalisierung der Finanzmärkte ist, andererseits Ergebnis einer mangelhaften Weltwährungsordnung; dass marktmäßige Korrekturmechanismen nur spät und dann aber krisenhaft wirken, so dass multilaterale, international koordinierte Gegenmaßnahmen nötig werden.
Empirischer Überblick
Seit 1992 steigt das US-Leistungbilanzdefizit, ausgehend von einem Gleichgewicht, forciert durch eine kräftige reale Aufwertung
Seit der Asienkrise 1997 haben die Leistungsbilanzüberschüsse Chinas, anderer Schwellenländer, Japans sowie in den letzten Jahren die Überschüsse der Ölförderländer enorm zugenommen (vgl. Abb. 2 der PDF-Version). Dass die Eurozone einen nahezu ausgeglichenen Leistungsbilanzsaldo hat, liegt daran, dass Deutschlands hoher Überschuss von 5,3 % des BIP (2006) statistisch die Defizite vieler anderer europäischer Länder ausgleicht.
Folgende Tabelle macht für das Jahr 2006 deutlich, dass das US-Defizit im Kern durch die Kapitalexporte Chinas, der Ölförderländer, Japans und teilweise auch Deutschlands finanziert wird. Nach Jahrzehnten hoher Leistungsbilanzdefizite trägt selbst Afrika zum weltweiten Kapitalexport in die USA bei, die quasi magnetisch Kapital aus aller Welt anziehen. Auf die USA entfallen ca. 75 % der zusammengefassten Leistungsbilanzdefizite der Welt, während der Anteil Amerikas an der Weltproduktion bei 28 % liegt (2005).
Der rechte Teil der Tabelle zeigt den hohen Bestand an Währungsreserven Ende 2007, der in den vergangenen zehn Jahren nach der Asienkrise, ausgehend von einem viel niedrigeren Niveau, in den Überschussländern aufgebaut wurde. Die Reserven sprengen alle Maßstäbe, die traditionell von Notenbanken angelegt werden. Sie lassen sich einerseits mit Angst vor erneuten Währungs- und Finanzkrisen erklären, in denen der Wechselkurs mit Dollarverkäufen verteidigt werden könnte, andererseits resultieren sie aus der Anbindung vieler Währungen an den US-Dollar auf einem Niveau, das anhaltende Exportüberschüsse gestattet.
Obwohl die USA, wie erwähnt, das größte Nettoschuldnerland der Welt sind, hielten sich Ausgaben für Zinsen, Dividenden etc. an das Ausland und Einnahmen aus Auslandsvermögen die Waage. Diese ungewöhnliche Balance, die die Kosten der steigenden Nettoauslandsverschuldung de facto auf Null gesenkt hat, beruht vor allem auf zwei Sachverhalten: Das hohe Auslandsvermögen der USA umfasst in höherem Maße als das Vermögen der Ausländer in den USA Direktinvestitionen multinationaler Gesellschaften, die eine deutlich höhere Rendite als Staatsanleihen und Kredite erzielen. Hinzu kommt, dass die Erträge aus Auslandsvermögen häufig in ausländischer Währung entstehen, die mit jeder Abwertung des US-Dollar im Wert zunehmen; umgekehrt sind die Verbindlichkeiten der USA in heimischer Währung fakturiert und damit von Wechselkursänderungen unabhängig.
Ursachen
Einige Beobachter halten das US-Leistungsbilanzdefizit und die zugrunde liegende weltwirtschaftliche Konstellation für einen Ausdruck schwindender Marktkräfte in Zeiten der Globalisierung. Einzelne Länder können heute globale Finanzmärkte in großem Stil nutzen und hohe Leistungsbilanzdefizite auch über längere Phasen finanzieren. So argumentiert beispielsweise Alan Greenspan, ehemaliger Chef der amerikanischen Notenbank Federal Reserve, dass das US-Defizit das große Vertrauen der Welt in die Kreditwürdigkeit und Solidität der amerikanischen Volkswirtschaft signalisiere; daher seien politische Korrekturen nicht nötig.
Auch Michael P. Dooley, David Folkerts-Landau und Peter M. Garber sehen die Ursachen des US-Defizits bei den Überschussländern.
Die meisten Beobachter teilen diese optimistischen Auffassungen jedoch nicht. Sie sehen vielmehr die Ungleichgewichte als nicht nachhaltig an und fordern politische Korrekturen. Maurice Obstfeld beispielsweise betrachtet das US-Leistungsbilanzdefizit als globales Problem, das zu einer "harten Landung" mit abrupten Wechselkursanpassungen führen kann.
Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der das US-Defizit ebenfalls kritisch sieht, diagnostiziert als wichtigste Ursache eine zu expansive, also konjunkturstimulierende Geld- und Fiskalpolitik in den USA, die wie ein globales Konjunkturprogramm wirke, verstärkt durch die außenhandelsorientierte Wechselkurspolitik asiatischer Länder und die hohen Leistungsbilanzüberschüsse der Ölförderländer.
Besonders in den USA ist die Haltung weit verbreitet, in der chinesischen Wechselkurs- und Handelspolitik den Hauptschuldigen zu sehen. In der Tat gehen ca. 30 % des Handelsdefizits der USA auf den US-China-Handel zurück (2006). Der für 2007 geschätzte Leistungsbilanzüberschuss Chinas von 11,7 % des BIP scheint diese Position zu bestätigen. Dennoch ist die Fokussierung auf China übertrieben:
Chinas Außenhandelsüberschüsse waren gering, erst in den letzten Jahren sind sie extrem gestiegen.
Der enorme Anstieg der Devisenreserven Chinas kam, abgesehen von den Handelsüberschüssen der letzten Jahre, in erster Linie durch die Nettokapitalzuflüsse infolge der ausländischen Direktinvestitionen zustande, er ist nicht Ausdruck der Handelspolitik.
Gegenüber vielen regionalen Nachbarländern hat China ein Leistungsbilanzdefizit - China ist über Wertschöpfungsketten mit diesen asiatischen Ländern verbunden; da die Fertigungstiefe chinesischer Exporte recht gering ist (hoher Importgehalt der Exporte), bedürfte es vermutlich einer extrem starken Aufwertung des chinesischen Renminbi, um eine spürbare Wirkung auf die Exporte in die USA zu haben.
Obwohl der Euro deutlich gegenüber dem Renminbi aufgewertet hat, hat Europa viel geringere Handelsdefizite mit den USA - offenbar hat sich Europa im industriellen Strukturwandel mit Schwellenländern im Durchschnitt besser auf den globalen Wettbewerb eingestellt als die USA. Dies verweist auf industriepolitische Anpassungsdefizite in Amerika.
Der einseitige Blick auf China verdeckt die ähnliche Rolle vieler anderer Entwicklungsländer und blendet die Außenhandelspolitik Japans völlig aus.
Eines ist bei aller Komplexität der Ursachen klar: Das US-Leistungsbilanzdefizit ist nicht allein ein Problem der USA, denn viele Akteure sind beteiligt. Hintergrund des Problems ist, dass die Globalisierung der Finanzmärkte die Finanzierung selbst riesiger Leistungsbilanzdefizite über längere Zeiträume möglich gemacht hat. In den meisten Fällen von Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen sich Leistungsbilanzdefizite aufgebaut haben, die durch private Anleger finanziert wurden, kam es früher oder später zu heftigen Währungskrisen, die mit der Wechselkursanpassung (Abwertung) zu umfassenden Finanzkrisen und schweren Rezessionen ausarteten wie im Fall der Asienkrise 1997. Allerdings haben die USA im Gegensatz zu den meisten Entwicklungsländern die Möglichkeit, sich in eigener Währung zu verschulden, die als Weltreservewährung anerkannt ist.Wenn sich jedoch die Finanzinvestoren der ganzen Welt sowie die Notenbanken der Überschussländer entscheiden, Finanzanlagen zulasten des US-Dollars und zugunsten anderer wichtiger Währungen wie des Euro umzuschichten, können abrupte Erschütterungen der Wechselkurse erfolgen.
Das Grundproblem ist, dass die Art und Weise, wie Märkte Leistungsbilanzungleichgewichte korrigieren können, hochgradig unsicher ist: Es kann allmählich oder abrupt als "harte Landung" erfolgen. Hinzu kommt, dass die globalen Ungleichgewichte nicht nur ein Marktergebnis sind, sondern auch ein Resultat nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik. Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Akteure, nämlich die Regierungen und Zentralbanken der USA, Japans, Chinas sowie der Ölförderländer, orientieren sich vorrangig an ihren nationalen Interessen. Keiner nimmt die Verantwortung für eine konsistente, wachstums- und entwicklungsorientierte globale Währungs- und Finanzordnung wahr, entsprechende supranationale Institutionen sind zu schwach oder der Politik einzelner Länder untergeordnet. In der Vergangenheit gab es aufgrund der hegemonialen Position der USA eine einfache Lösung: Die USA haben Wechselkursschwankungen, von Ausnahmefällen abgesehen, ignoriert, Leistungsbilanzdefizite akzeptiert und eine expansive Geld- und Fiskalpolitik betrieben. Nun läuft dieser Kurs aus dem Ruder, die Welt hat mehrere ökonomische und politische Pole bekommen, und es gibt den Euro als eine zweite Weltreservewährung, gewissermaßen im Wartestand. Insofern ist die letzte Ursache der Probleme ein durch die Globalisierung entstandenes institutionelles Vakuum: ein Mangel an organisierter Koordination.Risiken und Handlungsstrategien
Fast alle Beobachter sind sich einig, dass die jetzigen Ungleichgewichte weit über jener Grenze liegen, die auf Dauer tragbar ("nachhaltig") erscheint, auch wenn diese Grenze schwer exakt quantifizierbar ist. Das größte Risiko besteht in einer abrupten Anpassung, wenn Anleger und Notenbanken ihre Bestände an Finanzaktiva zulasten von Dollaranlagen plötzlich umschichten und nicht nur die laufenden Kapitalströme reduzieren. Entscheidend sind dabei die subjektiven Erwartungen der Finanzmarktteilnehmer. Es käme im Fall einer plötzlichen Dollar-Abwertung zu einer entsprechenden Aufwertung des Euro, des Yen und der anderen asiatischen Währungen, wodurch die Aufwertungsländer massiv an Wettbewerbsfähigkeit verlören. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Euro dabei der wichtigste Aufwertungskandidat ist. Die USA gerieten infolge einer starken Abwertung unter Inflationsdruck, müssten dann mit steigenden Zinsen reagieren, wodurch die Weltkonjunktur gedämpft würde. Zudem könnten die USA ihren Konsum und das Staatsbudget nicht mehr wie früher durch Auslandskapital finanzieren, es sei denn sie stemmen sich mit hohen Zinsen gegen die Drift des Kapitalabflusses. Es ist nicht auszuschließen, dass eine solche harte Landung zu einer Weltrezession führt, zumal Wechselkursanpassungen meist mit zunächst exzessiven Ausschlägen erfolgen. Die Krise hätte die Funktion, realwirtschaftliche Anpassungen an neue Wechselkurse, welche die Leistungsbilanzungleichgewichte klein halten, voranzubringen. Keine Frage, dass dies vor allem in den Aufwertungsländern ein schmerzhafter Prozess wäre, der zudem zu Deflation, also sinkendem Preisniveau wie in Japan in den 1990er Jahren führen könnte. Weniger schmerzhaft wäre es wahrscheinlich für die USA, deren internationale Wettbewerbsfähigkeit sich sprunghaft verbessern würde. Hinzu käme, dass das US-Auslandsvermögen steigt und sich dadurch die Nettoschuldnerposition der USA deutlich bessert. Auch die Erträge der USA aus Auslandsvermögen stiegen im Wert, wenn sie in US-Dollar umgerechnet werden.
Erfolgte die Korrektur der Leistungsbilanzungleichgewichte jedoch moderat über einen längeren Zeitraum, z.B. über zehn Jahre, und würde sie im wesentlich nur die Kapitalströme, nicht aber die großen Bestände an Finanzvermögen betreffen, dann käme die Weltwirtschaft glimpflich davon. Die USA würden langsam das Haushaltsdefizit senken, die privaten Haushalte in den USA wieder etwas mehr sparen, weil die Banken restriktiver Kredit geben und die Vermögenspreise, insbesondere die Immobilienpreise, sich langsam nach unten anpassen; China, Japan und andere asiatische Überschussländern würden schrittweise gegenüber dem US-Dollar aufwerten; die Ölförderländer das Recycling der Petrodollars, die sie verdienen, mittels verstärkter Importe aus den USA forcieren; und die Euro-Zone würde Wachstum ankurbeln und dadurch mehr aus Amerika importieren - dies wäre das Szenario einer graduellen Korrektur.Selbst wenn ein gradueller Abbau der Ungleichgewichte gelänge, wäre dieser nicht ohne Opportunitätskosten zu haben, denn das Wachstum der Weltwirtschaft oder wenigstens einiger Regionen würde gedämpft. Beispielsweise würde eine Renminbi-Aufwertung das hohe chinesische Wachstum drosseln, was vermutlich die wirtschaftlich schwache, aber politisch sensible Landwirtschaft am härtesten träfe. Überschuss-Länder mit relativ niedrigem Wachstumstrend wie Deutschland und Japan, die ihre heimische Nachfrage stärken, dadurch ihre Importe steigern und so die Leistungsbilanzüberschüsse abbauen, könnten aber unterm Strich gewinnen, weil die Binnennachfrage ein größeres Gewicht als der Außenhandelssaldo hat.
Berechnungen über die notwendige Dollar-Abwertung gehen weit auseinander, vielfach wird eine Abwertung um 30 bis 35 %, mitunter auch von 50 % gegenüber dem Euro und ähnlich gegenüber den asiatischen Währungen für nötig erachtet.Zum Vergleich: Von 1970 bis 1980 wertete die DM gegenüber dem US-Dollar um 50 % auf, von 1985 bis 1995 um 61 %, und der Euro wertete gegenüber dem US-Dollar zwischen 2001 und November 2007 um 63 % auf (Abb.1). Bei einer graduellen Anpassung liegen die Auswirkungen auf das BIP der wichtigsten beteiligten Länder in einer geringen Größenordnung, für Deutschland beispielsweise bei ca. 1,5 Prozentpunkten gegenüber einem Referenzszenario ohne Wechselkursanpassung. Die entscheidende Frage ist also, ob es zu einer raschen oder allmählichen Anpassung kommt. In Europa glauben die meisten offiziellen Institutionen, dass eine langsame Anpassung "von allein" über die Märkte kommt und kein politischer Handlungsbedarf gegeben ist (so etwa der Sachverständigenrat). Die Alternative wäre eine vorausschauende, multilaterale Politik zur Vermeidung des Risikos einer abrupten Anpassung. Für die Euro-Zone besteht dabei das Problem, dass der Euro stark gegenüber dem US-Dollar und zugleich gegenüber den asiatischen Währungen aufwertet und damit eine problematische Überbewertung eintritt, mit schädlichen Folgen für Wachstum und Beschäftigung. Durch Devisenmarktinterventionen gegen eine weitere Euro-Aufwertung ließe sich das Problem zwar mindern, aber die Europäische Zentralbank und der Ministerrat scheinen eine aktive europäische Wechselkurspolitik zur Stabilisierung des Euro-Dollar-Kurses vermeiden zu wollen, sei es im Alleingang oder international koordiniert.