Einleitung
Auf einem europapolitischen Kongress hat die CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen (NRW) am 30. Mai 2007 ihre Absicht erklärt, darauf hinzuwirken, die Zusammenarbeit mit den Benelux-Ländern zu vertiefen. In ihrer "Düsseldorfer Erklärung" fordert sie die Koalitionsregierung von CDU und FDP auf, im Zuge der anstehenden Neuverhandlungen zum 2010 auslaufenden Benelux-Vertrag "die Möglichkeiten einer besonderen Partnerschaft oder besonderen Form der Assoziierung mit der Benelux-Union zu prüfen". Die Errichtung eines "europäischen Referenzraums NRW-Benelux'" wird nicht nur politisch, sondern auch historisch, kulturell und ökonomisch begründet: "Zwischen Nordrhein-Westfalen, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg bestehen seit langer Zeit enge und intensive Kontakte und Beziehungen, die auf der räumlichen Nähe, gemeinsamen Kulturlandschaften und ähnlichen Mentalitäten der hier lebenden Bevölkerung gründen. Zusammengenommen bilden die Beneluxländer und Nordrhein-Westfalen einen europäischen Kultur- und Wirtschaftsraum, in dem mehr als 40 Millionen Menschen leben."
Als politische Stellungnahme ist die "Düsseldorfer Erklärung" in die Zukunft gerichtet. Dennoch ist es legitim, den Blick in die Vergangenheit zu richten und zu fragen, welche Anknüpfungspunkte es bisher für eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Benelux-Raum und NRW gegeben hat. So ist zu eruieren, inwieweit Entwicklungen der politisch-institutionellen Geschichte und der Wirtschaftsgeschichte Ansätze zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bieten. Welche Einstellungen zum östlichen Nachbarland lassen sich in den Gesellschaften der Benelux-Länder ausmachen? Weist die Identitäts- und Mentalitätsgeschichte Tendenzen von Offenheit oder eher von Abgrenzung aus? Ehe jedoch die Beziehungsgeschichte zwischen NRW und den Benelux-Ländern vorgestellt werden kann, ist die Entstehung und Entwicklung der Benelux-Union und ihrer Vorläufer zu beleuchten.
Zwischenstaatliche Kooperation im Benelux-Raum
Die Benelux-Union kann als Fortentwicklung einer Wirtschaftsunion verstanden werden, die Belgien und Luxemburg im Juli 1921 ins Leben riefen. Das Ziel der Union économique belgo-luxembourgeoise (UEBL) bestand darin, Zölle und Handelsbeschränkungen zwischen den beiden vom Ersten Weltkrieg geschädigten Ländern abzubauen, die Außenhandelsbeziehungen zu vereinheitlichen sowie eine gemeinsame Außenhandels- und Finanzpolitik zu betreiben.
1930 unterzeichneten Belgien und Luxemburg zusammen mit den Niederlanden und Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden das Abkommen von Oslo. Es ging darum, Zölle miteinander abzustimmen, später beabsichtigte man, den Handel unter den Vertragspartnern zu stimulieren.
Zwar hat die Union der drei Länder keine gemeinsame Außenpolitik verfolgt, doch die Abstimmung zwischen Luxemburg, Den Haag und Brüssel sollte dazu dienen, das Gewicht der kleineren europäischen Staaten zu bündeln und auf diese Weise eine Dominanz größerer Staaten strukturell zu erschweren.
Gänzlich frei von Problemen der Harmonisierung waren die Gründung und die Ausgestaltung der Zollunion ab 1944 gleichwohl nicht. Denn die Ausgangslage in den Mitgliedsländern war sehr unterschiedlich:
Trotz dieser Differenzen überwog die Einschätzung, dass eine Zollunion für den Wiederaufbau in allen drei Ländern günstig war und sich eine wirtschaftspolitische Zusammenarbeit vorteilhaft auf die Umsetzung der amerikanischen Marshallplanhilfe auswirken würde. So trat am 1. Januar 1948 das Abkommen zwischen der UEBL und den Niederlanden in Kraft. War die neue Union zunächst nur zur Harmonisierung und zum sukzessiven Abbau der Zollschranken konzipiert, wurde sie in den folgenden Jahren zu einer Wirtschaftsgemeinschaft ausgeweitet. Diese erhielt im Benelux-Vertrag vom 3. Februar 1958 ihre rechtliche Grundlage.
Europa und Benelux
In der Zwischenzeit waren mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951), Euratom und derEuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) Organisationen ins Leben gerufen worden, welche die wirtschafts- und handelspolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene in die Wege leiteten. Ihnen gehörten von Anfang an die Niederlande, Belgien und Luxemburg an.
An sensiblen Punkten hat die Zusammenarbeit unter den Partnern den Integrationsprozess auf europäischer Ebene sogar entscheidend vorangebracht. Dies war besonders der Fall, als der Plan zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) im August 1954 an der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung gescheitert war.
Die Bedeutung der Benelux-Union für europäische Integration darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die drei Länder von Anfang an in vielen außen-, wirtschafts- und handelspolitischen Fragen unterschiedlicher Meinung waren, mitunter divergierende nationale Interessen verfolgten und manchmal nur mit Mühe eine einheitliche Position einnahmen. Nicht nur für die ersten Nachkriegsjahre gilt die Aussage von Albert E. Kersten, dass "der Benelux-Effekt nach außen hin größer war als nach innen"
NRW und Benelux
Dennoch ist die Benelux-Union nicht ohne Bedeutung für die europäische Nachkriegsgeschichte gewesen, und die "Düsseldorfer Erklärung" führt ihre Attraktivität bis in die heutige Zeit nachdrücklich vor Augen. Wie lässt sich die Geschichte der Beziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Benelux-Raum beschreiben? Die wissenschaftliche Literatur hat bisher den Fokus nicht explizit auf NRW gelegt. Vielmehr wird das Verhältnis der Benelux-Länder zum östlichen Nachbarn in der Regel in einen gesamtdeutschen Rahmen eingebettet. Darüber hinaus ist für die meisten Forschungen auf diesem Gebiet eine bilaterale Perspektive leitend.
Seit jeher hat das Gebiet des heutigen Bundeslandes NRW mit seiner Bevölkerung für die Wirtschaftsentwicklung der Länder des Benelux-Raums große Bedeutung besessen - und umgekehrt. Einen enormen Aufschwung nahm die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit, als die benachbarten Regionen Wallonien, Rheinland und Ruhrgebiet seit Beginn des 19. Jahrhunderts industriell erschlossen wurden. In diesem Zusammenhang spielte die verkehrstechnische Vernetzung eine große Rolle. Mit dem 1843 fertiggestellten "Eisernen Rhein" etwa konnte der Antwerpener Hafen per Eisenbahn über Lüttich mit dem preußischen Gebiet von Rhein und Ruhr verbunden werden.
Schwere Erschütterungen des Verhältnisses der Benelux-Staaten zum östlichen Nachbarn haben die Weltkriege mit sich gebracht. Belgien und Luxemburg wurden sowohl 1914 als auch 1940 Opfer militärischer Aggression aus dem Osten; die Niederlande wurden im Zweiten Weltkrieg von Deutschland überfallen und jahrelang einem ausbeuterischen Besatzungsregime unterzogen. In der Zwischenkriegszeit nahmen die Benelux-Länder unterschiedliche Haltungen gegenüber Deutschland ein: Die Niederlande griffen der politisch und wirtschaftlich instabilen Weimarer Republik - im Interesse des eigenen Handels sicher nicht uneigennützig - mit Krediten im Wert von 200 Millionen Gulden für den Ankauf von Rohstoffen und Lebensmitteln unter die Arme und gewährten dem abgedankten Kaiser Wilhelm II. in Haus Doorn Asyl. Erst der Aufstieg des Nationalsozialismus führte in breiteren Kreisen der niederländischen Gesellschaft zu einer distanzierten Haltung gegenüber dem östlichen Nachbarn.
Demgegenüber bewegte sich Belgien nach 1918 im Schlepptau der antideutschen Politik Frankreichs. Die repressive Deutschlandpolitik kam nicht nur in gigantischen Annexionsforderungen zum Ausdruck, die sich zum Teil bis in die Eifel und nach Euskirchen erstreckten, schließlich aber auf die ehemalige preußische Rheinprovinz mit den Gemeinden Eupen, Malmedy und St. Vith reduziert werden konnten. Sie manifestierte sich auch in der Tatsache, dass Belgien seit Januar 1923 an der Seite Frankreichs an der Besetzung des Ruhrgebiets und des Rheinlands mit der Begründung teilnahm, die Weimarer Republik befinde sich mit Reparationsleistungen im Rückstand. Auf deutscher Seite führte dies für mehrere Monate zu jenem Widerstand, der als "Ruhrkampf" in die Geschichte eingegangen ist. Deutsch-nationale Kreise agitierten gegen separatistische Tendenzen im Rheinland, die mehr oder weniger offen von der Besatzungsmacht unterstützt wurden.
Auch wenn die Reichsregierung 1925 im Vertrag von Locarno die bestehende Westgrenze offiziell anerkannte, blieb das deutsch-belgische Verhältnis angespannt. Denn in der gesamten Zwischenkriegszeit wurde von deutscher Seite die Forderung nach einer Rückgliederung von Eupen, Malmedy und St. Vith erhoben. Eine Art von "intellektuellem Revisionismus" kann man in der "Westforschung" sehen. Hier wurde der Versuch unternommen, mit geschichtlichen, volkskundlichen und sprachhistorischen Studien Bezüge zwischen einem nieder- und einem westdeutschen "Kulturraum" auf der einen und den Benelux-Ländern sowie Frankreich auf der anderen Seite zu untermauern. In politischer Hinsicht waren derartige Ansätze für Irredentismus anfällig. Im Laufe der 1930er Jahre wurde die "Westforschung" denn auch zunehmend in den Dienst expansionistischer Bestrebungen gestellt. Die mehrjährige Besatzung durch das NS-Regime, die mit dem Beginn des Westfeldzugs am 10. Mai 1940 eingeläutet wurde, war somit auf deutscher Seite in gewisser Weise mental präpariert worden.
Die Erfahrungen mit dem Besatzungsregime führten dazu, dass die Niederlande, Belgien und Luxemburg nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Außenpolitiken stärker als zuvor aneinander anglichen und aufeinander abstimmten. Ausdruck dieser Neuorientierung ist die oben ausgeführte Institutionalisierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Rahmen der Benelux-Union. Zur Neuorientierung zählte auch die Aufgabe der Neutralität, zu der sich die Niederlande, Luxemburg und Belgien 1839 vertraglich verpflichtet hatten.
In der Haltung gegenüber der Bundesrepublik unterschied sich die niederländische Gesellschaft deutlich von der belgischen. Die bilateralen Beziehungen zu Belgien konnten auf politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene trotz der Stationierung belgischer Soldaten auf deutschem Boden schon relativ rasch nach Kriegsende weitgehend normalisiert werden. Anders als in der Zwischenkriegszeit verzichtete Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg auf überbordende Reparations- und Annexionsforderungen gegenüber dem neuerlich besiegten Nachbarn. Lediglich Eupen, Malmedy und St. Vith gingen nun definitiv an Belgien.
Komplizierter stellte sich das niederländisch-deutsche Verhältnis nach 1945 dar.
In dieselbe Richtung weisen in der unmittelbaren Nachkriegszeit erhobene Forderungen nach der Ausweisung aller Deutschen, nach hohen Reparationszahlungen und nach Annexionen. So wollte man auf niederländischer Seite als Wiedergutmachung das eigene Staatsgebiet um knapp ein Drittel auf Kosten Deutschlands vergrößern. International durchsetzen ließ sich diese Forderung nicht, und so wurden schließlich 1949 statt der anvisierten 10 000 Quadratkilometer mit anderthalb Millionen Einwohnern lediglich 69 Quadratkilometer und 10 000 Menschen um die Gemeinden Elten und Tüddern unter niederländische Verwaltung gestellt. 1963 kehrte der größte Teil dieser Gebiete und ihrer Bevölkerungen wieder nach Deutschland zurück, nachdem die Regierungen nach jahrelangen Verhandlungen einen Ausgleichsvertrag abgeschlossen hatten.
Trotz dieses Staatsvertrags, mit dem Wiedergutmachung für das Unrecht, das das "Dritte Reich" an den Niederlanden verübt hatte, rechtlich geregelt wurde, brachen in den Niederlanden immer wieder antideutsche Ressentiments auf. So kam es beispielsweise zu wütenden Protesten, als 1965 bekannt wurde, dass Kronprinzessin Beatrix einen Diplomaten aus Deutschland, Claus von Amsberg, heiraten wolle. Dessen Vergangenheit bis 1945 wurde umgehend im überhitzten Duktus moralischer Überlegenheit auf Antisemitismus und Teilnahme an Kriegsverbrechen durchleuchtet - ohne Resultat, wie sich bald schon herausstellen sollte. Die Langlebigkeit von antideutschen Klischees wurde noch einmal in einer Umfrage bestätigt, die das renommierte Forschungsinstitut Clingendael 1993 durchgeführt hat.
Seitdem sind auf beiden Seiten der Grenze verstärkt Versuche unternommen worden, das bilaterale Verhältnis substanziell zu verbessern. Hierzu gehören bilaterale Regierungskonferenzen, die Begründung eines deutsch-niederländischen Journalistenaustauschs oder die Einrichtung des interdisziplinär forschenden Duitsland Instituut in Amsterdam. Auch die Euregios haben dazu beigetragen, grenzüberschreitende Kontakte zu gestalten.
Resümee und Ausblick
Erstens. Nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis zu ihrem östlichen Nachbarland haben Luxemburg, Belgien und die Niederlande oftmals unterschiedliche Haltungen eingenommen. Die westlichen Nachbarländer von NRW dürfen somit keinesfalls als monolithische Einheit betrachtet werden.
Zweitens. Der Blick der Benelux-Länder nach Osten war stets in hohem Maße in größere Kontexte eingebettet, wie sie beispielsweise die europäische Einigung, die Weltkriege oder der Kalte Krieg mit sich gebracht haben; derartigen Kontexten wird auch in Zukunft Rechnung zu tragen sein.
Drittens. In der Vergangenheit lassen sich vielfältige grenzüberschreitende Berührungspunkte ausmachen, die eine ausgezeichnete Grundlage für zwischenstaatliche Kooperationen darstellen. Mentalitätsgeschichtliche Beobachtungen lassen aber auch Abgrenzungstendenzen erkennen. Der Abbau von Stereotypen, die zu einem Teil mit der Geschichte der Weltkriege verbunden sind, wird in diesem Zusammenhang diesseits und jenseits der Grenzen weiterhin eine politische Herausforderung darstellen.
Viertens. Es ist nicht sicher, ob auf der Grundlage der bisherigen Entwicklung eine Metropolregion Benelux-NRW entstehen kann. Positive geschichtliche Anknüpfungspunkte laden zu einem Ausbau der bisherigen Kontakte ein, und immerhin nimmt NRW seit einiger Zeit als Beobachter an Gremien der Benelux-Union teil. Die Legitimierung einer grenzüberschreitenden Metropolregion ist gleichwohl weniger in historischen Bezügen als in aktuellen ökonomischen und politischen Zielsetzungen zu finden. Sollte es der nordrhein-westfälischen CDU gelingen, im eigenen Land andere Parteien und in den Benelux-Ländern die jeweilige Öffentlichkeit und Regierung für das Anliegen der "Düsseldorfer Erklärung" zu gewinnen und NRW im Wettbewerb mit anderen europäischen Regionen entsprechend zu positionieren, haben die Verstärkung punktueller Kooperationen oder gar eine umfassende Form der Zusammenarbeit durchaus Realisierungschancen. Ein formeller Beitritt zur Benelux-Union, der für ein Bundesland wie NRW auf erhebliche staatsrechtliche Probleme stoßen würde, wäre nicht einmal erforderlich, um eine leistungsfähige europäische Kernregion entstehen zu lassen.