Einleitung
Die Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg gleicht in Belgien, viel weniger als in den benachbarten Niederlanden, einer ritualisierten Kulturgeschichte. Ebenso spiegelt sie sich in der Haltung wider, die gegenüber dem großen deutschen Nachbarn eingenommen wird. Antideutsche Vorurteile, die in den negativen Erfahrungen aus der deutschen Besatzungszeit wurzeln, spielen in Belgien traditionell eine viel geringere Rolle als in den Niederlanden. Gleichsam erscheint die belgische Erinnerungskultur, infolge des Auseinanderdriftens der beiden nach Selbstständigkeit strebenden Sprachgebiete, in vielerlei Hinsicht als gespalten: das niederländischsprachige Flandern im Norden und der französischsprachige Landesteil im Süden, der sich aus Wallonien und dem größten Teil von Brüssel zusammensetzt. Der Spaltungstrend zwischen Flamen und Frankophonen schlägt sich sowohl in seiner spontanen und in seiner institutionalisierten Form als auch in der kollektiven Erinnerung nieder.
Die öffentliche Debatte darüber, welchen Stellenwert der Holocaust in der Nationalgeschichte einnimmt, ist in Belgien erst sehr spät in Gang gekommen. Demgegenüber gibt es in den Niederlanden bereits seit längerem Diskussionen über "gut" und "falsch" in den Beurteilungen des Zweiten Weltkrieges. In Frankreich sorgt das Vichy-Syndrom noch stets für emotionale Turbulenzen. Und Deutschland selbst kämpft mit anhaltenden Problemen der Vergangenheitsbewältigung. Doch in Belgien kann man erst seit den 1990er Jahren von einer öffentlichen Debatte über die eigene Geschichte sprechen, die mit denen im benachbarten Ausland verglichen werden könnte.
Eine politische Geste
Die Initiative, in Mechelen ein Holocaustmuseum zu bauen, kam 2001 vom damaligen flämischen Ministerpräsidenten Patrick Dewael.
Der flämische Liberale Patrick Dewael (VLD, Vlaamse Liberalen en Democraten) hatte ein Ohr für die Nöte des kleinen Museums, und der politische Wind stand günstig.
Die Bereitschaft von Amtsträgern, sich der Vergangenheit zu stellen und Schuld einzugestehen, hat in den vergangenen Jahren weiter zugenommen.
Es war die Zeit, als jeder den Atem des rechtsradikalen Populismus im Nacken fühlte. Man befürchtete, dass dies insbesondere bei ausländischen Medien einen dunklen Fleck auf das Bild von Belgien im Allgemeinen und Flandern im Besonderen werfen könnte. Dewael war kein Anhänger einer "Schweig-sie-tot"-Strategie, sondern wollte mit seinem Plan dem Vlaams Blok (Flämischer Block) eine starke Faust zeigen.
Ein Holocaustmuseum sollte entstehen, um "jeden daran zu erinnern, was geschehen kann, wenn totalitäre Ideen die Oberhand gewinnen", erklärte Dewael und zielte damit vor allem auf den Vlaams Belang, der seit den Regionalwahlen im Juni 2004 mit den meisten Sitzen im flämischen Parlament vertreten ist. Mit einem progressiv-liberalen Kurs wollte Dewael den Vormarsch braunen Gedankengutes stoppen. Sein Großvater, der liberale Politiker und ehemalige Minister Arthur Vanderpoorten, war im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen umgekommen.
Mechelen erschien noch aus einem anderen Grund als gute Wahl: Von Antwerpen aus hatte sich der braune Fleck bereits bis in das verschlafene Provinzstädtchen ausgebreitet. Der Ministerpräsident gab den Startschuss für das Museum. Ihm zur Seite stand sein Kulturminister Bert Anciaux, Chef der flämisch gesinnten linksliberalen Splitterpartei Spirit. Aber die Initiative versackte in einem jahrelangen, absurd anmutenden Hickhack flämischer Machart.
Dewael konnte kaum voraussehen, in welch trübem Tümpel seine Idee landen würde. Gemeinsam mit Anciaux stand der flämische Liberale unter dem Eindruck der großen Holocaustmuseen und -denkmale in London und in Berlin. Auch die Stockholmer Deklaration vom Januar 2000, in der die Regierungen weltweit dazu aufgerufen wurden, dem Gedenken an den Völkermord größere Bedeutung beizumessen, war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Dewael schwebte ein Museum von "herausragender Bedeutung für Europa" vor, das eine "exemplarische Funktion" erfüllen sollte. Ein Besuch in den beengten Räumen des Jüdischen Museums in Mechelen hatte ihn auf den Gedanken gebracht, dieses substantiell zu erweitern und zum Holocaustdenkmal für ganz Flandern auszubauen. Diese Idee führte jedoch zu einem Konflikt zwischen der Geschäftsführung des Museums und verschiedenen Wissenschaftlern, dem die Regierung mehr oder weniger hilflos gegenüber stand. Dabei ging es um das Konzept selbst als auch um die Finanzierung. Der Entschluss der Regierung, Millionen für dieses Projekt bereitzustellen, das bislang von der jüdischen Gemeinde unterstützt und finanziert wurde, hatte Folgen. Denn die notwendige Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinschaft und Akademikern, die auf ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit bestanden, gestaltete sich als sehr schwierig. Es scheine, als ob auf Kosten der Regierung eine Ausstellung über die Missionierung von Afrika geschaffen und den belgischen Bischöfen die Verantwortung dafür übertragen werden solle, bemerkten Kritiker bissig.
Schließlich landete man beim Kern einer alten Debatte: Ist der Holocaust ein exklusives "jüdisches" Thema, oder ist er von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse? Es trat ein, was man unbedingt hatte vermeiden wollen, ein Konflikt zwischen einer "jüdischen" und einer "nichtjüdischen" Schreibweise der Geschichte. Für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft bleibt es unakzeptabel, dass an der Exzeptionalität des Holocaust gezweifelt wird. Sie beharren darauf, dass das Drama der Judenverfolgung zur Zeit der deutschen Besatzung in seiner zentralen Bedeutung erhalten wird. Wer den politischen Gebrauch und Missbrauch der Shoah, aber auch ideologische Zwecke - wie die Unterstützung von Israel - kritisiert oder anderen Äußerungen von Rassismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg "zu viel" Aufmerksamkeit widmet, gerät in den Verdacht, den Holocaust "bagatellisieren" zu wollen. Dewael wurde sogar der Vorschlag unterbreitet, das Holocaustmuseum in einen "jüdischen" und einen "anderen" Bereich zu unterteilen.
Doch letztlich fiel der Startschuss zum Ausbau des Museums. Die Probleme um die neue Geschäftsführung wurden gelöst und die Spannungen zwischen den Wissenschaftlern und der jüdischen Gemeinschaft ebbten ab. Die Regierung versprach, viel Geld für das Prestigeprojekt frei zu machen.
Der neue Ministerpräsident Yves Leterme (CD&V, Christen-Democratisch & Vlaams) schien kein großer Anhänger der Museumsidee zu sein.
Seitdem beschäftigt sich die Regierung kaum noch mit dem Projekt, denn 2007 wurde für die belgischen Politiker zum annus horribilis. Nach den Wahlen im Juni rutschte das Land in eine beinahe bodenlose Krise. Manch ein Beobachter im In- und Ausland sah bereits das Ende Belgiens kommen. Leterme verließ die flämische politische Bühne, übergab sein Amt als Ministerpräsident Kris Peeters und stürzte sich in das scheinbar aussichtslose Unterfangen der Bildung einer neuen belgischen Föderalregierung. Da blieb für die Museumsfrage nur wenig Interesse. Allein einige Historiker führten die Diskussion fort.
Die Überlegungen der Historiker
Aus dem Bericht des Expertenausschusses, der unter der Leitung des Genter Zeithistorikers Bruno De Wever stand, geht deutlich hervor, dass die Historiker die Idee eines traditionellen Holocaustmuseums nicht befürworteten.
Zuallererst stellte sich die Frage, ob ein traditionelles Holocaustdenkmal, das ausschließlich den jüdischen Opfern gewidmet ist, tatsächlich die moralisch-bildenden Werte vermitteln kann, die von ihm erwartet werden. Die flämischen Historiker wollten unter keinen Umständen ein weiteres Anne-Frank-Haus. Es sei eine Wunschvorstellung, dass die Konfrontation junger Menschen mit jüdischem Leid sie automatisch zu demokratisch gesinnten und verantwortlichen Bürgern mache.
Kern des Problems ist die neue Betrachtung des Holocaust. Fragen, die Fachhistoriker seit Jahren beschäftigen, dringen im breiteren Publikum nur langsam durch. Es geht um Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit, um Fragen der Perspektive, aus der die Geschichte von Verfolgung geschrieben wird, und um Historizität sowie Kontinuität. Das Tabu von der absoluten Einzigartigkeit des Holocaust ist seit längerem durchbrochen. Ein Vergleich muss nicht zur Trivialisierung führen, aber es ist erlaubt, den sakralen Charakter eines Holocaust, der in seiner Einzigartigkeit über den Grenzen des Erfassbaren steht, zu hinterfragen. Wenn der Holocaust das absolute und mit nichts zu vergleichende, unaussprechlich Böse repräsentiert, dann ist es sinnlos, ihn begreifen zu wollen. Er kann uns nicht mehr berühren - ein historischer Irrtum, der die Leiden anderer in Abrede stellt und nachfolgende Generationen in Sprachlosigkeit zurücklässt.
Auch die ausschließliche Opferperspektive ist problematisch, denn um die Mechanismen von Unterdrückung und Verfolgung zu begreifen, ist sie wenig hilfreich. Der Historiker, der allein der Opferperspektive folgt, sieht ebenso wenig wie das Opfer selbst. Wer beispielsweise mehr erfahren will über das politische Klima im Belgien der 1990er Jahre, als die Kindermorde von Dutroux, die Kritik an Gerichten und an der Polizei sowie die "weißen Protestmärsche" gegen das Versagen der Politik das Tagesgeschehen bestimmten, erfährt nur wenig, wenn er allein das "Haus von An" in Hasselt, die Wohnung von Paul Marchal, dem Vater eines der ermordeten Mädchen, aufsucht.
Bleibt die Frage der Kontinuität. Es ist müßig und letztendlich fruchtlos, die Geschichte der Judenverfolgung nur im Zeitrahmen von 1933 bis 1945 zu betrachten. Es verschließt die Augen vor Traditionen und Strukturen, die sich schon lange vor den Besatzungsjahren entwickelt hatten und die nicht plötzlich verschwunden sind. Die Einteilung der Geschichte in abgeschlossene Episoden ermöglicht es dem kollektiven Erinnern, sich der Verantwortung zu entziehen: "Was geschehen ist, ist geschehen." Es kann uns hier und jetzt nicht mehr in Verwirrung stürzen. Dem widersprach seinerzeit unter anderem der deutsche Historiker Martin Broszat, als er mit seinem Plädoyer für die Historisierung des Nationalsozialismus eine kontroverse Debatte auslöste.
Die Diskussion über die Interpretation des Holocaust, die bereits geraume Zeit und in allen Tonarten durch Historiker im In- und Ausland geführt wird, hat Flandern erreicht. Der wissenschaftliche Ausschuss wollte nicht mehr und nicht weniger als ein groß angelegtes Museum, in dem jahrhundertealte Mechanismen von Ein- und Ausschluss, von Diskriminierung und Unterdrückung sichtbar gemacht werden, ein Museum, in dem die Judenverfolgung in Belgien zwischen 1942 und 1944 aus seiner Isolierung herausgelöst wird. So kehrte man zu der Idee zurück, vielleicht doch zwei Ausstellungen einzurichten: die Sammlung aus der Dossin-Kaserne, um die Geschichte des "belgischen Kasus" zu erzählen, und Transit, die den Bogen weiter spannt. Darin sollen vor allem Wirkungsweisen und Prozesse, welche die Deportation und den Judenmord möglich gemacht haben, dargestellt werden: die Herausbildung von Nationalstaaten und ethnisch definierten Bevölkerungsgruppen, technisch-wissenschaftliche Utopien, politische Romantik und Aufklärungsdenken, Migration und Ausschluss, Diskriminierung und Verfolgung, Erinnerung und Verdrängung. Die große und die kleine Geschichte der unzähligen Opfer, Täter und Zuschauer. Vom Stolz auf "uns selbst" und der Stigmatisierung der "Anderen". Die Geschichte, in der wir uns unter augenscheinlich ganz gewöhnlichen und banalen Umständen selbst erkennen können.
Lautstarke Pressestimmen
Gegenwind gegen die Vorstellungen der Historiker kam aus der jüdischen Gemeinschaft, aber auch von "dissidenten" Wissenschaftlern. Der Brüsseler Historiker Joël Kotek meinte, dass Transit möglicherweise in Hände von "Ideologen" gerate, welche die Opfer des Holocaust ausschließen wollen.
Der Vorsitzende des Expertenausschusses Bruno De Wever musste sich angesprochen fühlen.
Geschichte schreiben ist nicht dasselbe wie das Gedenken. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, zu begreifen, zu erklären, zu konstruieren und zu rekonstruieren. Dabei ist die Aussage eines Zeitzeugen eher Last als Segen. Das Privileg des Opfers - "ich habe das selbst erlebt, das verleiht mir das Recht zu sprechen" - wirkt historischen Untersuchungen häufig entgegen. Oder, wie es Tony Judt formulierte: Das Schreiben von Geschichte geht eher gebückt unter dem Zuviel als dem Zuwenig an Erinnern.
Die Wissenschaftler haben zu Recht kritische Bemerkungen zu einer ausschließlich jüdischen Sichtweise und ihres naiven Nachbetens durch die Politiker gemacht. Doch vielleicht haben sie auch zu hohe Ansprüche. Wie sollte man sich ein Museum um das Thema "Ausschluss" vorstellen? Wenn der Missbrauch des Holocaust megaloman ist - der Holocaust als moralischer Eichpunkt, um alles nicht Genehme verurteilen zu können, Anne Frank als Ikone, mit der Rassismus und Rechtsextremismus entgegengetreten wird -, dann ist Transit Mechelen das natürlich auch. Ein Museum über alles Gute und Böse in der Geschichte der Menschheit? Ein Museum über das Böse in jedem von uns? Ein Museum als moralisch-pädagogisches Spiegelpalais? Die Idee einer therapeutischen Funktion des Museums befürworten Anhänger wie Gegner. Die Anzahl der Wissenschaftler, die sich in Flandern mit der Holocausthistoriografie beschäftigen, ist gering, und nur wenige Mitglieder des wissenschaftlichen Ausschusses können Kenntnisse in dieser Hinsicht vorweisen, etwa der Leuvener Historiker Lieven Saerens. Andere wie Bruno de Wever, Pieter Lagrou oder Marnix Beyen haben ihre Sporen auf Gebieten verdient, die eher am Rand der Holocaustforschung liegen.
Möglicherweise können sich einige in den Medien Gehör verschaffen. Der Historiker Pieter Lagrou, ein intellektueller Rebell mit flämischem und katholischem Hintergrund, wird nicht müde, seine neue Rolle als Fürsprecher der antiklerikalen Frankophilie zu spielen. In der Manier, wie sich der damalige flämische Ministerpräsident Leterme das Dossier zu Eigen machte, sehe er einen Reflex von "unausrottbarem flämischem Provinzialismus": In Flandern würden Katholiken und Juden Seite an Seite danach streben, ein "identitätsstiftendes" Museum zu schaffen, verbunden durch die Tränen um eine ferne Vergangenheit, für die sich niemand schuldig fühlen muss. Ein jüdisches Holocaustmuseum in Flandern als Ausdruck einer weltanschaulichen Erstarrung: Ein Holocaustmuseum, erbaut in traditioneller Form als das soundsovielte flämisch-nationale Monument, das die frankophone Gemeinschaft des Landes und auch die Mehrheit der belgischen Juden "institutionell enteignet von einem zentralen Erinnerungsort".
Gie Van den Berghe, der gern die Rolle des akademischen Underdogs spielt und sowohl Befürworter als auch Gegner mit seiner spitzen Feder piesackt, kritisiert den "Überkonsum" des Holocaust mit unlauteren Absichten.
Fazit
Die flämische Regierung hat sich inzwischen auf die Einrichtung des neuen Museums geeinigt: Kazerne Dossin. Museum, archief en studiecentrum over Holocaust en schendingen van mensenrechten (Kaserne Dossin, Museum, Archiv und Bildungszentrum über den Holocaust und Menschenrechtverletzungen) wird es heißen.
Die Historiker fühlen sich zunehmend unwohl, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie die Rolle der Wächter des nationalen Gewissens einnehmen sollen. Im Jahr 2006 unterzeichneten 150 belgische Historiker eine Streitschrift, in der sie auf eine absurde Situation hinwiesen: Geschichte erfreue sich eines zunehmenden öffentlichen Interesses - denkt man allein an die rituelle "Entschuldigungskultur" -, gleichzeitig aber verfüge Belgien über ein Archivgesetz, das einem modernen Land unwürdig sei.
Historiker sollen als Richter auftreten und über "gut" und "böse" befinden.