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Erinnerungspolitik in Belgien | Benelux | bpb.de

Benelux Editorial Die Deutschsprachige Gemeinschaft im östlichen Belgien: Europa im Kleinen Belgien vor dem Kollaps? Die Benelux aus niederländischer Perspektive Luxemburg - Kern Europas Erinnerungspolitik in Belgien Metropolregion Benelux-NRW?

Erinnerungspolitik in Belgien

Georgi Verbeeck

/ 18 Minuten zu lesen

Infolge des Spaltungstrends kämpft Belgien mit einer gespaltenen Erinnerungspolitik. Fragen der Historiker kreisen um ihre Rolle in einer zunehmenden Kultur ritualisierter Schuldbekenntnisse.

Einleitung

Die Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg gleicht in Belgien, viel weniger als in den benachbarten Niederlanden, einer ritualisierten Kulturgeschichte. Ebenso spiegelt sie sich in der Haltung wider, die gegenüber dem großen deutschen Nachbarn eingenommen wird. Antideutsche Vorurteile, die in den negativen Erfahrungen aus der deutschen Besatzungszeit wurzeln, spielen in Belgien traditionell eine viel geringere Rolle als in den Niederlanden. Gleichsam erscheint die belgische Erinnerungskultur, infolge des Auseinanderdriftens der beiden nach Selbstständigkeit strebenden Sprachgebiete, in vielerlei Hinsicht als gespalten: das niederländischsprachige Flandern im Norden und der französischsprachige Landesteil im Süden, der sich aus Wallonien und dem größten Teil von Brüssel zusammensetzt. Der Spaltungstrend zwischen Flamen und Frankophonen schlägt sich sowohl in seiner spontanen und in seiner institutionalisierten Form als auch in der kollektiven Erinnerung nieder.


Die öffentliche Debatte darüber, welchen Stellenwert der Holocaust in der Nationalgeschichte einnimmt, ist in Belgien erst sehr spät in Gang gekommen. Demgegenüber gibt es in den Niederlanden bereits seit längerem Diskussionen über "gut" und "falsch" in den Beurteilungen des Zweiten Weltkrieges. In Frankreich sorgt das Vichy-Syndrom noch stets für emotionale Turbulenzen. Und Deutschland selbst kämpft mit anhaltenden Problemen der Vergangenheitsbewältigung. Doch in Belgien kann man erst seit den 1990er Jahren von einer öffentlichen Debatte über die eigene Geschichte sprechen, die mit denen im benachbarten Ausland verglichen werden könnte. Auch hier spielen politische Entwicklungen eine entscheidende Rolle. Die Debatte um die Einrichtung eines Museums in Mechelen, einer kleinen flämischen Provinzstadt zwischen Brüssel und Antwerpen, zum Thema der Judenverfolgung während der deutschen Besatzung 1940/1944, kann dafür als Beispiel dienen.

Eine politische Geste

Die Initiative, in Mechelen ein Holocaustmuseum zu bauen, kam 2001 vom damaligen flämischen Ministerpräsidenten Patrick Dewael. Seit 1996 besteht in dieser Stadt das Joods Museum van Deportatie en Verzet (JMDV, Jüdisches Museum der Deportation und des Widerstands). Untergebracht ist es in der ehemaligen Dossin-Kaserne der belgischen Armee, von wo aus zwischen August 1942 und August 1944 24 906 Juden - die wenigsten unter ihnen waren belgische Staatsbürger, die Mehrheit waren Migranten und Flüchtlinge, zunächst aus Osteuropa, später aus Deutschland - und 351 "Zigeuner" (Sinti) nach Auschwitz deportiert wurden. Ende der 1980er Jahre wurde die alte Kaserne zu einem luxuriösen Appartementkomplex umgebaut. Sie erhielt ihren alten Namen "Hof von Habsburg" zurück. Proteste der belgischen jüdischen Gemeinschaft bewogen die Regierung dazu, die Vorderfront des Karrees zu kaufen und ein kleines Museum einzurichten. Dieses besteht nunmehr seit zwölf Jahren und kann der Anzahl von Besuchern, darunter vielen Schülern, kaum gerecht werden.

Der flämische Liberale Patrick Dewael (VLD, Vlaamse Liberalen en Democraten) hatte ein Ohr für die Nöte des kleinen Museums, und der politische Wind stand günstig. Es war die Zeit, als die "violette" Föderalregierung - eine Koalition von Liberalen (blau) und Sozialisten (rot), nun vereinigt ohne die Konfessionellen (orange) - die alten Akten entstaubte. Das "violette Lebensgefühl" durchdrang alle Regierungen des Landes und seiner Teilstaaten. Die Vorherrschaft der Christdemokraten war (vorübergehend) gebrochen. Es war die Periode der offenen excuuscultuur (Entschuldigungskultur). Öffentlich wurde Schuld bekannt und auf die dunklen Seiten der belgischen National- und Kolonialgeschichte gewiesen. So kam es zu einer Untersuchung der Beteiligung Belgiens an der Ermordung des ersten kongolesischen Ministerpräsidenten Patrick Lumumba 1961; Premierminister Guy Verhofstadt gestand demütig Schuld ein für die feige Haltung Belgiens zu Beginn des Genozids in Ruanda 1994. Eine ebenso feierliche Geste sollte es nun im Hinblick auf die schmerzhaften Kapitel während des Zweiten Weltkrieges geben.

Die Bereitschaft von Amtsträgern, sich der Vergangenheit zu stellen und Schuld einzugestehen, hat in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. Auf Anfrage des belgischen Senats hat das Studie- en Documentatiecentrum Oorlog en Hedendaagse Maatschappij (SOMA, Studien- und Dokumentationszentrum für Krieg und Zeitgeschichte) eine breit angelegte Studie über die Rolle belgischer Verwaltungen zur Zeit der Judenverfolgung vorgelegt. Die umfangreiche Forschungsarbeit Gewillig België (Williges Belgien) erschien 2007 zum Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa. Zwei Jahre zuvor hatte sich Verhofstadt im Namen des Staates in Jerusalem für die Haltung der belgischen Behörden während des Holocaust entschuldigt. Diskussionen über die Verantwortung der Stadtverwaltungen bei der Organisation von Razzien und Deportationen hatte es seit längerem gegeben. Frühere Studien hatten bereits auf einheimische antisemitische Traditionen und die kollaborationsbereite Haltung der damaligen Antwerpener Stadtverwaltung hingewiesen. Als sich der Oberbürgermeister von Antwerpen Patrick Janssens im vergangenen Jahr für die Geschehnisse in seiner Stadt während der Besatzung öffentlich entschuldigte, stieß er bei einigen seiner Kollegen auf Skepsis. Zu einer tiefer gehenden Debatte über den Nutzen und die Nachteile einer aufrichtigen "Entschuldigungskultur" kam es jedoch nicht. Die politische Tagesordnung und der Kampf gegen die Rechtsextremen ließen dafür wenig Raum.

Es war die Zeit, als jeder den Atem des rechtsradikalen Populismus im Nacken fühlte. Man befürchtete, dass dies insbesondere bei ausländischen Medien einen dunklen Fleck auf das Bild von Belgien im Allgemeinen und Flandern im Besonderen werfen könnte. Dewael war kein Anhänger einer "Schweig-sie-tot"-Strategie, sondern wollte mit seinem Plan dem Vlaams Blok (Flämischer Block) eine starke Faust zeigen. Diese Partei war in einen juristischen Streit über den angeblich rassistischen Charakter ihres Programms verwickelt worden. Letztendlich wurde die Partei verurteilt, änderte 2004 das Programm und ihren Namen in Vlaams Belang (Flämisches Interesse). So blieben zumindest die Initialen "VB" dieselben.

Ein Holocaustmuseum sollte entstehen, um "jeden daran zu erinnern, was geschehen kann, wenn totalitäre Ideen die Oberhand gewinnen", erklärte Dewael und zielte damit vor allem auf den Vlaams Belang, der seit den Regionalwahlen im Juni 2004 mit den meisten Sitzen im flämischen Parlament vertreten ist. Mit einem progressiv-liberalen Kurs wollte Dewael den Vormarsch braunen Gedankengutes stoppen. Sein Großvater, der liberale Politiker und ehemalige Minister Arthur Vanderpoorten, war im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen umgekommen.

Mechelen erschien noch aus einem anderen Grund als gute Wahl: Von Antwerpen aus hatte sich der braune Fleck bereits bis in das verschlafene Provinzstädtchen ausgebreitet. Der Ministerpräsident gab den Startschuss für das Museum. Ihm zur Seite stand sein Kulturminister Bert Anciaux, Chef der flämisch gesinnten linksliberalen Splitterpartei Spirit. Aber die Initiative versackte in einem jahrelangen, absurd anmutenden Hickhack flämischer Machart.

Dewael konnte kaum voraussehen, in welch trübem Tümpel seine Idee landen würde. Gemeinsam mit Anciaux stand der flämische Liberale unter dem Eindruck der großen Holocaustmuseen und -denkmale in London und in Berlin. Auch die Stockholmer Deklaration vom Januar 2000, in der die Regierungen weltweit dazu aufgerufen wurden, dem Gedenken an den Völkermord größere Bedeutung beizumessen, war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Dewael schwebte ein Museum von "herausragender Bedeutung für Europa" vor, das eine "exemplarische Funktion" erfüllen sollte. Ein Besuch in den beengten Räumen des Jüdischen Museums in Mechelen hatte ihn auf den Gedanken gebracht, dieses substantiell zu erweitern und zum Holocaustdenkmal für ganz Flandern auszubauen. Diese Idee führte jedoch zu einem Konflikt zwischen der Geschäftsführung des Museums und verschiedenen Wissenschaftlern, dem die Regierung mehr oder weniger hilflos gegenüber stand. Dabei ging es um das Konzept selbst als auch um die Finanzierung. Der Entschluss der Regierung, Millionen für dieses Projekt bereitzustellen, das bislang von der jüdischen Gemeinde unterstützt und finanziert wurde, hatte Folgen. Denn die notwendige Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinschaft und Akademikern, die auf ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit bestanden, gestaltete sich als sehr schwierig. Es scheine, als ob auf Kosten der Regierung eine Ausstellung über die Missionierung von Afrika geschaffen und den belgischen Bischöfen die Verantwortung dafür übertragen werden solle, bemerkten Kritiker bissig.

Schließlich landete man beim Kern einer alten Debatte: Ist der Holocaust ein exklusives "jüdisches" Thema, oder ist er von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse? Es trat ein, was man unbedingt hatte vermeiden wollen, ein Konflikt zwischen einer "jüdischen" und einer "nichtjüdischen" Schreibweise der Geschichte. Für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft bleibt es unakzeptabel, dass an der Exzeptionalität des Holocaust gezweifelt wird. Sie beharren darauf, dass das Drama der Judenverfolgung zur Zeit der deutschen Besatzung in seiner zentralen Bedeutung erhalten wird. Wer den politischen Gebrauch und Missbrauch der Shoah, aber auch ideologische Zwecke - wie die Unterstützung von Israel - kritisiert oder anderen Äußerungen von Rassismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg "zu viel" Aufmerksamkeit widmet, gerät in den Verdacht, den Holocaust "bagatellisieren" zu wollen. Dewael wurde sogar der Vorschlag unterbreitet, das Holocaustmuseum in einen "jüdischen" und einen "anderen" Bereich zu unterteilen.

Doch letztlich fiel der Startschuss zum Ausbau des Museums. Die Probleme um die neue Geschäftsführung wurden gelöst und die Spannungen zwischen den Wissenschaftlern und der jüdischen Gemeinschaft ebbten ab. Die Regierung versprach, viel Geld für das Prestigeprojekt frei zu machen. Doch der Elan, es umzusetzen, erlahmte zusehends. Demgegenüber hielt die Furcht vor einem unaufhaltsamen Aufmarsch der "rechten Extremisten" an. Vlaams Belang verdiente kaum noch dieses Etikett, dennoch schlossen sich die anderen Parteien zu einem mit Mühe zusammengehaltenen Cordon sanitaire, einer Art Boykottstrategie gegen braunen Populismus, zusammen. Der Bau des Museums kam indes nur schleppend voran, dagegen erhöhten sich die Kosten von 30 auf 40 Millionen Euro. In politischer Hinsicht begann sich der Wind zu drehen. Ministerpräsident Patrick Dewael wurde 2003 durch Bart Somers, seinem liberalen Parteifreund und Bürgermeister von Mechelen, abgelöst. Ein Jahr darauf kehrten die Christdemokraten an die Macht zurück.

Der neue Ministerpräsident Yves Leterme (CD&V, Christen-Democratisch & Vlaams) schien kein großer Anhänger der Museumsidee zu sein. Die Christdemokraten reagierten zurückhaltend, und Leterme verwies auf die Finanzlage, die weitaus weniger gut war, als es zunächst den Anschein hatte. Währenddessen blieben die liberalen und sozialistischen Koalitionspartner bei ihrem Enthusiasmus, verfügten sie doch über Parteipolitiker, die in Mechelen verwurzelt waren. Ein Ausschuss von Experten arbeitete an einem inhaltlichen Konzept. Als dessen Mitglieder das Papier 2005 der Regierung übergaben, verschwand es zunächst in der Schublade des Ministerpräsidenten. Erst ein Jahr später entschloss sich die flämische Regierung, mit dem Bau des Museums zu beginnen, jedoch ohne die finanziellen Konsequenzen deutlich zu benennen.

Seitdem beschäftigt sich die Regierung kaum noch mit dem Projekt, denn 2007 wurde für die belgischen Politiker zum annus horribilis. Nach den Wahlen im Juni rutschte das Land in eine beinahe bodenlose Krise. Manch ein Beobachter im In- und Ausland sah bereits das Ende Belgiens kommen. Leterme verließ die flämische politische Bühne, übergab sein Amt als Ministerpräsident Kris Peeters und stürzte sich in das scheinbar aussichtslose Unterfangen der Bildung einer neuen belgischen Föderalregierung. Da blieb für die Museumsfrage nur wenig Interesse. Allein einige Historiker führten die Diskussion fort.

Die Überlegungen der Historiker

Aus dem Bericht des Expertenausschusses, der unter der Leitung des Genter Zeithistorikers Bruno De Wever stand, geht deutlich hervor, dass die Historiker die Idee eines traditionellen Holocaustmuseums nicht befürworteten. Anders gesagt: Sie wollten es (viel) größer und (viel) besser. Überall in Europa waren inzwischen Holocaustmuseen entstanden, auch in Städten, die von dem kleinen Flandern aus bequem zu erreichen sind. Ein flämisches Holocaustmuseum würde nichts Neues bringen als die bekannte Geschichte, die mit dem Jahre 1933 begann und 1945 endete, die endlos zitiert und ins Bild gesetzt wird, um Touristen und Schüler anzuziehen, Orte eines kommerzialisierten und verkitschten Betroffenheitskultes. Aus dem Report ist zu entnehmen, wie sich die Ansichten der internationalen Geschichtsschreibung in den vergangenen Jahren verändert haben und mitunter davon abweichen, was als politisch wünschenswert oder brauchbar gilt.

Zuallererst stellte sich die Frage, ob ein traditionelles Holocaustdenkmal, das ausschließlich den jüdischen Opfern gewidmet ist, tatsächlich die moralisch-bildenden Werte vermitteln kann, die von ihm erwartet werden. Die flämischen Historiker wollten unter keinen Umständen ein weiteres Anne-Frank-Haus. Es sei eine Wunschvorstellung, dass die Konfrontation junger Menschen mit jüdischem Leid sie automatisch zu demokratisch gesinnten und verantwortlichen Bürgern mache. Es wirke kontraproduktiv, wenn die Opfer anderer und neuer Formen von Gewalt und Unrecht strukturell außer Acht gelassen würden. Werden rechtsextreme Rädelsführer oder junge stigmatisierte Migranten wie von selbst bekehrt, wenn man sie mit Ereignissen, die vor sechzig Jahren in der Dossin-Kaserne geschahen, konfrontiert? Die Historiker entwickelten die Idee von einem Museum mit einer breiteren Perspektive, die auch die spezifischen lieux de mémoire - Orte der Erinnerung - einbezieht. Transit Mechelen sollte es heißen, mit dem Untertitel "Museum der Verfolgung und des Völkermords". Der Name verweist auf die frühere Funktion der Dossin-Kaserne, der Untertitel sollte hervorheben, dass das Projekt über die Deportation der Juden aus Belgien hinausgeht.

Kern des Problems ist die neue Betrachtung des Holocaust. Fragen, die Fachhistoriker seit Jahren beschäftigen, dringen im breiteren Publikum nur langsam durch. Es geht um Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit, um Fragen der Perspektive, aus der die Geschichte von Verfolgung geschrieben wird, und um Historizität sowie Kontinuität. Das Tabu von der absoluten Einzigartigkeit des Holocaust ist seit längerem durchbrochen. Ein Vergleich muss nicht zur Trivialisierung führen, aber es ist erlaubt, den sakralen Charakter eines Holocaust, der in seiner Einzigartigkeit über den Grenzen des Erfassbaren steht, zu hinterfragen. Wenn der Holocaust das absolute und mit nichts zu vergleichende, unaussprechlich Böse repräsentiert, dann ist es sinnlos, ihn begreifen zu wollen. Er kann uns nicht mehr berühren - ein historischer Irrtum, der die Leiden anderer in Abrede stellt und nachfolgende Generationen in Sprachlosigkeit zurücklässt.

Auch die ausschließliche Opferperspektive ist problematisch, denn um die Mechanismen von Unterdrückung und Verfolgung zu begreifen, ist sie wenig hilfreich. Der Historiker, der allein der Opferperspektive folgt, sieht ebenso wenig wie das Opfer selbst. Wer beispielsweise mehr erfahren will über das politische Klima im Belgien der 1990er Jahre, als die Kindermorde von Dutroux, die Kritik an Gerichten und an der Polizei sowie die "weißen Protestmärsche" gegen das Versagen der Politik das Tagesgeschehen bestimmten, erfährt nur wenig, wenn er allein das "Haus von An" in Hasselt, die Wohnung von Paul Marchal, dem Vater eines der ermordeten Mädchen, aufsucht.

Bleibt die Frage der Kontinuität. Es ist müßig und letztendlich fruchtlos, die Geschichte der Judenverfolgung nur im Zeitrahmen von 1933 bis 1945 zu betrachten. Es verschließt die Augen vor Traditionen und Strukturen, die sich schon lange vor den Besatzungsjahren entwickelt hatten und die nicht plötzlich verschwunden sind. Die Einteilung der Geschichte in abgeschlossene Episoden ermöglicht es dem kollektiven Erinnern, sich der Verantwortung zu entziehen: "Was geschehen ist, ist geschehen." Es kann uns hier und jetzt nicht mehr in Verwirrung stürzen. Dem widersprach seinerzeit unter anderem der deutsche Historiker Martin Broszat, als er mit seinem Plädoyer für die Historisierung des Nationalsozialismus eine kontroverse Debatte auslöste. Er vertrat die Auffassung, dass der Umgang mit dieser Vergangenheit zur kulturellen Identität gehöre, damals wie heute.

Die Diskussion über die Interpretation des Holocaust, die bereits geraume Zeit und in allen Tonarten durch Historiker im In- und Ausland geführt wird, hat Flandern erreicht. Der wissenschaftliche Ausschuss wollte nicht mehr und nicht weniger als ein groß angelegtes Museum, in dem jahrhundertealte Mechanismen von Ein- und Ausschluss, von Diskriminierung und Unterdrückung sichtbar gemacht werden, ein Museum, in dem die Judenverfolgung in Belgien zwischen 1942 und 1944 aus seiner Isolierung herausgelöst wird. So kehrte man zu der Idee zurück, vielleicht doch zwei Ausstellungen einzurichten: die Sammlung aus der Dossin-Kaserne, um die Geschichte des "belgischen Kasus" zu erzählen, und Transit, die den Bogen weiter spannt. Darin sollen vor allem Wirkungsweisen und Prozesse, welche die Deportation und den Judenmord möglich gemacht haben, dargestellt werden: die Herausbildung von Nationalstaaten und ethnisch definierten Bevölkerungsgruppen, technisch-wissenschaftliche Utopien, politische Romantik und Aufklärungsdenken, Migration und Ausschluss, Diskriminierung und Verfolgung, Erinnerung und Verdrängung. Die große und die kleine Geschichte der unzähligen Opfer, Täter und Zuschauer. Vom Stolz auf "uns selbst" und der Stigmatisierung der "Anderen". Die Geschichte, in der wir uns unter augenscheinlich ganz gewöhnlichen und banalen Umständen selbst erkennen können.

Lautstarke Pressestimmen

Gegenwind gegen die Vorstellungen der Historiker kam aus der jüdischen Gemeinschaft, aber auch von "dissidenten" Wissenschaftlern. Der Brüsseler Historiker Joël Kotek meinte, dass Transit möglicherweise in Hände von "Ideologen" gerate, welche die Opfer des Holocaust ausschließen wollen. Wer den "belgischen Kasus" in einem Bad jahrhundertealter Unterdrückung und Unrecht ertrinken lasse, so Kotek, verkürze die Shoah zu einem "Detail der Geschichte". Müsse man dann nicht fürchten, dass den Juden ihre Gedenkorte nicht mehr gegönnt werden? Der Leuvener Politikwissenschaftler Marc Hooghe betonte, dass die Deportation und Ermordung von 25 000 Juden aus Belgien eine einzigartige Episode der nationalen Geschichte sei. Kritiker wie er möchten vor allem der Gedenkfunktion von Geschichte Nachdruck verleihen, in der die Opfer die zentrale Rolle spielen. In der flämischen Tageszeitung "De Standaard" kritisierte die Journalistin Mia Doornaert eine "linke Banalisierung des Holocaust". Wer den Judenmord zu einer Episode in der Geschichte von Leid und Unrecht verkürze, scheine seinen spezifischen Charakter zu übersehen - eine Verbrämung, die paradoxerweise vergleichbar sei mit der Tendenz, die flämisch-nationalistische Kollaboration mit den deutschen Besatzern während des Krieges zu vertuschen.

Der Vorsitzende des Expertenausschusses Bruno De Wever musste sich angesprochen fühlen. Selbst aus flämisch-national gesinntem Hause, hat er mit seinen Studien über den Vlaams Nationaal Verbond (VNV, Flämischer Nationalverband) einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung der flämischen Kollaboration geleistet. Der vermeintliche "Unwillen, den Juden ihr Museum zu gönnen", ist für ihn ein Scheinargument, das die Diskussion mit Verdächtigungen und Zuschreibungen von Intentionen, die am Kern der Sache vorbeiführen, zum Versiegen bringt. De Wever verwies auf das Gutachten, das die Errichtung von zwei Ausstellungen vorschlägt. Die Dossin-Kaserne könne ein Gedenkort werden. Das komme denen entgegen, die zu Recht das Bedürfnis des Gedenkens an die Holocaustopfer haben. Dieser Gedenkort könne sozusagen das Portal zum eigentlichen Museum Transit bilden, das die Möglichkeit einer kritischen Reflexion in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang bietet.

Geschichte schreiben ist nicht dasselbe wie das Gedenken. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, zu begreifen, zu erklären, zu konstruieren und zu rekonstruieren. Dabei ist die Aussage eines Zeitzeugen eher Last als Segen. Das Privileg des Opfers - "ich habe das selbst erlebt, das verleiht mir das Recht zu sprechen" - wirkt historischen Untersuchungen häufig entgegen. Oder, wie es Tony Judt formulierte: Das Schreiben von Geschichte geht eher gebückt unter dem Zuviel als dem Zuwenig an Erinnern. Die Erinnerung ist interessant für die Politik, nicht für die Geschichtswissenschaft.

Die Wissenschaftler haben zu Recht kritische Bemerkungen zu einer ausschließlich jüdischen Sichtweise und ihres naiven Nachbetens durch die Politiker gemacht. Doch vielleicht haben sie auch zu hohe Ansprüche. Wie sollte man sich ein Museum um das Thema "Ausschluss" vorstellen? Wenn der Missbrauch des Holocaust megaloman ist - der Holocaust als moralischer Eichpunkt, um alles nicht Genehme verurteilen zu können, Anne Frank als Ikone, mit der Rassismus und Rechtsextremismus entgegengetreten wird -, dann ist Transit Mechelen das natürlich auch. Ein Museum über alles Gute und Böse in der Geschichte der Menschheit? Ein Museum über das Böse in jedem von uns? Ein Museum als moralisch-pädagogisches Spiegelpalais? Die Idee einer therapeutischen Funktion des Museums befürworten Anhänger wie Gegner. Die Anzahl der Wissenschaftler, die sich in Flandern mit der Holocausthistoriografie beschäftigen, ist gering, und nur wenige Mitglieder des wissenschaftlichen Ausschusses können Kenntnisse in dieser Hinsicht vorweisen, etwa der Leuvener Historiker Lieven Saerens. Andere wie Bruno de Wever, Pieter Lagrou oder Marnix Beyen haben ihre Sporen auf Gebieten verdient, die eher am Rand der Holocaustforschung liegen.

Möglicherweise können sich einige in den Medien Gehör verschaffen. Der Historiker Pieter Lagrou, ein intellektueller Rebell mit flämischem und katholischem Hintergrund, wird nicht müde, seine neue Rolle als Fürsprecher der antiklerikalen Frankophilie zu spielen. In der Manier, wie sich der damalige flämische Ministerpräsident Leterme das Dossier zu Eigen machte, sehe er einen Reflex von "unausrottbarem flämischem Provinzialismus": In Flandern würden Katholiken und Juden Seite an Seite danach streben, ein "identitätsstiftendes" Museum zu schaffen, verbunden durch die Tränen um eine ferne Vergangenheit, für die sich niemand schuldig fühlen muss. Ein jüdisches Holocaustmuseum in Flandern als Ausdruck einer weltanschaulichen Erstarrung: Ein Holocaustmuseum, erbaut in traditioneller Form als das soundsovielte flämisch-nationale Monument, das die frankophone Gemeinschaft des Landes und auch die Mehrheit der belgischen Juden "institutionell enteignet von einem zentralen Erinnerungsort".

Gie Van den Berghe, der gern die Rolle des akademischen Underdogs spielt und sowohl Befürworter als auch Gegner mit seiner spitzen Feder piesackt, kritisiert den "Überkonsum" des Holocaust mit unlauteren Absichten. Die Fixierung auf das absolute Böse in der Unmenschlichkeit von Auschwitz habe einen beruhigenden Effekt, da es die Wahrnehmung des Bösen in und um uns ablenke. Van den Berghe verteidigt seine Ideen mit großer Standfestigkeit und mit viel Selbstmitleid. Der freisinnige Antizionismus und die unverdrossene Kritik über die "Ausbeutung des Holocaust" macht diesen "flämischen Finkelstein" in jüdischen Kreisen unpopulär.

Fazit

Die flämische Regierung hat sich inzwischen auf die Einrichtung des neuen Museums geeinigt: Kazerne Dossin. Museum, archief en studiecentrum over Holocaust en schendingen van mensenrechten (Kaserne Dossin, Museum, Archiv und Bildungszentrum über den Holocaust und Menschenrechtverletzungen) wird es heißen. Die Finanzierung ist gesichert, und die Architekten können mit der Planung beginnen. Welche Formen das Museum indes annehmen wird, ist noch immer nicht ganz deutlich. Die Historiker fühlen sich übergangen, da ihre Empfehlungen keine Berücksichtigung fanden. Im Gegenteil, der kulturelle Nationalismus hat nun auch die Geschichte erreicht: Flandern in seinem nationalen Selbstverständnis bekennt sich zur "Gedenkpflicht". Das kann man begrüßen, aber es sind vor allem Historiker, die skeptisch bleiben. Sie tun sich schwer damit, dass Geschichte einem "nationalen Kanon" unterworfen wird. Diese besondere Art politischen Geschichtsinteresses und eine offizielle Erinnerungskultur könnten der freien Forschung im Wege stehen.

Die Historiker fühlen sich zunehmend unwohl, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie die Rolle der Wächter des nationalen Gewissens einnehmen sollen. Im Jahr 2006 unterzeichneten 150 belgische Historiker eine Streitschrift, in der sie auf eine absurde Situation hinwiesen: Geschichte erfreue sich eines zunehmenden öffentlichen Interesses - denkt man allein an die rituelle "Entschuldigungskultur" -, gleichzeitig aber verfüge Belgien über ein Archivgesetz, das einem modernen Land unwürdig sei. (Die Archive sind in Belgien nur schwer zugänglich, ein Umstand, der die Forschung erheblich erschwert.) Geschichte scheine für die Politik wie für die Öffentlichkeit nur von Interesse zu sein, wenn es sich um die Auflistung menschlicher Katastrophen handelt: Kolonialismus, Genozide und Bürgerkriege; Indianer, Sklaverei, armenischer Genozid, Auschwitz, Srebrenica, Darfur.

Historiker sollen als Richter auftreten und über "gut" und "böse" befinden. Doch solchen Erwartungen können sie nicht entsprechen: Historiker sind keine Richter, sondern eher "Perlentaucher": Sie liefern Einsichten, über die andere ein (moralisches oder politisches) Urteil fällen. Historiker sind auch keine Hohepriester, die über das Vermächtnis der Toten wachen. Geschichtsschreibung ist mehr als ritualisierter Totenkult. Historiker bieten die Expertise, auf die sich andere stützen können, um kritisch über die Vergangenheit Rechenschaft abzulegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung aus dem Niederländischen: Simone Labs, Neuenkirchen.

    Siehe für Belgien auch: Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe 1945 - 1965, Cambridge 2004.

  2. Zu Belgien im internationalen Vergleich vgl. z.B. Luc Huyse, Alles gaat voorbij, behalve het verleden, Löwen 2006. Für die Niederlande siehe z.B. Jos Perry, Wij herdenken, dus wij bestaan. Over jubilea, monumenten en de collectieve herinnering, Nimwegen 1999.

  3. Vgl. Bart Brinckman, Waarom de bouw van een Holocaustmuseum zo lang aansleept, in: De Standaard (DS) vom 29.9. 2005, S. 35; ders., "Holocaustmuseum" is trein der traagheid, in: DS vom 15.11. 2006, S. 10.

  4. Vgl. www.cicb.be.

  5. Vgl. Isa Van Dorsselaer, Museum Dossinkazerne wordt kern Holocaustmuseum, in: DS vom 4.7. 2001, S. 4.

  6. Vgl. Rein Nauta, Excuus als excuus, in: ders. u.a. (Hrsg.), Excuus, pardon, vergeef me, het spijt me. Excertities in de excuuscultuur, Nimwegen 2001.

  7. Vgl. Georgi Verbeeck, Coming to terms with the (post-)colonial past in Belgium. The inquiry into the assassination of Patrice Lumumba, in: Harriet Jones/Kjell Östberg/Nico Randeraad (Hrsg.), Contemporary History on Trial. Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian, Manchester 2007.

  8. Vgl. Nathalie Bekx/Edwige Roels, Duizend maal excuus, in: DS vom 23.3. 2005, S. 55.

  9. Vgl. Rudi Van Doorslaer/Emmanuel Debruyne/Frank Seberechts/Nico Wouters (Hrsg.), Gewillig België. Overheid en Jodenvervolging tijdens de Tweede Wereldoorlog, Antwerpen 2007.

  10. Vgl. Wouter Verschelden, Belgische excuses voor Holocaust, in: DS vom 17.3. 2005, S. 10.

  11. Vgl. Lieven Saerens, Vreemdelingen in een wereldstad. Een geschiedenis van Antwerpen en zijn joodse bevolking 1880 - 1944, Tielt 2000; dies., De jodenjagers van de Vlaamse SS, Tielt 2007.

  12. Vgl. Letterlijk. Toespraak burgemeester Janssens, in: DS vom 28.10. 2007, S. 4.

  13. Vgl. Patrick Dewael, Wederzijds respect. De gevaren van het blok, Antwerpen 2001.

  14. Über rechten Radikalismus in Belgien, insbesondere in Flandern, vgl. Gilles Ivaldi/Marc Swyngedouw, Rechtsextremismus in populistischer Gestalt. Front National und Vlaams Blok, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2005.

  15. Vgl. Bart Brinckman, "Holocaust museum" wordt "Transit Mechelen", in: DS vom 4.2. 2004, S. 4.

  16. Vgl. ders., 30 miljoen euro voor Holocaustmuseum, in: DS vom 11.1. 2003, S. 4.

  17. Vgl. ders., Vertraging voor "Transit Mechelen", in: DS vom 17.3. 2005, S. 9.

  18. Vgl. Karel Verhoeven, Museum van het grote onheil, in: DS vom 17.3. 2007, S. 44f.; Jan Van Hove, Holocaustmuseum krijgt vorm, in: DS vom 13.12. 2007, S. 64.

  19. Vgl. www.cegesoma.be/interne/Transit_Mechelen/
    brochure_transit_mechelen.pdf (3.1. 2008).

  20. Vgl. Gie van den Berghe, Een moordmuseum, in: DS vom 3.4. 2004, S. 24f.

  21. Vgl. Marnix Beyen, Een museum met een breed perspectief, in: DS vom 13.12. 2005, S. 51.

  22. Vgl. Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1987.

  23. Vgl. Joel Kotek/Viviane Teitelbaum/Jacques Zaitman, Geen herdenking zonder slachtoffers, in: DS vom 19.1. 2006, S. 51.

  24. Vgl. Marc Hooghe, Een museum als moreel statement, in: DS vom 15.11. 2006, S. 70.

  25. Vgl. Mia Doornaert, Auschwitz is geen hype, in: DS vom 27.1. 2006, S. 57.

  26. Vgl. Bruno De Wever, Geschiedenis is meer dan herinneren, in: DS vom 6.2. 2006, S. 42f.

  27. Vgl. Tony Judt, The house of the living dead, in: ders., Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2006.

  28. Pieter Lagrou, Een museum dat steunt op prietpraat, in: DS vom 14.11. 2006, S. 50f.

  29. Vgl. seine Webseite www.serendib.be.

  30. Vgl. Dossin-kazerne wordt museum, in: DS vom 13.11. 2006, S. 13.

  31. Vgl. DS vom 24.1. 2006, S. 50f.

  32. Vgl. die Diskussion in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden, (2007) 2, S. 357 - 410 (Beiträge von Georgi Verbeeck, Christ Klep, Bambi Ceupens und Emmanuel Gerard).

Dr. phil., geb. 1961; Professor für Deutsche Geschichte an der Katholieke Universiteit Leuven/ Belgien; Dozent am Fachbereich Geschichte, Fakultät für Kultur- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Maastricht, Postfach 616, 6200 MD Maastricht/Niederlande.
E-Mail: E-Mail Link: Georgi.Verbeeck@history.unimaas.nl