Einleitung
Es mag anekdotenhaft wirken, wenn in der Debatte um eine vermeintliche oder reale Renaissance bürgerlicher Kulturmuster innerhalb der Gegenwartsgesellschaft zunächst auf ein ganz profan wirkendes Faktum als Beleg für Kontinuität verwiesen wird: auf die weitgehend unbemerkt gebliebene Wiederkehr der Dienstmädchenfrage.
Bekanntlich endete das "lange" 19. Jahrhundert auch durch die rigorose Verknappung der haushälterischen Dienstkräfte, deren Anwesenheit, zumindest einer ihrer Vertreterinnen, als "Minimalbedingung eines wirklich bürgerlichen Haushalts"
Rückkehr der Dienstmädchenfrage
In Deutschland stellt sich seit einigen Jahren eine "neue Dienstmädchenfrage".
Bei der (im wahrsten Wortsinne: Wieder-) Einwanderung dieser archaisch anmutenden Beschäftigungsverhältnisse, deren gesellschaftliche Realdimension trotz steuerrechtlicher Verklärung zur "haushaltsnahen Dienstleistung" wegen ihres weitgehend informellen Charakters in der Öffentlichkeit verdeckt bleibt, kommt es zu kulturellen Effekten. Die Verpflichtung des neuen "Bodenpersonals der Globalisierung"
Das wundersame Comeback der Sozialfigur "Dienstmädchen" auf dem Privatparkett der Berliner Republik ist nur einer von vielen Mikroprozessen, welche sich in der These von einer "Rückkehr der Bürgerlichkeit" bündeln lassen. Es gibt unter diesen Phänomenen "unsichtbare" Formen und Verläufe - man denke nur an das rudimentäre Wissen von Demoskopie und Sozialforschung über die für den Zusammenhang maßgeblichen Reichtumsverhältnisse und ihre prospektive Verschiebung in den nächsten Jahren im Rahmen eines bislang ungekannten Erbschaftsaufkommens
Bürgerlichkeitskonjunkturen - trivial bis elitär
Paradox erscheint dabei die Attraktivität der reanimierten Bürgerlichkeitsformen bei einem nicht unbedingt zum bürgerlichen Milieu zählenden Massenpublikum. Trotz aller Vorbehalte - die zahllosen TV-Kochshows, von Johannes B. Kerner bis Alfred Biolek, proklamieren eben auch den kalorienarmen Aufstand gegen "gutbürgerliche" Kantinen- und Hausmannskost. In den permanent produzierten Quizformaten wird - neben medialer Penetranz - zugleich ein volksnaher Bildungsauftrag mit ungeheurem Publikumserfolg vollzogen, der den ARD-Moderator Jörg Pilawa, Kopf einer erfolgreichen Vorabendrätselsendung, etwa darüber nachdenken lässt, erst im Frühjahr 2009 nach 1 500 (!) Folgen aus der Sendung auszusteigen. Und selbst die beim Gesellschaftstanz in der RTL-Show "Let's dance!" unglücklich wirkende (und in der Bild-Zeitung daraufhin schamlos als "Hoppel-Heide" vorgeführte) Ex-Ministerpräsidentin Heide Simonis konnte gegen den Vorwurf einer verfehlten Selbstinszenierung den Dienstauftrag eines emanzipatorischen Kulturhebungsprojekts in Anschlag bringen, da ihre Gage an Unicef-Deutschland überwiesen wurde.
Die suggestive, volkspopuläre Variante einer "Lust am Bürgerlichen" wird in diesen Trivialformaten überaus sichtbar. Sie hätte aber niemals zum Stoff einer diskursiven Verständigungsdebatte getaugt, wenn die Empathie nicht zugleich in den elaborierten Themenfeldern der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten des Landes Einzug gehalten hätte. Gleichsam in einer Parallelbewegung zum Sickereffekt innerhalb der Massenkultur reihen sich im "gehobenen" Feld neubürgerlicher Rückbesinnung längst verabschiedet geglaubte Werte und Normen zu einem unverbrieften Tugendarsenal. In distinkter Absetzung zum programmatischen Egoismus der Ereignis- und Singlegesellschaft werden wieder "alte" bürgerliche Verhaltensformen beschworen - deren ins Heute gewendete Kernelemente in einer Hinwendung zu gesellschaftlichem Engagement und zu einer private Risiken selbstständig tragenden Lebensführung bestehen.
Der Verfassungsrichter Udo di Fabio hat diesen neubürgerlichen Wertehimmel gleichsam sakralisiert, in dem er in seinen Forderungen nach einem "neuen bürgerlichen Zeitalter" neben "mehr Respekt für die Familie, für Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Fleiß und Erfolg" gleichzeitig und selbstverständlich mehr Akzeptanz "für religiöse Demut"
Hoch im Kurs des Neubürgerlichen stehen kulturelle Techniken und Geselligkeitsformen. Dabei erlangen wiederentdeckte Benimmregeln und "gute Manieren" sowie Hausmusik und eine längst versunken geglaubte Salonkultur, an die anzuknüpfen versucht wird, einen hohen Stellenwert. Noch vor einem Jahrzehnt verpönte Bildungskanons erweisen sich seit einigen Jahren jedenfalls als Bestseller - von Marcel Reich-Ranicki bis zum Prinzen Asfa-Wossen.
Illusionäre "Omnipotenzphantasien"?
Es ist die syntheseferne Monotonie solcher Erweckungsdiagnosen und es ist ihr stilindifferenter Pendelschlag - zwischen schrulliger ARD-"Bräuteschule", dem humanistischen Comeback von Latein und Griechisch an deutschen Gymnasien bis hin zu der vom Historiker Paul Nolte ausgerufenen Projektkladde einer "Generation Reform"
Gustav Seibt, einer der außeruniversitären Großintellektuellen seiner Generation, sah in diesem vermeintlichen "Bürgerlichkeitsspiel" einen beliebig austauschbaren Retro-Style am Werk,
Der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens schalt die Akteure der "neuen Bürgerlichkeit" unverblümt als Spießer.
Neubürgerlicher Mummenschanz ist mit solchen Invektiven trefflich zu erledigen. Aber stellt die Sehnsucht nach dem Bürgerlichen mitsamt ihren bisweilen noch täppisch daherkommenden Praxisformen wirklich eine geschwätzige "Omnipotenzphantasie der bundesrepublikanischen Mittelschicht"
Schon die Nachhaltigkeit der Debatte, die sich, trotz vorschneller Verabschiedungen, bis heute fortsetzt und in die verschiedensten institutionellen Felder multipliziert,
Bürgerliche Konstruktion - "Kultur" als Kraftfeld
Dieser Verweis auf das weithin Unabgeschlossene und noch Unverstandene eines Prozesses erinnert an die Forschungsergebnisse der Bielefelder Bürgertumsforscher,
Deshalb sieht es so aus, als wäre "Bürgerliche Kultur" geradezu das letzte noch mögliche Identifikationsmerkmal der so bezeichneten Gruppen und Lagen: Kulturelle Muster, Formen der Vergesellschaftung, der ständischen Lebensführung, der Sozialisation und Selbstrekrutierung konnten als "bürgerlich" bestimmt werden, nicht jedoch exklusive, fest umschreibbare Berufsgruppen oder Statuslagen."
Ohne die Thematisierung der rigorosen Entbürgerlichung, einer zehrenden Verlustgeschichte vor allem in der Phase der deutschen Teilstaatlichkeit, ist die aktuelle Konjunktureuphorie "alter" Kulturmuster und der anschwellende "Stimmungswandel" (Paul Nolte) in der Mitte unserer Gesellschaft jedoch kaum zu verstehen. In den voneinander abgeschotteten Sozialräumen von Ost und West ist es, folgt man den Erhebungen der Historiker und Sozialwissenschaftler, bis 1989 zu ganz ähnlichen sozialstrukturellen Verwerfungen gekommen: zur Diffusion eines einstmals wirtschaftlich, politisch wie kulturell eng konturierten Bürgertums, das selbst in der Blütezeit des bürgerlichen 19. Jahrhunderts kaum mehr als zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, in eine die Bevölkerungsmehrheit inkludierende und integrierende gesellschaftliche "Mitte", bestimmt von sozialer Homogenisierung und offenen Zugangswegen.
Parallele Entbürgerlichung in DDR und Bundesrepublik
In der "alten" Bundesrepublik hat diese Entwicklung ihren prägnanten Ausdruck in Helmut Schelskys Modellmetapher der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" gefunden. Als Resultante verschiedener Prozesse - etwa des Aufstiegs der Arbeiterschaft und der Verarmung bürgerlicher Flüchtlinge - habe sich, so Schelsky, "eine breite, verhältnismäßig einheitliche Gesellschaftsschicht" herausgebildet, welche die Tendenz zur "Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen" aufweise.
Namhafte Sozialwissenschafter konstatierten in der, durch die vollzogene Westbindung initiierten, bundesdeutschen Erfolgsgeschichte die vermeintliche Auflösung der einstmals klassentypischen Gegensätze und ersetzten das Klassenmodell durch Schichtungstheorien. "Ein solch kleinteiliges Schichtungsmodell", formuliert der Soziologe und Ethnologe Rolf Linder, "legte intra- und vor allem intergenerationale Aufstiegsaspirationen als realistisch und realisierbar nahe, etwa von der Oberen Unterschicht zur Unteren Mittelschicht oder von der Unteren Mittelschicht zur Oberen Mittelschicht."
Als Leitbild der expandierenden und auf gesellschaftlichen Erfolg gestellten mittleren Lagen erschien die in den 1960er Jahren von Karl Martin Bolte entworfene dickbäuchige "Bolte-Zwiebel". In dieser Visualisierung der bundesdeutschen Sozialstruktur spiegelte sich der vermeintlich ungeheure Zuwachs der Mittelschicht, zu der damals die Majorität der Gesellschaft gerechnet wurde. Im Zuge dieser vorschnellen Abkehr von Klassenunterschieden, wurden, wie Jens Hacke formuliert, die "feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu) eingeebnet, "denn eine uniforme Kultur des Konsums, des Profitdenkens und des marktgesteuerten bzw. staatlich abgefederten Wohlfahrtsstrebens schritt unaufhaltsam voran. Der "außengeleitete Mensch" (David Riesman) hatte kein Verlangen mehr nach bürgerlicher Innerlichkeit und den lange kultivierten Distinktionsmodi der Status- und Bildungsrepräsentation."
In der DDR vollzogen sich die Auflösung des alten Bürgertums sowie eine radikale Entbürgerlichung in machtgesteuerten diktatorischen Bahnen. Während das Besitz- und Wirtschaftsbürgertum weitgehend enteignet wurde,
Nach dem Mauerbau 1961, der die in der DDR verbliebenen Eliten räumlich von einer alternativen Lebensplanung im Westen abschnitt, erwuchs aus der systemtreuen "neuen sozialistischen Intelligenz" eine "staatstragende" Mittelschicht. Diese auftrumpfende, aus proletarischen Bildungsaufsteigern rekrutierte staatssozialistische Funktionselite zeichnete sich auch quantitativ durch eine starke Dynamik aus - hatten zur ihr am Beginn der 1950er Jahre allenfalls vier Prozent der berufstätigen Bevölkerung gezählt,
Trotz der repressiven Eindämmung existierten diese bürgerlichen Sonderräume nach 1961 in der DDR jedoch als soziokulturelle Alternativen in der "Kleine-Leute-Gesellschaft" (Dietrich Mühlberg). Sie tradierten jenseits des kommunistischen Erziehungsdogmas plurale Werte und bürgerliche Kulturmuster. Dieser alternative Handlungs- und Sozialisationsrahmen war dabei freilich vielmehr auf kulturelle Leitmodi des 19. Jahrhunderts als auf zeitgenössische Muster der westlichen Zivilgesellschaft gerichtet. Jene für die gesamte "Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geiste"
Vom Ende der geballten Mitte
Der Schnittpunkt dieser beiden gänzlich unterschiedlich verlaufenden Entwicklungslinien liegt in einer kulturellen Verkleinbürgerlichung der zentraler Mittelschichten in West wie Ost. Da und dort führte die forcierte Herausbildung einer neuen staatstragenden Mittelschicht bzw. die Wohlstandsintegration außerbürgerlicher Schichten zu einer kleinbürgerlichen Aneignung bürgerlicher Kulturmuster, in deren Folge die Kontur einer tradierten Bürgerlichkeit zunehmend verblasste.
In der Bundesrepublik wurde dieser Prozess freilich perforiert durch die Studentenbewegung und deren Symboljahr "1968", die ja ganz bewusst gegen bürgerliche Besitzstände zu Felde zog, die realiter kaum noch existierten. Nach der "Kulturrevolution", in deren Ergebnis die kleinbürgerliche Gesellschaftspolitur mehr als nur Risse bekommen hatte, erlangten plurale Lebensstile sowie Individualisierungsprozesse Deutungsmacht. In der DDR ist es zu keinem genuinen "[19]68 im Osten"
Die Ballung in der Mitte blieb für beide deutsche Teilstaaten repräsentativ. Damit war zwangsläufig eine ostentative Kleinbürgerlichkeit verbunden, da die sich solcherart ausgeweitete Mittelschicht kulturell nach unten orientierte. Somit galt das "Elitäre" im Westen lange als Angriff auf die Konsensgesellschaft; im Osten galt ohnehin das Ethos "antielitärer Eliten".
Niemand hat die eklatante Diskursdifferenz - zwischen den brüchig gewordenen (aber immer noch konsensfähigen) Fiktionen einer um die Mitte zentrierten Wohlfahrtsgesellschaft und der auch in den Konturierungs- und Etablierungsprozessen einer "neuen Bürgerlichkeit" aufscheinenden Akzeptanz neu aufbrechender Ungleichheit - so gut veranschaulicht wie der ehemalige Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD). Dieser hatte bekanntlich im Herbst 2006 als Repräsentant der herrschenden Verhältnisse erklärt, dass er beim besten Sinne keine sozialen Schichten in der Bundesrepublik erkennen könne, schon gar keine Unterschicht. Höchstens, wetterte er gegen das solche Zumutungen ausdrückende "Soziologendeutsch", kenne er Menschen, die "es schwerer haben, die schwächer sind."
Das Phänomen der "neuen Bürgerlichkeit" ist ohne den Blick auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nicht verstehbar: Der Diskurs reicht von der strittigen Diskussion um die Wiederkehr der "Klassengesellschaft"
Aber die diskursive Wiederkehr des Bürgerlichen ist keinesfalls bereits eine Ankunft im Alltag. Erst wenn die sieben Häute der Bolte-Zwiebel abgeschält sind, wird sich zeigen, ob Bürgerlichkeit tatsächlich zum Leitbild künftiger Führungskompetenz taugt, wie seine Protagonisten mit zuweilen fataler großpädagogischer Pose insinuieren, oder ob es sich, wie manche Kritiker meinen, lediglich um das kulturelle Styling einer selbst ernannten Elite handelt.