Einleitung
Gemessen an der Euphorie in der Zeit der Wiedervereinigung - erinnert sei an die tanzende Menschenmenge auf der Berliner Mauer und anderswo - währte die Zuversicht nicht allzu lang. Die "Vereinigungskrise" (Jürgen Kocka) rief sehr bald die Zweifler auf den Plan, deren Beiträge bald zu einem tiefen Lamento anschwollen. Einige warnten gar vor einer tief greifenden Veränderung der gesellschaftlichen Kultur in Deutschland. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung tat sich insbesondere Arnulf Baring mit seiner Warnung hervor, die neuen Bundesbürger seien "verzwergt", ihre Bildung "verhunzt" und eine große Zahl von ihnen "nicht weiter verwendbar".
Zwar sei der SED-Staat politisch und wirtschaftlich untergegangen, "kulturell jedoch ist die DDR allgegenwärtig, obwohl es diesen Staat seit zwölf Jahren nicht mehr gibt." Eine Haltung der Gleichmacherei, des Proletarischen und des Antikapitalistischen habe sich in einem Maß in die Köpfe und Herzen vieler Ostdeutscher in einer Weise eingesenkt, wie es selbst im beschwerlichen Alltag der DDR-Zeit nicht vorstellbar gewesen sei.
Die Äußerungen an sich sind weder hilfreich noch originell, sondern reihen sich ein in eine lange Kette von teils analytischen, teils polemischen Beiträgen zur deutsch-deutschen Befindlichkeit.
Erst in jüngster Zeit konstatierte Hans-Ulrich Wehler, dass in den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik das Bürgertum wie "Phönix aus der Asche" wieder emporgestiegen sei und belegt dieses durch starke personelle Kontinuitäten insbesondere im Wirtschaftsbürgertum zwischen 1930 und 1960. An einem entgegen gesetzten Punkt setzte Eckart Conze an: War nicht die Bundesrepublik die Staats- und Gesellschaftsform, in der sich Bürgerlichkeit maximal realisiert hatte, und zwar sowohl im sozialen Sinne einer Verallgemeinerung der sozioökonomischen Grundlagen des Bürgertums wie auch in der Verwirklichung einer Staatsbürgergesellschaft? Conze steht für die These von einer umfassenden Diffusion von Bürgerlichkeit. Diese Kulturform sei nicht mehr auf eine sich exklusiv als Bürgertum zu anderen Gesellschaftsformationen abgrenzende Personengruppe beschränkt gewesen, sondern konnte in unterschiedlicher Intensität auch von mittel- oder kleinbürgerlichen, sozialdemokratischen sowie von konfessionell vergemeinschafteten Gruppen angenommen werden.
Für die DDR sind Fragen nach dem Verbleib und dem weiteren Geschick des Bürgertums ebenfalls mit erheblicher Verspätung gestellt worden. Vor 1990 entsprachen sich in der Beurteilung dieser Frage der Blick der Kalten Krieger und das Selbstbild der DDR-Mächtigen. Auf beiden Seiten ging man davon aus, dass es sich dort nach Relikten von Bürgertum gar nicht erst zu suchen lohne. In der Selbstdarstellung der SED war die DDR vor allem der radikale Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Deutschland, bei dem die "antifaschistisch-demokratische Revolution" der unmittelbaren Nachkriegsjahre alle möglichen Verbindungen zu den unheilvollen bürgerlichen Traditionsbeständen gekappt habe. Die Vokabel "bürgerlich" fungierte dementsprechend im Politdeutsch der DDR nicht zur Beschreibung einer Sozial- oder Kulturgruppe, sondern vor allem zur Denunziation einer politisch unerwünschten Haltung, die im Verlauf der vierzigjährigen Geschichte durchaus unterschiedlich definiert werden konnte.
Die westdeutschen wie westlichen Beobachter übernahmen diese Vorstellung. Am Zugang zu den Quellen gehindert, waren sie zur Analyse der gesellschaftlichen Befindlichkeit des zweiten deutschen Staates weitgehend auf die Selbstpräsentation der SED und der ihr folgenden DDR-Historiographie und anderen Gesellschaftswissenschaften angewiesen. Darüber hinaus trug aber auch die auf westdeutscher Seite vorgenommene Qualifizierung der DDR als "ein Staat, der nicht sein durfte",
Mit dieser Öffnung liegt die Geschichtswissenschaft im Trend eines weit greifenden Fragens nach dem Bürgertum und der Bürgergesellschaft: Nicht nur die Feuilletons verweisen auf eine Renaissance von Stilattitüden aus dem Arsenal eines bürgerlichen Habitus, derer sich einzelne Lebensstilgruppen (erneut) bereitwillig bedienen. Auch die Politik hat die "Bürgergesellschaft" für sich entdeckt: Die zur Sondierung des "bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland" eingesetzte Enquetekommission definierte diese in ihrem Abschlussbericht von 2001 als "Netzwerk von freien, selbstorganisierten Assoziationen wie Vereinen und Verbänden, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, Stiftungen und Freiwilligendienste".
Besonders im Begriff der "Zivilgesellschaft" verknüpfen sich öffentliche und wissenschaftliche Interessen. Auch wenn unter diesem Signum oftmals insbesondere die nachdiktatorischen Gesellschaften Osteuropas analysiert werden, so hat diese Entwicklung doch auch die historiographische Diskussion zu den westeuropäischen und speziell zur deutschen Gesellschaft verändert. In den Blick rückt dabei (unter anderem) die Bürgerlichkeit und die ihr verbundene "bürgerliche Gesellschaft", ist diese Zielvision doch mit dem aktuellen politischen Gehalt der "Zivilgesellschaft" elementar verbunden. Unter anderem ist dieses Modell zur Analyse der friedlichen Revolution und ihrer Vorbedingungen in der DDR herangezogen worden.
Die Ausgangsthese neuerer Forschungen lautet deshalb, dass allen Brüchen und sozialen Verwerfungen durch Nationalsozialismus und Krieg zum Trotz sich die Geschichte nach 1945 als Fortsetzung einer längeren Geschichte von Bürgertum und Bürgerlichkeit analysieren und interpretieren lässt. Die forschungsstrategischen Konsequenzen, die aus dieser Neubewertung gezogen werden, sind unterschiedlich und berühren die zentrale Unterscheidung von "Bürgertum" als Sozialformation und "Bürgerlichkeit" als eine ihr verbundene Kulturform. Allen unterschiedlichen Konzeptionen zur Analyse ist die Annahme gemeinsam, dass weder allein die Sozialform noch ausschließlich ein kultureller "Überbau" zur Analyse des Phänomens ausreichen. Neben die nötigen sozialstrukturellen Voraussetzungen für eine Vergesellschaftung der Mittelschichten zum Bürgertum müssen zugleich ein kollektives Selbstbewusstsein und eine kulturelle Integration treten. Umgekehrt aber - und das ist insbesondere für die Zeit nach 1945 von Bedeutung - lassen sich die sozialökonomischen und die kulturellen Koordinaten des Bürgerlichen nicht unmittelbar voneinander ableiten, obwohl es zahlreiche Wechselbeziehungen gibt. Beide Komponenten haben unterschiedliche Entwicklungslogiken und -verläufe, auch dann, wenn sie - wie im Fall des bürgerlichen 19. Jahrhunderts - zeitgleich vertreten sind, und erst recht wenn sie, wie für die Nachkriegsgeschichte zu zeigen ist, phasenverschoben erodieren und sich auseinander entwickeln.
Im Folgenden wird versucht, auf dieser Grundlage Bürgertum und Bürgerlichkeit in der SBZ und in der DDR in prozessualen Kategorien zu beschreiben. Dabei gilt es, zunächst die Voraussetzungen und Hindernisse dafür zu identifizieren, dass sich die Mittelschichten bei der Koinzidenz verschiedener Strukturmerkmale zum Bürgertum vergesellschaften konnten. Diese empirisch nachzuweisenden Elemente sind dann auf die Frage hin zu überprüfen, ob und in welchem Umfang sie neue oder in Kontinuitäten stehende Zuordnungen und Identitäten schafften und welche alten oder neuen Prozesse darin wirksam waren.
Entbürgerlichung und Relikte von Bürgerlichkeit nach 1945
Die Vergesellschaftung der Mittelschichten zum Bürgertum bedarf verschiedener sozialer, ökonomischer und auch kultureller Voraussetzungen. Gemessen daran war - vordergründig betrachtet - die Ausgangslage für eine Re-Etablierung des Bürgertums in Deutschland schlecht. Die "Zusammenbruchgesellschaft" der letzten Kriegsjahre und der ersten drei Friedensjahre war von zahlreichen sozialen und strukturellen Verwirbelungen geprägt, die die traditionelle Gesellschaft zunächst kurzfristig veränderten.
Wie sich diese Tendenzen der "Zusammenbruchgesellschaft" mittel- und langfristig auswirkten, entschied sich anhand der unterschiedlichen politischen, sozialpolitischen und rechtlichen Weichenstellungen, die in den Besatzungszonen und den beiden deutschen Teilstaaten getätigt wurden. Der Vergleich zeigt besonders eindrücklich die unterschiedlichen Startbedingungen in Ost und West: In den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik wurde das Bürgertum durch verschiedene Maßnahmen "extern restabilisiert".
Hinzu traten verschiedene andere (ordnungs)politische Grundentscheidungen: Eine umfassende Neugliederung des Schulwesens wurde nur angedacht, nicht aber umgesetzt, so dass sich die traditionelle Bildungslandschaft und auch die für das Bürgertum so wichtige Gruppe der Lehrer an höheren Schulen rasch wieder etablierten. In der Justiz und in der Universität blieb die Entnazifizierung personalpolitisch eine Episode, sowohl in Struktur wie auch in den Inhalten überwogen die Kontinuitäten. Im Verbandswesen der "gebildeten Schichten", aber auch in den Interessenvertretungen des gewerblich-industriellen Mittelstandes entwickelte sich bald wieder ein kollektives Bewusstsein, das in vielen Punkten nahezu nahtlos an die Selbstüberhöhung früherer Zeiten anknüpfte.
In der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR verlief die Entwicklung konträr dazu: Mit ihrer Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zielten KPD/SED dezidiert darauf, die traditionellen Wurzeln zu kappen und das östliche Deutschland nach den ideologischen Vorgaben zu einer klassenlosen und sozialistischen Gesellschaft umzugestalten. Gestützt durch die Sowjetunion und machtpolitisch rasch etabliert, standen der politischen Führungsgruppe alle Hebel dazu zur Verfügung.
Zu den wichtigsten politisch induzierten Veränderungen, die auch die Existenz des Bürgertums betrafen, zählen die Veränderungen im Bereich der Ökonomie. Der 1946 von Sachsen aus betriebene so genannte "Volksentscheid zur Enteignung der Kriegsverbrecher" war nur der Anfang einer langen Serie von Maßnahmen, die darauf zielten, das private Unternehmertum und die Selbständigen immer stärker an den volkseigenen Sektor der Industrie zu binden und später in dieses zu integrieren. Die Planwirtschaft der DDR bot alle Möglichkeiten dazu, die privaten Produzenten, Händler und Handwerker zu Zulieferern und Dienstleistern des volkseigenen Sektors zu degradieren. Bereits vor dem "Knock-Out" für den Mittelstand im Jahr 1972, mit dem die verbliebenen Reste verstaatlicht wurden, waren Industrielle und Gewerbetreibende in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt und zunehmend reglementiert.
Im ländlichen Bereich war mit der Bodenreform ein ähnlicher Effekt erzielt worden: Zwar hielt man hier zunächst am Privateigentum fest. Mit der Parzellierung und Neuverteilung aber waren nicht nur die Junker und Großgrundbesitzer ökonomisch und politisch entmachtet, sondern mit den Neubauern eine neue soziale Klientel geschaffen worden, die man besonders eng an sich gebunden zu haben glaubte.
Weitere politische Bestrebungen der SED zielten auf die Schaffung einer "fortschrittlichen Intelligenz", die das alte (Bildungs)Bürgertum ersetzen sollte und im Gesellschaftsideal der SED neben der Arbeiter- und der Bauernklasse als ein drittes, wenn auch nicht gleichrangiges Segment gedacht war. Insbesondere Angehörigen der so genannten Flakhelfergeneration wurde mit Bemühungen wie der Schaffung von Arbeiter- und Bauernfakultäten und der darüber hinausgehenden sozialen Öffnung der Universitäten ein individueller Aufstieg geebnet, wie er unter anderen politischen Vorzeichen kaum realisierbar gewesen wäre. Nach der Konzeption der Einheitssozialisten sollte die Intelligenz die Relikte alter Eliten und deren von Professionalismus, bürgerlichen Traditionen und Lebensstil geprägtes Sonderbewusstsein zurückdrängen und ablösen. Von den Zeitgenossen sowohl in der politischen Sprache als auch in der wissenschaftlichen Analyse nur vage beschrieben, wurde diese Gruppe in der politischen Praxis vor allem über ihre Indienstnahme für die Belange der einheitssozialistischen Gesellschaft definiert.
Auch die Berufsgruppen und Professionen, aus denen sich große Teile des Bildungsbürgertums rekrutierten, waren in der SBZ unterschiedlichen Zugriffen ausgesetzt. Die Intensität des ideologisch-politischen Drucks war gestaffelt nach der Planwichtigkeit der jeweiligen Berufe und den Möglichkeiten des neuen Staates, die alten Berufsinhaber durch neue Funktionsträger zu ersetzen: So erwies sich insbesondere die ad hoc nicht zu ersetzende Ärzteschaft als überaus stabil, ließen doch die Angst vor drohenden Seuchen und die damit verbundene Abhängigkeit vom medizinischen Spezialistenwissen von einer rigorosen Entnazifizierung Abstand nehmen.
Starke personelle Kontinuitäten unter den protestantischen Pfarrern erklären sich aus dem politischen Ansinnen der Sowjetischen Militäradministration, die Kirchen für den Neuaufbau zu gewinnen. Nur indirekt, nämlich über die Quotierung von Theologiestudierenden an den staatlichen Hochschulen, konnte die SED auf Dauer Zugriff auf die Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses gewinnen.
Speziell für den Bereich der Hochschullehrerschaft ist gezeigt worden, wie stark das Überdauern der Vertreter einzelner Fächer von der "ideologischen Marktlage der Berufe" abhing:
Dem staatlichen Druck entzog sich ein Teil des Bürgertums durch den Fortzug in den westlichen Teilstaat. Die Bildungs- und Erwerbsstruktur der "hinübergemachten" SBZ- und DDR-Bürger zeigt einen zur Gesamtbevölkerung überproportionalen Anteil von Angehörigen typisch bürgerlicher Berufe. Davon ausgenommen waren ausschließlich die Pfarrer, die durch eine rigide Dienstethik an ihre Gemeinden gebunden waren. Die zu registrierende "Flucht des Geistes" war eine der sozialen Voraussetzungen für die Entbürgerlichung in der DDR.
Daneben traten zahlreiche weitere Faktoren, die die Reetablierung bürgerlicher Strukturen dämpfte oder gar vollständig behinderten: Die bürgerliche Öffentlichkeit in der Stadt wurde mehr und mehr eingeschränkt, die traditionelle Vereins- und Geselligkeitskultur durch der sozialistischen Gesellschaft konforme Massenorganisationen ersetzt.
Auch wenn sich die Aufzählung (ordnungs)politischer Eingriffe und Maßnahmen noch verlängern ließe, die eine erneute Vergesellschaftung der Mittelschichten zum Bürgertum behinderten, so ist dieses dennoch nur die eine Seite der Medaille. In scharfem Kontrast dazu steht eine zweite Tendenz: Während den SED-Funktionären in politischen, ökonomischen und sozialen Belangen alle Steuerungsmechanismen zur Verfügung standen, um ihr Gesellschaftsexperiment zu realisieren und ihre Macht zu festigen, fehlte ihnen in kulturellen Belangen der feste Stand und dementsprechend der Zugriff. Der Ideologie nach sollten nicht nur die "Kommandohöhen" von Politik, Verwaltung und Wirtschaft erstürmt, sondern auch der Kampf um die Köpfe gewonnen werden. Ein konsistentes, handlungsleitendes und breitenwirksames Konzept von einer "Kulturgesellschaft DDR" hat es aber weder in den 1950er Jahren noch danach gegeben. Der Ende der 1940er und in den frühen 1950er Jahren betriebene "Proletkult" scheiterte ebenso wie der "Bitterfelder Weg" der 1960er Jahre, auf dem Arbeiter zu Literaten gemacht werden sollten. Stattdessen knüpfte man in vielfältiger Weise an die Traditionsbestände des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Die Goldschnitt-Ausgabe der Werke deutscher Klassiker, die tief in der bürgerlichen Tradition verwurzelte Theaterkultur der frühen DDR, die demonstrative Bildungsbeflissenheit hoher SED-Funktionäre - in vielfacher Hinsicht schlug das Erbe der deutschen Arbeiterbewegung in Kaiserreich und Weimarer Republik durch, die ihrerseits deutliche Anleihen beim bildungsbürgerlichen Habitus und Kanon gemacht hatte. Selbst in den Bemühungen, den so hölzernen Parteichef Walter Ulbricht mit Charisma auszustatten und auf diese Weise zu einer möglichst weit strahlenden Identifikationsfigur für die DDR-Bevölkerung der 1950er und 1960er Jahre zu machen, wurde nicht nur auf das Pathos von Revolution und Volksverbundenheit zurückgegriffen, dass bei der Stilisierung der Sowjetführer zum Tragen kam. Diese Elemente kombinierte man in einer spezifisch deutschen Variante der Aneignung mit Versatzstücken einer "sozialistisch-kleinbürgerlicher Romantik":
Insgesamt blieb den Funktions- und Machteliten in Sachen Stil und Verkehrsformen eine Leitfunktion versagt. Stattdessen traf man auf "Spitzenfunktionäre, die sich in quasi-feudaler Pose des Weidwerks befleißigten, auf Planungsexperten, die den Gestus traditioneller Industrieeliten beherrschten, und auf Parteiideologen in der Attitüde bürgerlicher Gelehrsamkeit."
Allen verbalen Forderungen nach einem "sozialistischen Stil" zum Trotz wirkte die "Kultur- und Gesellschaftspolitik [...] auf der Ebene der Verkehrsformen eher konservierend".
Kontinuitäten? Die Rückeroberung der Zivilgesellschaft und die Bürgerlichkeit
Aber führte das zu einer dauerhaften Konservierung von Elementen der Bürgerlichkeit, vielleicht gar zu einem "Restbürgertum"? Zeitgenössische Beobachtungen zur Lebenswirklichkeit in der DDR legen es zunächst nahe, diese Frage zu bejahen. Die DDR, so schrieb Marion Dönhoff 1964, sei "eine Art Freilichtmuseum deutscher Vergangenheit" geworden, in dem das "Zeitalter der Fußgänger und Bierkutscher" noch nicht zu Ende sei.
Trotz der genannten Indizien sind sowohl für die schmalen Segmente des "Restbürgertums" wie auch für die Kulturform Bürgerlichkeit gravierende Veränderungen anzunehmen. Mit dem Ende der 1960er Jahre war die DDR-Gesellschaft auf ihre Weise in die transnationale Entfaltung der zweiten Moderne eingebunden. Informalisierung und Individualisierung, wie sie sich über das Vehikel der Jugendkulturen tief in die nordamerikanische wie in die westeuropäische Gesellschaft eingruben, sind auch in der DDR festzustellen.
In der DDR brachten sich diejenigen, die abweichende Lebensstile öffentlich praktizierten, in Gegensatz zur Gesellschaft, wurden politisch sanktioniert und blieben damit immer ein Randphänomen. Expressives jugendkulturelles Verhalten lehnte sich in Stil und Inhalten an die westlichen Vorbilder an und beschränkte sich vor allem auf den vor-öffentlichen Raum. Demonstrative Bürgerlichkeit zählte nicht zu ihren Ausdrucksformen und gewann daher auch in einem widersetzlichen Milieu keine Attraktivität.
Die einzigen bedeutenden Institutionen, die sich dem Anspruch der SED zumindest teilweise entziehen konnte, waren die beiden christlichen Kirchen. Eine breitere gesellschaftliche Ausstrahlung entwickelten vor allem die evangelischen Landeskirchen. Über die gesamte Dauer der Existenz der DDR bildeten die protestantischen Pfarrhäuser "einen Fremdkörper im Arbeiter- und Bauernstaat, indem sie sich ebenso an bürgerliche Traditionen orientierten, wie sie sich dem ideologischen Monopolanspruch der führenden Partei verweigerten".
Aber auch für die protestantische Kirche gilt, dass der in ihrem Raum praktizierte Lebensstil einem Formwandel unterworfen war.
Das protestantische Milieu war zugleich von innen einem Wandel unterworfen: Wo sich in den 1950er Jahren die Risse in den zerstörten Landeskirchen mit dem Verweis auf die jetzt alle Flügel bedrohende "Bolschewisierung" leicht übertünchen ließen, waren spätere Generationen mittels dieses Bedrohungsszenario nicht mehr zu integrieren.
Auf diese Weise entwickelte sich ein Kernmilieu, welches einerseits schrumpfte und zugleich Kreise zog, denn "der Pfarrer", so stellte der DDR-Soziologe und Theologe Erhart Neubert 1978 fest, war "als potentieller Außenseiter zugleich auch ein Magnet für andere Außenseiter, die Anpassung nicht wollen oder nicht können."