Wenn es um die Feier der Demokratie geht: Was steht dann im Mittelpunkt? Was bedeutet uns Demokratie? Welche Demokratiegeschichten erzählen wir zu diesem Anlass? Ist das nationale Erinnern einer Demokratie angemessen – und was würde das bedeuten? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, werde ich zum einen in die Geschichte der demokratischen Erinnerungskultur schauen. Zum anderen geht es darum, inwiefern das demokratische Erinnern der Komplexität von Demokratiegeschichte(n) gerecht wird und welche Erweiterungen der Gedenkkultur angesagt und möglich wären.
Der Blick auf die Geschichte der nationalen Gedenktage zeigt, dass die Erinnerung stark von der Annahme geprägt ist, Demokratiegeschichte sei eine Chronik von Gewalt. Diese Idee wird insbesondere im öffentlichen Diskurs gepflegt, zuweilen aber auch in der Geschichtswissenschaft.
Kaiser und Kriege: Gedenken in der Monarchie
Was sind die Wurzeln des nationalen Gedenkens? Wie in vielen europäischen Staaten begann in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – also in der Zeit der Massenpolitisierung – zwar nicht eine nationale Gedenkkultur, aber doch die systematische und intensive Auseinandersetzung damit. Kurz nach der Reichsgründung, noch im Frühjahr 1871, forderten 49 badische Gemeinden in einer Adresse an den Kaiser, einen "Stiftungstag des Reichs" einzurichten. Es sollte der Erinnerung an die "Schlachtfelder" und "an die ruhmreichen Siege" dienen.
Womöglich speiste sich die Abneigung des Kaisers aus antidemokratischen Gefühlen.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Nationalismus nicht nur in Deutschland von einer eher linken und progressiven Kraft hin zu einer staatstragenden, oft eher konservativen Macht. Aber auch da gestaltete er sich nicht eindeutig, und seine Grundlage blieben immer die Massen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass es die Badener waren, die den Kaiser um einen Nationalfeiertag gebeten hatten. Sie waren seit Jahrzehnten an demokratisch-parlamentarische Praktiken gewöhnt, hielten seit 1818 stolz ihre Verfassung hoch und glorifizierten sie in strahlenden Verfassungsfeiern.
Im Zentrum der Überlegungen um einen Nationalfeiertag aber standen Schlachten und Krieger, was den radikalisierten Nationsvorstellungen der Zeit um 1870 durchaus entsprach. In den USA feierte die Nation seit 1868 den Memorial Day, zunächst um ihrer toten Soldaten im Bürgerkrieg zu gedenken, seit dem Ersten Weltkrieg zu Ehren aller amerikanischen Gefallenen. Die französische Regierung führte – hochumstritten – 1880 den Tag des Sturms auf die Bastille, den 14. Juli, als Nationalfeiertag ein, allerdings abmildernd an das "Föderationsfest" von 1790 erinnernd. Die französische Nationalfeier wurde von Anfang an mit einer gewaltigen Militärparade begangen. Mit dem Kriegerischen knüpften die Nationalfeiertage nicht zuletzt an nationale Vorstellungen an, die eng mit der Wehrhaftigkeit des Landes, mit der Gleichheit der Waffen tragenden Bürger und oft auch mit der Wehrpflicht einhergingen. Wenig schien so egalisierend und euphorisierend zu wirken wie das Schlachtfeld.
Auch als im Sommer 1871 der Pfarrer und Sozialreformer Friedrich von Bodelschwingh eine neue Initiative startete, stand das Kriegerische im Zentrum: "[D]ie Väter werden den Kindern erzählen von ihren Erlebnissen im Feindesland; von den großen Schlachten und Siegen; von Deutschlands Erhebung und Einigung; von Napoleons Fall und Frankreichs Niederlage – und es werden Feste gefeiert."
Verfassung feiern in der Weimarer Republik
Die Geschichte des Nationalfeiertages der Weimarer Republik erscheint vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es auch im Kaiserreich anhaltende Diskussionen und Kritik an den Gedenktagen gab, weniger dramatisch, als sie zuweilen erzählt wird. Die ursprüngliche Idee der Nationalversammlung von 1919, den 1. Mai als Tag der Arbeit zum Nationalfeiertag zu erklären, wurde nie umgesetzt. Beschlossen wurde stattdessen eine Verfassungsfeier. 1921 legte der Reichstag offiziell den Nationalfeiertag auf den 11. August fest, den Tag, an dem 1919 Reichspräsident Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung unterzeichnet hatte. Früh kamen Bedenken auf, die Anordnung von oben sei ein Fehler, denn "ein Nationalfeiertag kann nicht dekretiert werden, der muss wachsen".
Die Konzentration auf den zivilen Akt der Verfassungsgebung ist bemerkenswert. Allerdings wollte man auch in Weimar nicht ganz auf das Kriegerische verzichten, auf Militärmusik und Uniformen. Dabei gestaltete sich das Militärische republikanisch: In vielen Kommunen organisierte das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (der verfassungstreue Wehrverband) den Nationalfeiertag und organisierte Paraden und Aufmärsche mit der schwarz-rot-goldenen Fahne.
Jubelvolk in der Diktatur
Im Nationalsozialismus erreichte die Feier des Militärischen bei nationalen Gedenktagen einen neuen Gipfelpunkt. Nicht nur am "Heldengedenktag" oder am "Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung" stand es im Zentrum. Auch die kirchlichen Feiertage oder ein neoheidnischer Tag wie das "Reichserntedankfest" wurden militarisiert. Beispielhaft zeigt sich die Durchmilitarisierung am 1. Mai, den die Nationalsozialisten 1934 als "Nationalen Feiertag des deutschen Volkes" installierten. Die Bevölkerung feierte die mit Aufwand inszenierten Festtage mit einer solchen Begeisterung, dass sie einen geradezu plebiszitären Charakter erhielten: Auf den Reichsparteitagen, bei den Olympischen Spielen, im rauschenden Erntedankfest, bei all den Aufmärschen der uniformierten Menschen offenbarte sich der totalitäre Anspruch des Regimes. Und das "Jubelvolk" bestätigte und legitimierte die Diktatur.
In starkem Kontrast dazu standen die Feiern in der DDR. Zwar spielten auch hier das Militär und die Uniformen eine wichtige Rolle. Doch der totalitäre Anspruch funktionierte nicht. Im Großen und Ganzen gilt: Das Fest misslang. Die Paraden galten als peinlich, die Herren auf der Tribüne versetzten die Deutschen anders als Adolf Hitler und seine Mannen nicht in Ekstase. Der "Tag der Republik", den die SED am 7. Oktober in Erinnerung an den Gründungstag der DDR 1949 feiern ließ, war geprägt von Militärparaden, Aufmärschen aller Art und von Organisationen wie den "Kampfgruppen der Arbeiterklasse". Geradezu symbolisch für das Misslingen stand der Aufstand einer großen Gruppe Jugendlicher während des Feiertags am 7. Oktober 1977, die "Nieder mit der DDR" schrien und mit Haftstrafen von bis zu vier Jahren verurteilt wurden. Dieser Protest gilt als der größte spontane Jugendprotest in der DDR.
Demokratie feiern: Schlachten und Revolutionen
Nach 1945 erlebte die Demokratie einen globalen Siegeszug, der vielfach als zweite Welle der Demokratisierung bezeichnet wird. Eine Tendenz setzte sich nun durch, die schon in der Zwischenkriegszeit ihren Anfang genommen hatte: Die Nationen begannen, ihre Nationalgeschichten als Demokratiegeschichten zu erzählen. Interessanterweise führte das kaum dazu, dass die nationalen Feiertage an militärischem Schwung verloren. Vielmehr gestaltete sich ein Großteil der nationalen Gedenktage, wie etwa in ehemaligen Kolonien, als Feier der Unabhängigkeit, die oft mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden war. Entsprechend finden in zahlreichen Ländern, etwa in Ghana, Finnland, in der Ukraine oder Indonesien am Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag Militärparaden statt.
Dem entsprach eine weitere Entwicklung, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten lässt. Revolutionen hatten die längste Zeit als problematisch gegolten, ihre Erinnerung hatte abschreckend gewirkt und dadurch nicht selten die Reaktion befördert. Die Terreur der Französischen Revolution, aber auch die Gewaltexzesse während der europäischen Revolutionen von 1848/49 und die Pariser Kommune 1871 galten in breiten Teilen der Bevölkerung als abschreckende Beispiele – keineswegs nur in Deutschland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Abscheu durch die Russische Revolution und den nachfolgenden Bürgerkrieg bestätigt, über deren Schrecken und Millionen von Toten weltweit detailliert berichtet wurde.
Die Einstellung zu Revolutionen änderte sich nun. Zugespitzt lässt sich sagen: Vom Beginn der Nationalfeiertage im 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das nationale Gedenken vielerorts von den großen Schlachten hin zu den großen Revolutionen. Zu untersuchen wäre, wie genau diese Entwicklung beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland mit einer revolutionären Gedenkkultur bei Straßennamen, Gedenkstätten oder Denkmälern einherging. Bereits 1948 wurde sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands die Revolution von 1848 als ein Höhepunkt der Demokratiegeschichte gefeiert; der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, gehörte zu den wichtigsten Förderern dieser neuen Erinnerungskultur. In der Bundesrepublik wurde 1954 mit dem "Tag der deutschen Einheit", der an den Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 erinnerte, ein revolutionäres Geschehen ins Zentrum gerückt. Entscheidend für eine Neubewertung der Revolution waren zudem der Wertewandel der 1970er Jahre und die intellektuelle Rezeption des Marxismus in den nordatlantischen Ländern, der Geschichte als eine Abfolge von Revolutionen interpretiert.
Die 200-Jahrfeier der Französischen Revolution 1989 besiegelte in gewisser Weise den Wandlungsprozess. Das Jubiläum war insbesondere in Frankreich zunächst hochumstritten, sorgte dann aber europaweit für eine neue, positive Revolutionsrezeption. Erst jetzt setzte sich in Frankreich der Konsens durch, die Revolution als wichtiges Gründungsereignis zu akzeptieren.
Feier der Vielfalt
Die neue Vorliebe für Revolutionen aber bestätigte den alten Geist der Gewalt und schrieb diesen in die nationalen Demokratiegeschichten ein. Zwar hatten einige Länder von jeher einen nationalen Gedenktag, der an friedfertige Ereignisse erinnerte: In Dänemark oder Norwegen beispielsweise feiern die Menschen ihre Verfassung, in Portugal wird der Nationaldichter Luís de Camões geehrt. Aber doch gilt für eine überwältigende Mehrheit der Nationalfeiertage die martialische Grundierung.
Das beginnt sich allerdings zu ändern. Typisch für die Pazifizierung der Erinnerung ist etwa der neue deutsche Nationalfeiertag: der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, der den 17. Juni ersetzte. In Südafrika wird seit 1994 der Freedom Day als Erinnerung an die ersten freien Wahlen gefeiert. Mittlerweile gibt es auf der Welt rund 100 Demokratien. Bei aller Skepsis und bei aller Sorge um den antidemokratischen Backlash, den einige Gesellschaften im Moment erleben: Das ist insgesamt eine Erfolgsgeschichte. Diese Entwicklung und die gesellschaftlichen Veränderungen öffnen neue Horizonte für die Feier der Demokratie und lassen Forderungen nach einem produktiveren Umgang mit dem nationalen Gedenken lauter werden.
Erstens steht die Friedfertigkeit stärker im Zentrum. Läutet sie ein Ende der anhaltenden Gewaltverherrlichung ein? Muss die Armee, so notwendig sie selbst für demokratische Staaten sein mag, im Zentrum der nationalen Identität und der Nationalfeiern stehen? Hinzu kommt, dass Untersuchungen zeigen, dass Unabhängigkeitsbewegungen und gesellschaftliche Transformationen im 20. Jahrhundert erfolgreicher waren und viel eher zu Demokratien führten, wenn sie friedlich verliefen.
Der zweite Punkt einer Horizonterweiterung demokratischer Erinnerungskultur hängt damit eng zusammen: Die Transformationsforschungen zeigen, wie wichtig für einen erfolgreichen Protest die Frauen sind. Je gewalttätiger die Transformation abläuft (im Extrem beispielsweise über einen Militärputsch), desto weniger Frauen sind daran beteiligt, desto eher tendieren die Gesellschaften dazu, in einer Diktatur und nicht in einer Demokratie zu enden. Dabei geht es nicht zuletzt darum, dass Frauen (im Gegensatz zu einer kleinen, gewaltbereiten Gruppe von Männern) für eine breite Zivilgesellschaft stehen, die den neuen Staat tragen und Demokratie ermöglichen kann.
Ist es nicht grundsätzlich erstaunlich, dass Frauen in all den Nationalfeiertagen selbst noch im 20. Jahrhundert kaum Beachtung gefunden haben? Die gefeierten Akteure waren in aller Regel Krieger und Kriegsherrn, Revolutionäre und Unabhängigkeitskämpfer – eben jene Mannschaft, die sich auf den Denkmälern wiederfindet. Frauen wanden Kränze und streckten Blumen in die Luft. In überirdischer Gestalt tauchten sie zuweilen als Allegorie für die Revolution, für den errungenen Sieg oder für die Trauer um die Gefallenen auf.
Mehr Vielfalt im nationalen Gedenken würde einer Demokratie grundsätzlich gut zu Gesicht stehen. So wird etwa angesichts der zunehmenden weltweiten Migration und Fluchtbewegung die Bedeutung von Immigration immer klarer. Warum also nicht einen Gedenktag begehen, an dem Menschen mit Migrationsgeschichte gefeiert werden? In manchen Staaten findet am Nationalfeiertag bereits mit einem offiziellen Festakt eine Einbürgerungszeremonie statt. Auch an anderen Stellen ist die zunehmende Diversität schon in die offizielle Festkultur demokratischer Gesellschaften eingedrungen. So hissen beispielsweise am Christopher Street Day zahlreiche Rathäuser die Regenbogenflagge.
Aber wäre es nicht nötig, das Verständnis von Demokratie noch ganz anders zu weiten? Wie kam es eigentlich, dass der Blick, wenn es um die nationalen Feiern geht, auf die Staatsgründung verengt bleibt oder – in seltenen Fällen – auf die Verfassung? Ist nicht – um zum dritten Punkt zu kommen – der Sozialstaat eine zentrale Säule der Demokratie? Er ist vor allem ein Ergebnis der bereits erwähnten nachhaltig demokratischen Reformkultur, die angesichts der Überhöhung von Revolutionen ins Hintertreffen geraten ist. Der Sozialstaat trägt wesentlich dazu bei, dass Demokratien eine ihrer Kernaufgaben erfüllen können: allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wäre es nicht sinnvoll, jene große Frauen zu ehren, die von Anfang an dieses Projekt befördert haben? Bettina von Arnim etwa, oder Alice Salomon oder Marie Juchacz? Sie sind Mütter des Sozialstaats und unserer Demokratie. Ihre Feier würde unser Bild von Demokratie komplizierter und reicher machen.
Noch ein letzter und vierter Punkt sei zur Erweiterung des demokratischen Horizontes genannt. Zunehmend gedenken demokratische Gesellschaften nicht nur ihrer Heldentaten, sondern auch ihrer Verbrechen. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, dem Tag, an dem 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, ist in Deutschland ein bundesweit gesetzlich verankerter Gedenktag. In den USA erinnert der Juneteenth am 19. Juni an die Befreiung der Sklaven im Jahr 1865 – aber zunehmend auch an die Menschenverachtung der Sklaverei und an die Verbrechen der Weißen. Womöglich ist das die interessanteste und hoffnungsfrohste Entwicklung: Nationen, die sich trotz vieler intellektueller Hoffnungen bisher nicht aufgelöst haben, können sich zu einer selbstkritischen, inklusiven Identität ermächtigen und müssen sich nicht zwangsläufig martialischen und exklusiven Selbstbildern hingeben.
Sie gehören allen
Nationalfeiertage sind Tage des Volkes, sie gehören allen. Dabei war der Begriff von Zugehörigkeit noch nie so weit wie heute, und es lohnt sich, das Gedenken und die nationalen Identitätskonstruktionen entsprechend zu weiten. Demokratien brauchen nicht länger ihre Geschichte als eine Abfolge von heroischen Männern und Gewaltexzessen zu erzählen. Sie können sich auf ihre Institutionen und Traditionen besinnen, die Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ermöglichen. Und sie können – als Mahnung – entsprechend ihrem Anspruch auf ein demokratisches, aufgeklärtes, kritisches Selbstbild problematische Aspekte ihrer Geschichte in das Gedenken aufnehmen.