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Im Bann der Jahrestage - Essay | Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen | bpb.de

Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen Editorial Magie der Null. Zum Jubiläumsfetisch - Essay Das historische Jubiläum. Zur Karriere einer Zeitkonstruktion Geschichte in der Öffentlichkeit analysieren. Jubiläen als Gegenstand von Public History und Angewandter Geschichte Gedenktage und Jubiläen. Eine Gelegenheit zum historischen Lernen? Im Bann der Jahrestage Gedenken an den Holocaust. Ritual und Reflexion Die Schlachten der Volksherrschaft. Über Gedenktage und Demokratie

Im Bann der Jahrestage - Essay

Frank Bösch

/ 12 Minuten zu lesen

Die großen Jahrestage überschlagen sich derzeit: Nach 50 Jahren "1968" und 100 Jahren Weimarer Republik folgten 2019 70 Jahre Bundesrepublik, ein Sommer voller Fontane und 30 Jahre Mauerfall. Die waren kaum begangen, als 75 Jahre Kriegsende und 30 Jahre Wiedervereinigung vorzubereiten waren, ebenso die runden Geburtstage Beethovens, Hölderlins, Hegels und Engels’. Derzeit laufen die Vorbereitungen, um 2021 an den Mauerbau vor 60 Jahren zu erinnern.

Allerorten wird geprüft, welche Ereignisse sich künftig runden und damit für eine kurze Zeit besonders relevant erscheinen. Öffentliche Themen und Debatten werden geradezu planwirtschaftlich vorbereitet. Städte, Stiftungen und Journalist*innen, aber auch Wissenschaftler*innen kämpfen mit langen Kalenderlisten, um rastlos Veranstaltungen, Reden und Publikationen zu entwerfen. Oft weichen diese nur minimal von den Jubiläen kurz zuvor ab. Ministerien vergeben Millionen für ähnliche Events, die mühsam um ihr Publikum buhlen. Museen ringen zeitgleich um Ausstellungsobjekte, und Verlage suchen Autor*innen, die zu Dutzenden mit gleichen Themen in Konkurrenz treten und mitunter hastig ihre Bücher vollenden. Denn kurze Zeit später wären die jeweiligen historischen Themen ja nicht mehr aktuell und relevant.

Mittlerweile begehen wir sogar die Jahrestage der Jahrestage, so wird regelmäßig etwa an die Rede von Bundespräsident Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1945 erinnert. Die Organisatoren von Jahrestagen, die an Ereignisse erinnern, setzen sich zum Ziel, selbst ein Ereignis zu schaffen, das in die Geschichte eingeht. Recht erfolgreich waren die Event-Agenturen etwa in Berlin 2014, als die "Lichtgrenze" mit den aufsteigenden Gasballons am Mauerstreifen Menschenmengen anzog. Noch spektakulärer wurde knapp ein Jahr zuvor das 200. Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig begangen, bei dem ein Reenactment stattfand: 6.000 Menschen in Kostümen stellten die Schlacht vor rund 35.000 Zuschauer*innen nach.

Keine Frage: Die öffentliche Aufmerksamkeit für Geschichte ist begrüßenswert. Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen, sich vornehmlich anhand von Jahrestagen mit Geschichte auseinanderzusetzen, vonnöten. Die Corona-bedingte Zwangspause im Jubiläumsstress könnte Anlass geben, einen Moment innezuhalten und diese Entwicklung zu überdenken.

Kritisiert wurde schon früher, dass die Ausrichtung an Jahrestagen auf einer beliebigen Zahlenmystik beruhe und die "Jubiläumsindustrie" nicht ein historisches Bewusstsein fördere, sondern, so der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer, "ein Gedenken ohne Gedächtnis". Der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu trennte die kritische Reflexion der Geschichtswissenschaft "von der offiziösen Geschichte der Gedenktage". Dagegen hielt unter anderem die Kulturanthropologin Aleida Assmann den Jahrestagen zugute, dass der Wandel von historischen Bewertungen bei solchen Anlässen zeige, dass Jubiläen nicht nur das kulturelle Gedächtnis und transgenerationelle Erinnerungsgemeinschaften fördern, sondern auch partizipativ einen Anstoß zur historischen Reflexion bieten können. Diese mitunter durchaus innovative Aneignung wird, so lässt sich ergänzen, vermutlich weniger durch staatliche Feiern als durch den kommerziellen Buch- und Medienmarkt erreicht, der zur Absatzförderung neue Deutungen verspricht, wenngleich oft nicht einlöst. Während staatliche Akteur*innen eher konsensorientiert Gedenktage nutzen, um geteilte Werte zu legitimieren, setzt der Gedenkmarkt auf eine möglichst große Aufmerksamkeit und erprobt deshalb häufiger abweichende Positionen. Die diagnostizierte Aufwertung historischer Jubiläen seit den 1980er Jahren ging nicht zufällig mit der zeitgleichen Ausweitung von Markt und Medien einher. Die historische Erinnerung verwandelte sich dabei in Events, die nachdenkliche Vorträge, Shows mit Wurstbuden und emotionale Buch- und Filmbeiträge koppeln. Insofern ist der Verzicht auf Jahrestage, wie ihn Schlaffer gefordert hatte, keine realistische Option, da Jubiläen nicht einfach von oben angeordnet werden. Um eine historische Reflexion zu stärken, erscheint ihre Abschaffung auch nicht wünschenswert. Allerdings sollte der bisher dominante Typus von repetitiven Jahrestagen kritisch reflektiert und um Alternativen ergänzt werden.

Verengtes Geschichtsverständnis, beschränkter Erkenntnisgewinn

Problematisch ist zunächst, dass die derzeit groß zelebrierten runden Jubiläen ein verengtes Geschichtsverständnis fördern. Während sich die Geschichtsvermittlung an den Schulen und Universitäten mühsam vom Erlernen staatspolitischer Daten emanzipiert hat, verfestigt der Jahrestagsfetischismus diese erneut. Vor allem Kriege, Staatsgründungen oder Geburts- und Todestage großer Männer werden durch Jubiläen aufgewertet. Ähnlich wie im Schulunterricht der 1950er Jahre gleicht die Geschichte so einem mit heroischen und tragischen Ereignissen gespickten Zeitstrahl. Medial ist das gut vermittelbar, da hierzu personalisierte Bilder und dramatische Erzählungen überliefert sind. Geschichte lässt sich so ergreifend schildern, entlang Erfindungen genialer Männer, plötzlicher Kriegsausbrüche und opferreicher Friedensschlüsse. Problematisch ist, was ausgeblendet wird. Während sich die historische Forschung, der Schulunterricht und auch das familiäre Gedächtnis längst an Themen und Fragen der Sozial- und Kulturgeschichte orientiert, präsentieren Jahrestage oft ein antiquiertes Geschichtsbild. Der Alltag in Diktatur und Demokratie verschwindet ebenso wie Erklärungen für langfristige Veränderungen.

Zwar profitieren Historiker*innen und Museen von der medialen Aufmerksamkeit, aber sie verlieren ihre eigene gestaltende Kraft, historische Themen zu setzen. Der Jahrestagskalender erdrückt oft die kreative Behandlung innovativer und aktuell relevanter historischer Fragen. So zeigte das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin in den 2010er Jahren häufig Wechselausstellungen, die durch Jahrestage scheinbar unumgängliche Themen behandelten: Auf 200 Jahre Völkerschlacht (2013), 80 Jahre "1933" (2013) und 100 Jahre Erster Weltkrieg (2014) folgten 60 Jahre "1945" (2015) und 30 Jahre "Alltag Einheit" (2015), später dann eine Ausstellung aus Anlass von 100 Jahren Russische Revolution (2017). Unabhängig von der unterschiedlichen Qualität und Rezeption der Ausstellungen blieb die inhaltliche Ausstrahlungskraft und Akzentsetzung des Museums eher gering, wie auch Kritiker*innen vermerkten. Dagegen setzte das zeithistorische Konkurrenzmuseum in Bonn, das Haus der Geschichte, bei seinen Wechselausstellungen weniger auf Jahrestage, sondern auf aktuelle und innovative Themen, etwa zum Einwanderungsland Deutschland (2014), dem Wandel der Sexualmoral (2015), Medien und Politik (2015) oder zur Geschichte der Angst (2018). Relevante Fragen der Zeit wurden somit historisch diskutiert.

Ähnliches wird man für den Buchmarkt bei vielen Jahrestagen konstatieren können. Viele Verlage verpflichten renommierte Wissenschaftler*innen, zu Jubiläen Überblicksbücher zu verfassen, aber der Erkenntnisgewinn bleibt meist sehr begrenzt. So bescherten weder die Jubiläen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs noch zu dessen Ende Werke mit substanziell neuen Einsichten. Am stärksten gelang dies noch beim Jubiläum 100 Jahre Erster Weltkrieg, als die Debatten um die deutsche Kriegsschuld und die internationale Dimension des Krieges gewisse Akzente setzten. Bei 50 Jahre "1968" blitzte zumindest bei der Frage, welchen Anteil Frauen in der Studentenbewegung hatten, eine fruchtbare Kontroverse auf.

Erweiterung und Diversifizierung

Durch die kanonischen Jahrestage kommen viele Fragen, die wir heute diskutieren, kaum in das öffentliche Geschichtsbewusstsein. Klima- und Umweltschutz, Migration oder Rassismus sind etwa bisher kaum mit Jahrestagen verbunden, obgleich die Bedeutung dieser Herausforderungen sicherlich nicht gering ist. Wir feiern christliche Gedenktage, aber für eine Auseinandersetzung mit dem Islam, der seit Jahrzehnten in Deutschland beheimatet ist, gibt es bislang keine runden Kalendertage, anhand derer die Geschichte des Islam verhandelt werden könnte. Auch die Genese wachsender sozialer Unterschiede oder die neuen Dynamiken der Globalisierung haben kein festes Startdatum und sind damit seltener Thema öffentlich geförderter historischer Bücher, Ausstellungen oder Festveranstaltungen.

Eine Möglichkeit zur Abhilfe wäre, den Kanon um Ereignisse zu erweitern, die in Vergessenheit geraten sind, aber aus heutiger Sicht wieder mehr Aufmerksamkeit verdienen. 2019 hatten etwa die erste Weltklimakonferenz und der erste große Störfall in einem Atomkraftwerk, dem Reaktor nahe Harrisburg, ihren 40. Jahrestag, was Anlass für entsprechende zeithistorische Reflexionen zur Umweltgeschichte gegeben hätte. Ebenso hätte sich die Iranische Revolution angeboten, um eine Auseinandersetzung mit dem politischen Islam einzuleiten. Derartige Perspektiven würden globale Ereignisse in ihren Bezügen zu Deutschland zum Thema machen. 2020 haben die ersten tödlichen Anschläge auf Flüchtlingsheime und die großen rechtsextremen Terroranschläge von 1980 einen ähnlichen Jahrestag. Im Erinnerungskanon ist der Oktoberfest-Anschlag von 1980 bisher kaum verankert – obgleich er die meisten Toten und Verletzten aller Terrorakte in der bundesdeutschen Geschichte aufweist. Nun dürften die NSU-Morde dafür sorgen, dass dieses Attentat mehr Beachtung findet und auch Historiker*innen für das bisher nicht kanonisierte Ereignis interessiert werden.

Was sich bisher kaum über Jahrestage erschließt, ist der sich wandelnde Alltag der Menschen. Natürlich blitzt beim Erinnern an den 8. Mai 1945 oder den 9. November 1989 kurz auf, dass dies ein fundamentaler Einschnitt in die Lebenswelt vieler Menschen war. Das mittlerweile eingespielte Format der Jubiläumspublikation ist dabei eine vielstimmige Collage, die zeitgleiche Momentaufnahmen verbindet. Ähnlich wie bei historischen Dokumentationen im Fernsehen entsteht so ein anschauliches, mit Zitaten gespicktes Nebeneinander unterschiedlicher Erfahrungen. Dies mag emotional ergreifen, aber die Erklärungskraft bleibt begrenzt. Denn historischer Wandel vollzieht sich über Jahre und Jahrzehnte. Insofern sollten Jahrestage eher als Aufhänger genommen werden, um längerfristige Veränderungen zu erklären.

Auch die Geschichten von Frauen finden bei den etablierten Jahrestagen kaum eine Berücksichtigung. Die großen historischen Jubiläen der vergangenen Jahre streiften sie allenfalls. Beim Gedenken an 1945 wurde fast rituell an die Vergewaltigungen durch die Rote Armee und an die "Trümmerfrauen" erinnert, wenngleich letzteres im starken Maße ein in den 1980er Jahren etablierter Mythos ist, der nun wieder dekonstruiert wird. Am stärksten schimmerte 2018 das Jubiläum von 100 Jahre Frauenwahlrecht mit einigen kleineren Ausstellungen und Büchern auf, flankiert damit, dass die Stadt Berlin den Internationalen Frauentag als neuen gesetzlichen Feiertag einführte. Wie bei der länger währenden Debatte um die überwiegend männlichen Straßennamen wären auch bei Jahrestagen häufiger Frauen oder mit ihrer Geschichte verbundene Themen zu berücksichtigen. Eher unbemerkt verlief etwa 2020 der 60. Jahrestag der "Pille", obgleich diese Form der Verhütung sicherlich grundlegend war, um Frauen neue Freiräume für ein selbstbestimmtes Leben jenseits ungewollter Schwangerschaften zu gewähren. Ganz ohne Jahrestag setzte 2020 das DHM, nun mit neuer Leitung, einen Akzent, indem es eine Ausstellung zu Hannah Arendt realisierte. Dies ist sicherlich die eleganteste Lösung, um eigenständig auch die Geschichte von Frauen ins Geschichtsbewusstsein zu holen.

Um eine Diversifizierung von Jahrestagen zu erreichen und andere Themen zu setzen, bieten sich zudem große Gesetzesreformen an, die Veränderungen bescherten oder einen vollzogenen Wandel kodifizierten; wie die Rentenreform 1957, die Entschärfung des §175 Strafgesetzbuch (StGB) zur Homosexualität 1969 oder die Reformversuche des §218 StGB zum Schwangerschaftsabbruch, die bald ihren 50. Geburtstag feiern. Diese Themen lassen sich freilich auch ganz ohne Jahrestage historisch betrachten, nämlich im Kontext aktueller Debatten über Altersarmut oder Diskriminierung. Politik, Museen, Medien, Verlage und auch die Wissenschaft würden davon profitieren, die ewig gleichen Themen etwas weniger aufwendig zu zelebrieren und dafür die Genese anderer gesellschaftlicher Fragen mit ihren runden Jahrestagen aufzuwerten.

Tragische und heroische nationale Erzählungen

Jahrestage bedienen vor allem die nationale Selbstverständigung. Staat und Politik nutzen sie, um Integration und Gemeinschaft zu fördern, Opfern zu gedenken oder mit Verweis auf die Geschichte die Werte der Gegenwart zu akzentuieren. Damit verengen sie die Geschichte oft auf heroische oder tragische Perspektiven. Die alte Bundesrepublik hat dabei lange auf heroische nationale Jubiläumsfeiern verzichtet. Die bundesdeutschen Nachkriegsregierungen legten vor allem religiöse Feiertage fest, um normativ einen vor allem katholisch geprägten Gedenkkanon zu fördern. Dieser wurde um zwei heroische Daten ergänzt – den 1. Mai als Zugeständnis an die Sozialdemokratie und den 17. Juni als Feiertag ab 1954, um mit Verweis auf den Aufstand in der DDR im Jahr zuvor den Antikommunismus als Integrationsformel hochzuhalten. Andere Staaten wetteiferten dagegen bei ihren Jubiläen um die Bedeutung ihrer Nation: So lud etwa der Schah von Persien 1971 die Welt zur gigantischen 2500-Jahresfeier der iranischen Monarchie ein, Österreich beging 1991 ein 1000-jähriges Landesjubiläum, und Frankreich zelebrierte 1996 die Feier der Taufe von König Chlodwig vor 1500 Jahren.

Die Bundesrepublik setzte angesichts der vielen Brüche in der deutschen Geschichte dagegen auf "Trauer- und Mahnjubiläen", um sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Die Bewältigung des Todes und des Leides trat in den Vordergrund, ebenso wie die Auseinandersetzung mit Schuld, Vergebung und Versöhnung. Heroische positive Gedenktage waren mit den großen Dichtern, Denkern und Lenkern der Geschichte sowie mit Stadtjubiläen verbunden, die nationale und regionale Identität prägen sollten. In dieser Hinsicht blieb die Bundesrepublik "a nation of provincials", in der sich das Nationale in Verbindung mit regionalem Heimatbewusstsein konstituierte.

Seit den 1990er Jahren zeichnet sich eine stärkere Hinwendung zum Heroischen ab. Nun erhielten revolutionäre Umsturzversuche eine positive Aufwertung im Jahrestagskalender. Die Revolution 1848 wurde 1998 als Kampf für die Demokratie wiederentdeckt, die Öffnung der DDR-Grenze am 9. November als Kulminationspunkt der Friedlichen Revolution zelebriert und schließlich auch der Beginn der Weimarer Republik als erkämpfte Abschaffung der Monarchie und Durchbruch der Demokratie gefeiert.

Die Bedeutung und Legitimität dieser auf Tragik und heroischen Aufbruch zielenden Gedenktage steht außer Frage. Dennoch ist zu diskutieren, inwieweit Geschichte in diesen beiden Narrativen aufgehen kann und alles dazwischen ausblendet. So waren etwa die meisten Menschen in der DDR weder Held*innen noch Schurk*innen, sondern Mitläufer*innen, Uninteressierte oder punktuelle Helfer*innen. Ebenso gilt, dass viele historische Entwicklungen kaum durch nationale Erzählungen zu fassen sind, die für die bisherigen Jubiläen charakteristisch sind, trotz einer zunehmend internationalen Ausrichtung. Wer die Friedliche Revolution 1989 als Überwindung des Sozialismus und Kalten Krieges in Deutschland feiert, übergeht leicht die dafür grundlegenden Reformen bei den östlichen sozialistischen "Bruderstaaten", insbesondere in Polen. Jahrestage sehen nationale Entwicklungen als Maßstab an. Wer etwa 1918 oder 1945 aus deutscher Sicht als Beginn einer langen Friedenszeit zelebriert, überblendet, dass die Kämpfe nicht überall aufhörten. Entsprechend haben die besten Bücher zu Jahrestagen wie dem Ersten Weltkrieg eine internationale Perspektive gesucht.

Die Nation zu einen, ist eine mit Jahrestagen verbundene Hoffnung, die sich de facto selbst innerhalb von Deutschland nur begrenzt einlösen lässt. 2019 war etwa bemerkenswert, dass die Ost- und Westdeutschen ihre Geschichte eher getrennt begingen: 70 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz wurden im Westen gefeiert, 30 Jahre Mauerfall im Osten. Beide Daten markieren den Weg in die Demokratie und damit langfristig Erfolgsgeschichten. Es führt aber auch dazu, dass wir die DDR vor allem von ihrem Zusammenbruch her deuten. Durch den Blick von 1989 erscheint die DDR als ein von Greisen regierter, zusammenbrechender Staat, gegen den sich breiter Widerstand regte. Würde man die DDR von anderen Jahren aus betrachten, etwa von 1965 oder 1975, wäre die Deutung eine völlig andere. Hier würde das Bild eines starken Überwachungsstaates aufschimmern, der in der eigenen Bevölkerung und auch im Ausland nicht als fragiles Kuriosum erschien, sondern als stabiles Gebilde.

Natürlich können Jahrestage auch eine über sie hinausreichende Kraft entfalten, die neue Akzente setzt. Dem 30. Jahrestag des Mauerfalls 2019 sahen viele erst gelangweilt entgegen. Doch es entstand eine lebendige Debatte, die eine Verschiebung der Perspektive andeutet. Neben die Erinnerung an den "heroischen Protest" trat nun stärker eine Auseinandersetzung mit den Problemen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland in den 1990er Jahren. Abzuwarten ist, inwieweit sich diese Tendenz auch beim anstehenden 30. Jahrestag der Deutschen Einheit zeigt.

Meißel statt Vorschlaghammer

Trotz neuer Konjunktur des Sturzes von Denkmälern sind Jahrestage, diese "Denkmäler in der Zeit", nicht so leicht vom Sockel zu stoßen und im nächsten Fluss zu entsorgen. Denn ihr Fundament beruht nicht auf alterndem Beton, sondern einem dichten Netz aus staatlichen Initiativen, zivilgesellschaftlichen Gruppen und kommerziellen publizistischen Interessen, die sich wechselseitig diskursiv stabilisieren. Jahrestage sind zudem ein wichtiger Kitt in unserer fragmentierten Gesellschaft. Das mit ihnen verbundene Pathos schafft einigende Momente, ebenso die mitunter aufblitzenden Kontroversen um sie.

Nötig sind jedoch eine kreative Öffnung des verengten Kanons und ein Verzicht auf ihre kleinteilige, mitunter jährliche Wiederholung, um eine ermüdende Ritualisierung zu verhindern. Wünschenswert ist mehr Spielraum für brisante Themen, die keinen Jahrestag haben, aber eine historische Einordnung benötigen. Offensichtlich gibt es wie beim persönlichen Lebensrhythmus ein Bedürfnis, das Erinnern mit runden Jubiläen zu binden. Dieses Bedürfnis ist jedoch produktiv zu wenden, um nicht in Erstarrung zu verfallen und das Interesse an Geschichte einzuschläfern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bertram Haude, Krieg als Hobby? Das Leipziger Völkerschlacht-Reenactment und der Versuch einer Entgegnung, in: Forum Kritische Archäologie 4/2015, S. 1–12.

  2. Heinz Schlaffer, Gedenktage, in: Merkur 479/1989, S. 81–84, hier S. 83.

  3. Pierre Bordieu, Schwierige Interdisziplinarität: Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft, Münster 2004, S. 14.

  4. Vgl. Aleida Assmann, Jahrestage – Denkmäler in der Zeit, in: Paul Münch (Hrsg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 305–314, hier S. 311.

  5. Vgl. Andreas Kilb, Verfall eines Hauses, 13.5.2016, Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/das-deutsche-historische-museum-ist-ohne-direktor-14227843.html.

  6. Vgl. die Debatte um Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

  7. Vgl. Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig: Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018; Wolfgang Kraushaar, Umso schlimmer für die Tatsachen, 24.4.2018, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/kultur/zeitgeschichte-umso-schlimmer-fuer-die-tatsachen-1.3956594.

  8. Vgl. zu diesen "alternativen" globalen Ereignissen Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.

  9. Siehe etwa zu 75 Jahren Kriegsende Volker Ullrich, Acht Tage im Mai: Die letzte Woche des Dritten Reiches, München 2020.

  10. Vgl. Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen: Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes, Essen 2014.

  11. Vgl. etwa Externer Link: http://www.100-jahre-frauenwahlrecht.de; Hedwig Richter/Kerstin Wolff (Hrsg.), Frauenwahlrecht. Die Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018.

  12. Vgl. Michael Mitterauer, Millennien und andere Jubiläen, in: Historein 1/1999, S. 125–146, hier S. 125f.

  13. Vgl. Martin Sabrow, Deutsche Zeitgeschichtsjubiläen als historische Selbstvergewisserung, in: Tim Schanetzky et al. (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 299–317, hier S. 302.

  14. Celia Applegate, A Nation of Provincials: The German Idea of Heimat, Berkeley 1990.

  15. Siehe etwa die Werke von Jörn Leonhard zu den Jubiläen 2014/18: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, und: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018.

  16. Vgl. u.a. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

  17. Vgl. Hedwig Richter, Hol den Vorschlaghammer, 15.6.2020, Externer Link: http://www.spiegel.de/geschichte/ehren-denkmaeler-fuer-rassisten-hol-denvorschlaghammer-a-4e8b4f89-5d35-4bb7-a063-42cc6854d657.

  18. Assmann (Anm. 4).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Frank Bösch für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). E-Mail Link: boesch@zzf-potsdam.de