Die großen Jahrestage überschlagen sich derzeit: Nach 50 Jahren "1968" und 100 Jahren Weimarer Republik folgten 2019 70 Jahre Bundesrepublik, ein Sommer voller Fontane und 30 Jahre Mauerfall. Die waren kaum begangen, als 75 Jahre Kriegsende und 30 Jahre Wiedervereinigung vorzubereiten waren, ebenso die runden Geburtstage Beethovens, Hölderlins, Hegels und Engels’. Derzeit laufen die Vorbereitungen, um 2021 an den Mauerbau vor 60 Jahren zu erinnern.
Allerorten wird geprüft, welche Ereignisse sich künftig runden und damit für eine kurze Zeit besonders relevant erscheinen. Öffentliche Themen und Debatten werden geradezu planwirtschaftlich vorbereitet. Städte, Stiftungen und Journalist*innen, aber auch Wissenschaftler*innen kämpfen mit langen Kalenderlisten, um rastlos Veranstaltungen, Reden und Publikationen zu entwerfen. Oft weichen diese nur minimal von den Jubiläen kurz zuvor ab. Ministerien vergeben Millionen für ähnliche Events, die mühsam um ihr Publikum buhlen. Museen ringen zeitgleich um Ausstellungsobjekte, und Verlage suchen Autor*innen, die zu Dutzenden mit gleichen Themen in Konkurrenz treten und mitunter hastig ihre Bücher vollenden. Denn kurze Zeit später wären die jeweiligen historischen Themen ja nicht mehr aktuell und relevant.
Mittlerweile begehen wir sogar die Jahrestage der Jahrestage, so wird regelmäßig etwa an die Rede von Bundespräsident Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1945 erinnert. Die Organisatoren von Jahrestagen, die an Ereignisse erinnern, setzen sich zum Ziel, selbst ein Ereignis zu schaffen, das in die Geschichte eingeht. Recht erfolgreich waren die Event-Agenturen etwa in Berlin 2014, als die "Lichtgrenze" mit den aufsteigenden Gasballons am Mauerstreifen Menschenmengen anzog. Noch spektakulärer wurde knapp ein Jahr zuvor das 200. Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig begangen, bei dem ein Reenactment stattfand: 6.000 Menschen in Kostümen stellten die Schlacht vor rund 35.000 Zuschauer*innen nach.
Keine Frage: Die öffentliche Aufmerksamkeit für Geschichte ist begrüßenswert. Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen, sich vornehmlich anhand von Jahrestagen mit Geschichte auseinanderzusetzen, vonnöten. Die Corona-bedingte Zwangspause im Jubiläumsstress könnte Anlass geben, einen Moment innezuhalten und diese Entwicklung zu überdenken.
Kritisiert wurde schon früher, dass die Ausrichtung an Jahrestagen auf einer beliebigen Zahlenmystik beruhe und die "Jubiläumsindustrie" nicht ein historisches Bewusstsein fördere, sondern, so der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer, "ein Gedenken ohne Gedächtnis".
Verengtes Geschichtsverständnis, beschränkter Erkenntnisgewinn
Problematisch ist zunächst, dass die derzeit groß zelebrierten runden Jubiläen ein verengtes Geschichtsverständnis fördern. Während sich die Geschichtsvermittlung an den Schulen und Universitäten mühsam vom Erlernen staatspolitischer Daten emanzipiert hat, verfestigt der Jahrestagsfetischismus diese erneut. Vor allem Kriege, Staatsgründungen oder Geburts- und Todestage großer Männer werden durch Jubiläen aufgewertet. Ähnlich wie im Schulunterricht der 1950er Jahre gleicht die Geschichte so einem mit heroischen und tragischen Ereignissen gespickten Zeitstrahl. Medial ist das gut vermittelbar, da hierzu personalisierte Bilder und dramatische Erzählungen überliefert sind. Geschichte lässt sich so ergreifend schildern, entlang Erfindungen genialer Männer, plötzlicher Kriegsausbrüche und opferreicher Friedensschlüsse. Problematisch ist, was ausgeblendet wird. Während sich die historische Forschung, der Schulunterricht und auch das familiäre Gedächtnis längst an Themen und Fragen der Sozial- und Kulturgeschichte orientiert, präsentieren Jahrestage oft ein antiquiertes Geschichtsbild. Der Alltag in Diktatur und Demokratie verschwindet ebenso wie Erklärungen für langfristige Veränderungen.
Zwar profitieren Historiker*innen und Museen von der medialen Aufmerksamkeit, aber sie verlieren ihre eigene gestaltende Kraft, historische Themen zu setzen. Der Jahrestagskalender erdrückt oft die kreative Behandlung innovativer und aktuell relevanter historischer Fragen. So zeigte das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin in den 2010er Jahren häufig Wechselausstellungen, die durch Jahrestage scheinbar unumgängliche Themen behandelten: Auf 200 Jahre Völkerschlacht (2013), 80 Jahre "1933" (2013) und 100 Jahre Erster Weltkrieg (2014) folgten 60 Jahre "1945" (2015) und 30 Jahre "Alltag Einheit" (2015), später dann eine Ausstellung aus Anlass von 100 Jahren Russische Revolution (2017). Unabhängig von der unterschiedlichen Qualität und Rezeption der Ausstellungen blieb die inhaltliche Ausstrahlungskraft und Akzentsetzung des Museums eher gering, wie auch Kritiker*innen vermerkten.
Ähnliches wird man für den Buchmarkt bei vielen Jahrestagen konstatieren können. Viele Verlage verpflichten renommierte Wissenschaftler*innen, zu Jubiläen Überblicksbücher zu verfassen, aber der Erkenntnisgewinn bleibt meist sehr begrenzt. So bescherten weder die Jubiläen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs noch zu dessen Ende Werke mit substanziell neuen Einsichten. Am stärksten gelang dies noch beim Jubiläum 100 Jahre Erster Weltkrieg, als die Debatten um die deutsche Kriegsschuld und die internationale Dimension des Krieges gewisse Akzente setzten.
Erweiterung und Diversifizierung
Durch die kanonischen Jahrestage kommen viele Fragen, die wir heute diskutieren, kaum in das öffentliche Geschichtsbewusstsein. Klima- und Umweltschutz, Migration oder Rassismus sind etwa bisher kaum mit Jahrestagen verbunden, obgleich die Bedeutung dieser Herausforderungen sicherlich nicht gering ist. Wir feiern christliche Gedenktage, aber für eine Auseinandersetzung mit dem Islam, der seit Jahrzehnten in Deutschland beheimatet ist, gibt es bislang keine runden Kalendertage, anhand derer die Geschichte des Islam verhandelt werden könnte. Auch die Genese wachsender sozialer Unterschiede oder die neuen Dynamiken der Globalisierung haben kein festes Startdatum und sind damit seltener Thema öffentlich geförderter historischer Bücher, Ausstellungen oder Festveranstaltungen.
Eine Möglichkeit zur Abhilfe wäre, den Kanon um Ereignisse zu erweitern, die in Vergessenheit geraten sind, aber aus heutiger Sicht wieder mehr Aufmerksamkeit verdienen. 2019 hatten etwa die erste Weltklimakonferenz und der erste große Störfall in einem Atomkraftwerk, dem Reaktor nahe Harrisburg, ihren 40. Jahrestag, was Anlass für entsprechende zeithistorische Reflexionen zur Umweltgeschichte gegeben hätte. Ebenso hätte sich die Iranische Revolution angeboten, um eine Auseinandersetzung mit dem politischen Islam einzuleiten. Derartige Perspektiven würden globale Ereignisse in ihren Bezügen zu Deutschland zum Thema machen.
Was sich bisher kaum über Jahrestage erschließt, ist der sich wandelnde Alltag der Menschen. Natürlich blitzt beim Erinnern an den 8. Mai 1945 oder den 9. November 1989 kurz auf, dass dies ein fundamentaler Einschnitt in die Lebenswelt vieler Menschen war. Das mittlerweile eingespielte Format der Jubiläumspublikation ist dabei eine vielstimmige Collage, die zeitgleiche Momentaufnahmen verbindet.
Auch die Geschichten von Frauen finden bei den etablierten Jahrestagen kaum eine Berücksichtigung. Die großen historischen Jubiläen der vergangenen Jahre streiften sie allenfalls. Beim Gedenken an 1945 wurde fast rituell an die Vergewaltigungen durch die Rote Armee und an die "Trümmerfrauen" erinnert, wenngleich letzteres im starken Maße ein in den 1980er Jahren etablierter Mythos ist, der nun wieder dekonstruiert wird.
Um eine Diversifizierung von Jahrestagen zu erreichen und andere Themen zu setzen, bieten sich zudem große Gesetzesreformen an, die Veränderungen bescherten oder einen vollzogenen Wandel kodifizierten; wie die Rentenreform 1957, die Entschärfung des §175 Strafgesetzbuch (StGB) zur Homosexualität 1969 oder die Reformversuche des §218 StGB zum Schwangerschaftsabbruch, die bald ihren 50. Geburtstag feiern. Diese Themen lassen sich freilich auch ganz ohne Jahrestage historisch betrachten, nämlich im Kontext aktueller Debatten über Altersarmut oder Diskriminierung. Politik, Museen, Medien, Verlage und auch die Wissenschaft würden davon profitieren, die ewig gleichen Themen etwas weniger aufwendig zu zelebrieren und dafür die Genese anderer gesellschaftlicher Fragen mit ihren runden Jahrestagen aufzuwerten.
Tragische und heroische nationale Erzählungen
Jahrestage bedienen vor allem die nationale Selbstverständigung. Staat und Politik nutzen sie, um Integration und Gemeinschaft zu fördern, Opfern zu gedenken oder mit Verweis auf die Geschichte die Werte der Gegenwart zu akzentuieren. Damit verengen sie die Geschichte oft auf heroische oder tragische Perspektiven. Die alte Bundesrepublik hat dabei lange auf heroische nationale Jubiläumsfeiern verzichtet. Die bundesdeutschen Nachkriegsregierungen legten vor allem religiöse Feiertage fest, um normativ einen vor allem katholisch geprägten Gedenkkanon zu fördern. Dieser wurde um zwei heroische Daten ergänzt – den 1. Mai als Zugeständnis an die Sozialdemokratie und den 17. Juni als Feiertag ab 1954, um mit Verweis auf den Aufstand in der DDR im Jahr zuvor den Antikommunismus als Integrationsformel hochzuhalten. Andere Staaten wetteiferten dagegen bei ihren Jubiläen um die Bedeutung ihrer Nation: So lud etwa der Schah von Persien 1971 die Welt zur gigantischen 2500-Jahresfeier der iranischen Monarchie ein, Österreich beging 1991 ein 1000-jähriges Landesjubiläum, und Frankreich zelebrierte 1996 die Feier der Taufe von König Chlodwig vor 1500 Jahren.
Die Bundesrepublik setzte angesichts der vielen Brüche in der deutschen Geschichte dagegen auf "Trauer- und Mahnjubiläen", um sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Seit den 1990er Jahren zeichnet sich eine stärkere Hinwendung zum Heroischen ab. Nun erhielten revolutionäre Umsturzversuche eine positive Aufwertung im Jahrestagskalender. Die Revolution 1848 wurde 1998 als Kampf für die Demokratie wiederentdeckt, die Öffnung der DDR-Grenze am 9. November als Kulminationspunkt der Friedlichen Revolution zelebriert und schließlich auch der Beginn der Weimarer Republik als erkämpfte Abschaffung der Monarchie und Durchbruch der Demokratie gefeiert.
Die Bedeutung und Legitimität dieser auf Tragik und heroischen Aufbruch zielenden Gedenktage steht außer Frage. Dennoch ist zu diskutieren, inwieweit Geschichte in diesen beiden Narrativen aufgehen kann und alles dazwischen ausblendet. So waren etwa die meisten Menschen in der DDR weder Held*innen noch Schurk*innen, sondern Mitläufer*innen, Uninteressierte oder punktuelle Helfer*innen. Ebenso gilt, dass viele historische Entwicklungen kaum durch nationale Erzählungen zu fassen sind, die für die bisherigen Jubiläen charakteristisch sind, trotz einer zunehmend internationalen Ausrichtung. Wer die Friedliche Revolution 1989 als Überwindung des Sozialismus und Kalten Krieges in Deutschland feiert, übergeht leicht die dafür grundlegenden Reformen bei den östlichen sozialistischen "Bruderstaaten", insbesondere in Polen. Jahrestage sehen nationale Entwicklungen als Maßstab an. Wer etwa 1918 oder 1945 aus deutscher Sicht als Beginn einer langen Friedenszeit zelebriert, überblendet, dass die Kämpfe nicht überall aufhörten. Entsprechend haben die besten Bücher zu Jahrestagen wie dem Ersten Weltkrieg eine internationale Perspektive gesucht.
Die Nation zu einen, ist eine mit Jahrestagen verbundene Hoffnung, die sich de facto selbst innerhalb von Deutschland nur begrenzt einlösen lässt. 2019 war etwa bemerkenswert, dass die Ost- und Westdeutschen ihre Geschichte eher getrennt begingen: 70 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz wurden im Westen gefeiert, 30 Jahre Mauerfall im Osten. Beide Daten markieren den Weg in die Demokratie und damit langfristig Erfolgsgeschichten. Es führt aber auch dazu, dass wir die DDR vor allem von ihrem Zusammenbruch her deuten. Durch den Blick von 1989 erscheint die DDR als ein von Greisen regierter, zusammenbrechender Staat, gegen den sich breiter Widerstand regte. Würde man die DDR von anderen Jahren aus betrachten, etwa von 1965 oder 1975, wäre die Deutung eine völlig andere. Hier würde das Bild eines starken Überwachungsstaates aufschimmern, der in der eigenen Bevölkerung und auch im Ausland nicht als fragiles Kuriosum erschien, sondern als stabiles Gebilde.
Natürlich können Jahrestage auch eine über sie hinausreichende Kraft entfalten, die neue Akzente setzt. Dem 30. Jahrestag des Mauerfalls 2019 sahen viele erst gelangweilt entgegen. Doch es entstand eine lebendige Debatte, die eine Verschiebung der Perspektive andeutet. Neben die Erinnerung an den "heroischen Protest" trat nun stärker eine Auseinandersetzung mit den Problemen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland in den 1990er Jahren.
Meißel statt Vorschlaghammer
Trotz neuer Konjunktur des Sturzes von Denkmälern
Nötig sind jedoch eine kreative Öffnung des verengten Kanons und ein Verzicht auf ihre kleinteilige, mitunter jährliche Wiederholung, um eine ermüdende Ritualisierung zu verhindern. Wünschenswert ist mehr Spielraum für brisante Themen, die keinen Jahrestag haben, aber eine historische Einordnung benötigen. Offensichtlich gibt es wie beim persönlichen Lebensrhythmus ein Bedürfnis, das Erinnern mit runden Jubiläen zu binden. Dieses Bedürfnis ist jedoch produktiv zu wenden, um nicht in Erstarrung zu verfallen und das Interesse an Geschichte einzuschläfern.