Am 9. November 2019 wurde in Deutschland des Falls der Berliner Mauer gedacht. Gefeiert wurde der 30. Jahrestag unter anderem in Berlin mit einem Mauerfall-Konzert, Lichtinstallationen, Virtual-Reality-Zeitreisen sowie diversen Festreden vor internationalem Publikum. Aus diesem Anlass sollte, wie es Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ausdrückte, an den "Glücksfall des letzten Jahrhunderts" und an die Leistungen der vergangenen drei Jahrzehnte erinnert werden, vor dessen Hintergrund man mit Zuversicht und Tatkraft nach vorne schauen könne.
Zwischen beiden Jubiläen, die vor dem Hintergrund des Anlasses in Ausrichtung und Gestaltung unterschiedlicher kaum hätten sein können, lagen nur rund elf Wochen. Beide machten auf die Grundlagen des gegenwärtigen deutschen Selbstverständnisses aufmerksam, zeigten unbändige Freude auf der einen und Trauer der Beteiligten auf der anderen Seite. Die Jubiläen verwiesen auf die internationalen Verflechtungen Deutschlands und der deutschen Geschichte und waren zugleich mediale Großveranstaltungen, die international für eine breite Aufmerksamkeit und diverse Kontroversen sorgten.
Für den Geschichtsunterricht und die Geschichtsdidaktik sind solche Jubiläen und Gedenktage, sofern sie nicht gleich zum Anlass für eine umfassende Kritik an der gegenwärtigen Geschichtskultur genommen werden, jedoch in gewisser Hinsicht Non-Events.
Perspektiven der Geschichtsdidaktik
Innerhalb der Fachwissenschaft und Fachdidaktik kursieren eine ganze Anzahl konkurrierender Begriffe wie die genannten "Jahrestage", "Gedenktage", "Jubiläen", aber beispielsweise auch "Erinnerungstage", die relativ unverbunden und ohne nähere Erklärungen auch Eingang in Lehrwerke für den Geschichtsunterricht gefunden haben.
"Jahrestage" umfassen in verschiedenen Fachdisziplinen sämtliche alljährlich wiederkehrende Feste. Unter diesem Oberbegriff lassen sich also verschiedene Formen subsummieren, beispielsweise auch Karneval oder Weihnachten.
Daszweite Distinktionsmerkmal bezieht sich auf die Form: Gedenktage und Jubiläen sind zunächst einmal als nicht gegenständlich zu begreifen. Zwar können sie eine Vielzahl weiterer geschichtskultureller Medien erzeugen, dennoch bestehen sie in erster Linie aus rituellen Akten und gesprochenen Worten.
Funktionen von Gedenktagen und Jubiläen
Bereits vor mehreren Jahren machte der Historiker Klaus Bergmann darauf aufmerksam, dass die Stiftung oder Stärkung von bestimmten Traditionen – in Polen feiert man beispielsweise alljährlich die Verfassung von 1791 und nicht die derzeit gültige von 1997 – und Identität, und zwar sowohl von einzelnen Menschen als auch von Gruppen, zu den zentralen Funktionen von Gedenktagen und Jubiläen gezählt werden kann.
Politische Funktion: Gedenktage und Jubiläen werden mitunter zum Anlass genommen, bestehende politische Ordnungen zu bestätigen und zu stabilisieren, was sich bereits an den Bezeichnungen wie dem "Tag Russlands" (12. Juni) oder dem "Tag der Deutschen Einheit" (3. Oktober) ablesen lässt. Gerade die Bezeichnung des deutschen Nationalfeiertages macht dabei deutlich, dass die herrschaftsstabilisierende Funktion zugleich mit einer Integrationsfunktion korrespondiert und die Menschen einer Nation auf ein gemeinsames Geschichtsbild eingeschworen werden können. Die krisenhaften Momente werden dagegen häufig ausgeblendet, wie die bereits erwähnte Rede vom "Glücksfall" des vergangenen Jahrhunderts deutlich macht.
Soziale Funktion: Die Integrationsfunktion von Gedenktagen und Jubiläen ist nicht nur für politische Systeme, sondern auch für eine Gesellschaft von Bedeutung. Mit dem Tag der Deutschen Einheit soll eben nicht nur die politische Einheit beider deutscher Teilstaaten gefeiert, sondern auch die Integration beider deutscher Teilgesellschaften gefördert werden.
Ökonomische Funktion: Schließlich erfüllen Gedenktage und Jubiläen auch eine materielle Funktion, die sich etwa in Förderprogrammen und Münzprägungen niederschlagen kann. Darüber hinaus können solche Anlässe auch genutzt werden, um mit umfangreichen Kampagnen das eigene Unternehmen oder die eigenen Produkte zu bewerben und zu vermarkten – wie das Mauerfalljubiläum eindrucksvoll vor Augen führte.
Potenziale für das historische Lernen
Wer die Frage beantworten möchte, ob Gedenktage und Jubiläen sich als Gegenstände historischen Lernens eignen, der muss sich zunächst einmal darüber Gedanken machen, was unter "historischem Lernen" verstanden werden kann. Nach der klassischen Definition des Historikers Jörn Rüsen bezeichnet historisches Lernen eine bestimmte Tätigkeit des Geschichtsbewusstseins, "wenn sie einen Zuwachs an Erfahrung der menschlichen Vergangenheit, an Kompetenz zur historischen Deutung dieser Erfahrung und an der Fähigkeit, historische Deutungen in den Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis einzufügen und wirksam werden zu lassen, erbringt."
Welchen Beitrag können nun Gedenktage und Jubiläen für das historische Lernen leisten? Grundsätzlich bieten diese Feiern einen Einblick in den deutenden, gesellschaftlichen Umgang mit der Zeit sowie in zeit- und sozialspezifische Praktiken dieses Umgangs, womit jedoch noch relativ wenig über die spezifischen Erkenntnispotenziale ausgesagt ist. Diese werden seit der PISA-Debatte und in Anlehnung an die Regularien der historischen Methode vor allem entlang von Kompetenzbereichen beschrieben und lassen sich mit Bezug auf Gedenktage und Jubiläen in vier Bereiche systematisieren.
Heuristik (Fragekompetenz): Historische Gedenktage und Jubiläen transportieren aufgrund ihrer Wiederholungsstruktur selbst ferne historische Ereignisse und Persönlichkeiten in die Gegenwart der Schülerinnen und Schüler.
Analyse (Methodenkompetenz): Historische Gedenktage und Jubiläen provozieren eine Vielzahl unterschiedlicher Medien, in denen sich verschiedene Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsvorstellungen manifestieren, die durch die jeweiligen Gegenwartserfahrungen beeinflusst werden können. Die mediale Komplexität kann indes auch dazu genutzt werden, im Unterricht den Umgang mit unterschiedlichen Quellengattungen anzubahnen oder zu vertiefen. Insofern liefern sie im umfassenden Sinne einen Beitrag zur Methodenkompetenz, wobei es um die Erschließung dieser unterschiedlichen Quellengattungen und Darstellungen und die Aufstellung von Sachanalysen geht.
Interpretation und Deutung (Interpretationskompetenz): Gedenktage und Jubiläen operieren häufig mit eindeutigen Geschichtsbildern und nehmen auf historische Ereignisse oder Personen schematisch, mitunter sogar verklärend Bezug. Im Sinne eines historischen Lernens geht es darum, solche Deutungsangebote zu interpretieren und Sachurteile herzuleiten.
Darstellung (Orientierungs- und Beurteilungskompetenz): Gedenktage und Jubiläen transportieren immer historische Werturteile. Insofern eignen sie sich hervorragend dazu, die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Werturteilen zu konfrontieren und die jeweils eigenen zu diskutieren.
Im Sinne eines historischen Lernens ließen sich solche Diskussionen schließlich wieder an die Ausgangsfrage, warum dieses Ereignis oder diese Person an diesem Datum gefeiert wurden, zurückbinden, und es kann über die Sinnhaftigkeit dieser geschichtskulturellen Manifestationen in der eigenen Lebenspraxis gesprochen werden.
Perspektiven für die Unterrichtspraxis
Gedenktage und Jubiläen sind für die Schülerinnen und Schüler ein Gegenstand historischen Lernens, der, sofern er in der Unterrichtspraxis systematisch berücksichtigt wird, zum Verständnis der gegenwärtigen Geschichtskultur beitragen kann. Hierzu bedarf es keiner "Feiertagsdidaktik", sehr wohl aber einer Didaktisierung dieser Feiertage.
Ausgangspunkt bildet dabei die auch in den Medien im Gedenkjahr 2020 vielfach diskutierte Frage, welche Bedeutung die Shoa in der Gegenwart und vor allem für nachfolgende Generationen einnimmt und einnehmen kann. Es geht insofern um unterschiedliche Deutungsangebote zum Zwecke der historischen Orientierung. In dieser Hinsicht boten die Reden der Präsidenten Deutschlands, Israels, Russlands und Frankreichs auf der zentralen Veranstaltung in Yad Vashem am 23. Januar 2020 einen reichhaltigen Fundus, der für Schülerinnen und Schüler eine Einsicht in Prinzipien wie Multiperspektivität und Kontroversität bieten kann. Gemeinsam war den vier Reden das Bekenntnis, dass die Geschichte des Holocaust nicht vergessen werden dürfe, damit sich dieser Zivilisationsbruch in Zukunft nicht wiederhole, sowie der Appell, auch in Zukunft gegen Antisemitismus und Rassismus zu kämpfen. Damit riefen sie vor dem Hintergrund dieses Gedenktages beziehungsweise Jubiläums zugleich zum Kampf für Menschenrechte und Menschenwürde auf und beschworen ihre Einigkeit. Die Trennlinien wurden indessen vor allem an den Stellen deutlich, in denen es um die Deutung dieses historischen Ereignisses ging. Während der israelische Präsident Reuven Rivlin an die Millionen jüdischen Opfer erinnerte und seinen Dank an die Alliierten für den Kampf gegen NS-Deutschland mit dem Hinweis verband, dass die Entscheidung für diesen Kampf spät gefallen sei, erinnerte der russische Präsident Vladimir Putin daran, dass die Sowjetunion nicht nur Auschwitz, sondern ganz Europa die Freiheit gebracht habe. In diesem Zusammenhang machte er auf Formen der Kollaboration, auf die "Helfershelfer" beim Holocaust in den von Deutschland besetzten europäischen Gebieten aufmerksam und deutlich, dass 40 Prozent der Opfer des Holocaust aus der Sowjetunion stammten und insgesamt 27 Millionen Bürger der Sowjetunion im Kampf gegen NS-Deutschland ums Leben gekommen seien. Demgegenüber erwähnte zwar auch der französische Präsident Emmanuel Macron die französische Verantwortung bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung, hob jedoch auch hervor, dass zahlreiche Juden in Frankreich versteckt und damit gerettet worden seien; die Erinnerung an diese Ereignisse verband Macron schließlich mit der Mahnung zu einer europäischen Einigkeit.
Die verschiedenen Reden machen deutlich, dass der jeweilige Blick auf die Vergangenheit nicht nur durch eine "nationale Brille" erfolgt, sondern auch von gegenwärtigen Erfahrungen und zukünftigen Erwartungen beeinflusst ist. Schülerinnen und Schüler könnten daher durch die Thematisierung solcher Gedenkanlässe einen Einblick in den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung sowie in die politischen und gesellschaftlichen Funktionen solcher Gedenkfeiern gewinnen. Was verrät uns beispielsweise das politische Bekenntnis zu internationaler Einheit und Verständigung über die gegenwärtige politische Situation, wenn gleichzeitig die jeweils eigenen nationalen Opfer und Leistungen betont und Trennlinien im Spiegel von Vergangenheitsdeutungen markiert werden? Aus welchen Gründen werden Rivlin, Macron und auch Steinmeier in ihren Reden nicht müde auf die Gefahr hinzuweisen, dass Antisemitismus und Rassismus eine Gesellschaft sowie die Demokratie in ihrer Substanz bedrohen? Wie könnte es also aus Sicht dieser Politiker um die adressierten Gesellschaften bestellt sein? Insgesamt geht es also bei der Behandlung von Gedenktagen und Jubiläen nicht nur um ein Verständnis dieser Feiern als solche, sondern auch um ein Verständnis der eigenen Gegenwart.