Als das EU-Parlament 2019 mehrheitlich dafür stimmte, 2021 letztmalig zweimal im Jahr eine Zeitumstellung vorzunehmen, war diese Debatte über die Sommerzeit eines der eher seltenen Beispiele dafür, dass "Zeit" als eine von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichem Konsens abhängige Kategorie erkennbar wird. Gemeinhin werden lebensweltliche Zeitkategorien eher als naturwüchsig wahrgenommen. Tatsächlich aber bewegen wir uns in exakt vermessenen Zeiträumen, in denen seit dem 19. Jahrhundert Standardzeiten eingeführt und mehrere Staaten zu Zeitzonen zusammengefasst wurden. Das innerhalb der Zeitzonen gültige Maß der Stunde hat dabei ebenso seine eigene Geschichte wie die heute gültige Jahreszählung "n. Chr." oder, in der säkularisierten Variante, "nach unserer Zeitrechnung". Und was die Tageszählung betrifft, dauerte es relativ lange, bis sich die uns geläufige digitale, in Ziffern ausgedrückte Datierung durchsetzte und damit in der Regel vom christlichen Jahres- und Heiligenkalender abgeleitete Orientierungstage ablöste.
Die moderne Datierung nach Jahr und Tag ist allerdings die Voraussetzung dafür, dass historische Erzählungen in Zahlen übersetzt werden können, mit denen Präzision und Faktizität gleichermaßen signalisiert werden, und die dann wiederum eine eigene Suggestionskraft entfalten, Narrative und Traditionen begründen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der 31. Oktober 1517, der Tag also, an dem Luther seine Thesen angeschlagen haben soll und der allgemein für den Beginn der Reformation steht. Zwischenzeitlich bestritten, wurde erst jüngst wieder versucht, den legendären Thesenanschlag erneut zu authentifizieren. Fakt bleibt allerdings, dass dieser in der protestantischen Erinnerungskultur des gesamten 16. Jahrhunderts keine Rolle spielte. Die Geburtsstunde des 31. Oktober als Reformationstag schlug erst 1617: Exakt 100 Jahre nach der Publikation der Thesen riefen die lutherischen und reformierten Landeskirchen in zahlreichen deutschen Territorien ein Reformationsjubiläum aus, dessen Beginn auf den 31. Oktober 1617 festgelegt wurde. Es wurde also ein Jahrestag ins Zentrum der Erinnerung gestellt und zugleich wurde dieser mit der Hervorhebung der 100. Wiederkehr des Beginns der Reformation jubiläumszyklisch getaktet. 1617 war solch ein Jubiläum als Kulminationspunkt einer anniversarisch unterfütterten Erinnerungskultur noch ein ziemliches Novum, das gleichzusetzen ist mit dem Durchbruch der modernen historischen Jubiläumskultur.
Entwicklungsphasen des historischen Jubiläums
Genese von Jubiläumszyklus und Jubiläumsintervall
Betrachtet man die Geschichte des Jubiläumszyklus, so ist zunächst die Tiefenschicht des Alten Testaments mit Levitikus 25, 8–55 und das auf sieben Sabbatzyklen, also nach 49 Jahren, folgende 50. Jahr aufzurufen. In diesem sollte veräußerter Grundbesitz an seine alten Eigner fallen, und wer sich als Knecht verkauft hatte, durfte frei zu den Seinen zurückkehren. Dieses Jubeljahr sollte den Israeliten bewusst machen, dass sie und ihr Eigentum letztlich Jahwe selbst gehörten. Im christlichen Mittelalter wurde diese Erlasspraxis des Alten Testaments spirituell umgedeutet zur Vergebung von Sünden beziehungsweise der Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft der Sünde. Die Praxis der Hervorhebung des 50. Jahres ging in der Wissenskultur des Mittelalters zwar nicht ganz verloren, allerdings dominierte eine Auffassung, die das Jubiläum aus chronologischen Zusammenhängen und vordefinierten Zeitrastern herauslöste: "Immer dann, wenn dem Gläubigen die Vergebung seiner Sünden zuteilwerde, sei für ihn ein Jubelfest." Worauf es bei der Entstehung der modernen Jubiläumskultur also zunächst ankam, war die bewusste Engführung der zeitlich frei flottierenden Ablasspraxis mit dem Zeitzyklus des 50. Jahres. Diese Koordination erfolgte im Jahr 1300 mit der Einführung des Heiligen Jahres durch Papst Bonifatius VIII.: An einem besonderen Ort, in Rom, wurde in jubiläumszyklischer Form zunächst alle 100, bald alle 50 und schließlich alle 25 Jahre ein Zeitabschnitt als Gnadenzeit für die Erteilung eines vollkommenen Ablasses hervorgehoben. Diese Taktung war die genuine Leistung des päpstlichen Heiligen Jahres, des bis heute im Italienischen so bezeichneten giubileo universale. Allerdings handelte es sich bei diesem vom Papsttum verwalteten frommen Ereignis um kein historisches Jubiläum, vielmehr haben wir es mit einem von geschichtlichen Ereignissen völlig unabhängigen Zeitraster zu tun, das seit 1475 an die Quartale eines Jahrhunderts gebunden war: 1475, 1500, 1525 … 2000.
Inkubationsphase des historischen Jubiläums
Worauf es im Hinblick auf die moderne Jubiläumskultur ankam, war also die Lösung des Zyklus von den Jahrhundertquartalen und die Verknüpfung mit historischen Ereignissen. Diese noch nicht systematisch erforschte Transformation des Jubiläums zum historischen Jubiläum lässt sich zeitlich im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert verorten, wobei zuletzt in kirchenreformerischen Kreisen des 15. Jahrhunderts begangene Personaljubiläen als Wurzel der modernen Jubiläumskultur hervorgehoben wurden. Diese personale Jubiläumskultur habe dann Impulse für die Universitäten gegeben, die in der Tat eine, wenn nicht gar die entscheidende Institution für die Entstehung des historischen Jubiläums waren. Für dessen Inkubationsphase dürfen wir freilich noch nicht von Jubiläumsfeierlichkeiten großen Stils ausgehen, aber es häufen sich doch die ein Jahrhundert- und Jubiläumsbewusstsein belegenden Artefakte, etwa ein auf den 100. Jahrestag der Universitätsgründung beziehungsweise -eröffnung verweisendes Schmuckblatt in der Erfurter Universitätsmatrikel 1492 oder ein 1520 gedrucktes Vorlesungsprogramm in Rostock, in dem das 100. Jahr explizit als Jubiläumsjahr ("anno centesimo jubilaeo") bezeichnet wurde. Für keines dieser Beispiele sind offizielle Jubiläumsfeiern nachweisbar, gleichwohl sind sie ein deutlicher Beleg dafür, dass im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit in den Universitäten die Idee reifte, den Jubiläumszyklus für die Strukturierung der Eigengeschichte zu nutzen.
Take-off und Etablierung
Wenn zuletzt von der Inkubationsphase des historischen Jubiläums gesprochen wurde, so deshalb, weil erst später öffentliche Inszenierungen mit der Mobilisierung weiter Teilnehmerkreise, Festreden, Festschriften und Dokumentationen hinzukamen. Vorreiter bei dieser Etablierung des modernen historischen Jubiläums waren ausgangs des 16. Jahrhunderts die protestantischen Universitäten, die sich dabei dezidiert vom Heiligen Jahr und dem Ablasswesen der katholischen Kirche abgrenzten und den Jubiläumszyklus konfessionell aufluden. Bei den frühen, durch Festakte belegbaren Universitätsjubiläen in Tübingen, Heidelberg, Wittenberg und Leipzig, wo 1578, 1587, 1602 und 1609 der 100. beziehungsweise der 200. Wiederkehr der Universitätseröffnung gedacht wurde, polemisierten die protestantischen Theologen in ihren Festpredigten und -reden nämlich einerseits scharf gegen das "papistische Jubeljahr" als Entstellung der alttestamentlichen Tradition. Andererseits wurde die eigengeschichtliche Nutzung des Jubiläumszyklus durch die protestantischen Universitäten als eine im Geiste christlicher Erneuerung vollzogene Jubelfeier deklariert. Diese Aneignungsstrategie war die entscheidende Weichenstellung dafür, dass die protestantischen Landeskirchen 1617 mit dem ersten Reformationsjubiläum die stabilisierende und identitätsstiftende Kraft historischer Erinnerungsfeiern für sich nutzten. Dieses wesentlich von Sachsen angestoßene und auf eine reichsweite Öffentlichkeit abzielende jubiläumszyklische Reformationsgedenken blieb dann wiederum für die katholische Erinnerungskultur nicht folgenlos. Die katholische Partei polemisierte zunächst zwar gegen die evangelischen "Pseudojubiläen" und beharrte damit auf der exklusiven Verbindung von Jubiläumszyklus und Heiligem Jahr. Diese Haltung wurde allerdings bereits nach wenigen Jahrzehnten von der Doppelstrategie überwunden, einerseits am Heiligen Jahr festzuhalten, andererseits den Jubiläumszyklus auch für die Eigengeschichte katholischer Institutionen einzusetzen. Voran ging hier der Jesuitenorden, der 1639/40 den 100. Jahrestag seiner Bestätigung durch den Papst feierte. Nachdem die Speerspitze der katholischen Reform das Eis gebrochen hatte, zogen auch die Klöster, Bistümer und nicht zuletzt die Universitäten der Germania sacra mit eigenen Jubiläumsfeiern nach.
Pluralisierung und Affirmation
Dieser Take-off der historischen Jubiläumskultur war zunächst zwar vor allem von den Universitäten und den Kirchen geprägt, aber schon seit dem 17. Jahrhundert kündigte sich eine Pluralisierung der Inszenierungshoheit an. Das wohl früheste Beispiel hierfür ist das an den 200. Jahrestag der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern erinnernde Leipziger Buchdruckerjubiläum von 1640, mit dem erstmals eine bürgerliche Berufsgruppe ein historisches Jubiläum veranstaltete. Eine wichtige Rolle bei der bürgerlichen Aneignung spielten ferner die Stadtjubiläen, deren Anfänge im ausgehenden 17. Jahrhundert liegen; im erzgebirgischen Annaberg wurde bereits 1697 der Stadtgründung gedacht. Die große Zeit der bürgerlichen Jubiläumsinszenierungen wurde gleichwohl erst das 19. Jahrhundert, als Dienst-, Amts- oder Firmenjubiläen zu Taktgebern der privaten und öffentlichen Festkultur wurden.
Dieser Jubiläumsboom ist zum einen vor dem Hintergrund einer deutlichen Intensivierung von Zeiterfahrung und -wahrnehmung zu sehen. Feste Dienstzeiten, die sich bei Beamten bis heute im Jubiläumsdienstalter niederschlagen, der Ausbau der öffentlichen Verwaltung mit der präzisen Dokumentation von Geburts- und Sterbetag, von Schuleintritt und Eheschließung – dies alles präzisierte die Lebenszeit in einem bislang nicht gekannten Ausmaß und arbeitete einem an messbaren Zeitintervallen orientierten Geschichtsdenken zu. Zum anderen ist der Jubiläumsboom des 19. Jahrhunderts aber auch auf die gewaltigen politischen Umbrüche der sogenannten Sattelzeit um 1800 zurückzuführen. Die Französische Revolution und das Ende des Alten Reiches wurden vielfach als massiver Traditionsverlust empfunden, und nicht zuletzt durch den jubiläumszyklischen Rekurs auf die Vergangenheit sollte jene Treue zu den Institutionen wiederhergestellt werden, deren Auflösung Aufklärung und Revolution angelastet wurde.
Vor diesem Hintergrund setzte sich der zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Säkularisation und das Ende der Reichskirche zunächst in die Defensive gedrängte Katholizismus über Bistumsjubiläen oder die Entdeckung von Winfried Bonifatius als Apostel der Deutschen wirkungsvoll in Szene. Parallel dazu erreichte im Protestantismus die Memoria Lutheri eine neue Dimension, etwa durch die Musealisierung Wittenbergs und durch unzählige Denkmalsetzungen mit dem 1868 enthüllten Wormser Lutherdenkmal als Kulminationspunkt. Zu den Kirchen gesellte sich im 19. Jahrhundert schließlich noch die Traditionsmacht der Monarchie, die den institutionellen Mechanismus des historischen Jubiläums für sich entdeckte. Nachdem sie mit der Französischen Revolution zur Disposition gestellt worden war, hatte sie nun aufs Neue ihre Legitimität und Funktionalität unter Beweis zu stellen. Zugleich mussten nach dem Ende des Alten Reiches innerhalb neu formierter Staatsgebiete verschiedene regionale und konfessionelle Kulturen integriert werden. Vor diesem Hintergrund veranstalteten die deutschen Fürstenhäuser immer häufiger historische Jubiläumsfeiern, um in der Bevölkerung monarchisches Bewusstsein und Landesidentität gleichermaßen zu verankern: Regierungs- und Ehejubiläen von Monarchen sind hier ebenso zu nennen wie die großen, 1880 beziehungsweise 1889 von den Häusern Wittelsbach und Wettin in Bayern und Sachsen veranstalteten Dynastiejubiläen. Diese monarchische Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts war in Deutschland einerseits einzelstaatlich-föderativ. Gleichzeitig gab es aber auch eine auf den Prozess der Nationsbildung verweisende Jubiläumskultur, die sich in erster Linie mit den Symbolfiguren der Kulturnation, ihren Erfindern, Malern, Dichtern und Denkern verband – Johannes Gutenberg, Albrecht Dürer, bald dann auch Goethe und Schiller; die 1859 deutschlandweit stattfindenden Feiern zu Schillers 100. Geburtstag waren eine der größten Jubiläumsveranstaltungen des 19. Jahrhunderts.
Erweiterungen: Jubiläumszyklisches Mahnen und Gedenken
Wenn die Leistungen und Verdienste der Dynastien und der "großen Söhne" des Vaterlandes jubiläumszyklisch inszeniert wurden, so verweist das auf die grundsätzlich affirmative Qualität der Jubiläumskultur des 19. Jahrhunderts. Zugleich hatte diese exkludierenden Charakter, indem sie Feindbilder generierte. Bestes Beispiel hierfür sind die Erinnerungsfeiern an die Leipziger Völkerschlacht von 1813 im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als unter anderem 1913 im Rahmen der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals sowohl das nationale Gemeinschaftsbewusstsein durch einen zahlreiche deutsche Erinnerungsorte streifenden Sternlauf der deutschen Turnerschaft verstärkt als auch die "Erbfeindschaft" gegenüber Frankreich reaktualisiert wurde. Mit Blick auf diese Überhitzung der Erinnerungsgemeinschaft wurde von einer nachgerade kriegstreibenden Rolle historischer Jubiläen gesprochen. Der Erste Weltkrieg als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" leitete aber auch eine Transformation der Erinnerungskultur ein, indem die "Sites of Mourning" in den Vordergrund gerückt wurden. Diese Entwicklung setzte sich dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust fort. Das historische Jubiläum konnte nicht mehr in der gewohnten Weise inszeniert werden. Nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch ging es vielmehr um die Betonung des Neuanfangs, der mit der Formel von der "Stunde Null" auf den Punkt gebracht wurde. Dem auf ein Kontinuum des Erinnerns angewiesenen historischen Jubiläum schien damit die Basis entzogen. Freilich: Die Vergangenheit ließ sich nicht abschalten, und der institutionelle Mechanismus des historischen Jubiläums wurde auch in der Nachkriegszeit unvermindert ausgelöst. Allerdings wurde dabei nun gerade der Bruch mit alten Geschichtsbildern zum Thema – in der Absicht, neue Identität zu stiften und neue Kontinuitäten zu erschließen. Im Zuge dieser Neukartierung der deutschen Geschichte sah man 1948 beispielsweise den in der Vergangenheit negativ konnotierten und unter den Vorzeichen übersteigerter Frankophobie erinnerten Westfälischen Frieden von 1648 in neuem Lichte als positives Ergebnis einer internationalen Konfliktbewältigungsstrategie. Vor allem aber bot sich 1948 in beiden sich formierenden deutschen Teilstaaten die bislang nicht als jubiläumswürdig empfundene 1848er Revolution für die Elaborierung neuer, demokratischer Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte an. Nicht zu Unrecht wird dieses Jubiläum als der "Beginn deutsch-deutscher Geschichtspolitik" apostrophiert – einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte", die aufgrund der politischen Konkurrenzsituation zur Entwicklung erinnerungspolitischer Differenzkriterien nötigte. Exemplifizieren lässt sich dies unter anderem an einem Anniversarium, dem 8. Mai, der in der DDR bereits frühzeitig als Tag der Befreiung galt und bis 1967 gesetzlicher Feiertag war. Nicht zuletzt deshalb war seine Aneignung als Gedenktag in der alten Bundesrepublik schwierig: Im pluralistischen Kampf um das Gedächtnis wurde er eben auch als Tag der militärischen Niederlage, als der Beginn der Fragmentierung Deutschlands in Besatzungszonen und der deutschen Teilung, als die Geburtsstunde des Ost-West-Konflikts und als Auslöser für Flucht und Vertreibung bei Kriegsende gesehen. Erst die berühmte, Anniversarium und Jubiläum verschränkende Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes brachte eine klare Deutung als Tag der Befreiung.
Karriere einer Zeitkonstruktion
So sehr das jubiläumszyklische Mahnen und Gedenken für das historische Jubiläum nach 1945 eine bedeutende Erweiterung seines Anwendungsbereiches brachte, so wird dieses im privaten und öffentlichen Raum nach wie vor hauptsächlich als positiv konnotierte Jubelfeier begangen, ist Anlass für Lob, Ehrung und Traditionsstolz. Und im Zusammenspiel sowohl der kritischen als auch der affirmativen Varianten des Erinnerns sind historische Jubiläen die Schwungräder für so gut wie alle Inszenierungsformen von Geschichte im öffentlichen Raum: Öffentlicher Festakt, historischer Festzug, Reenactment, Festschrift und wissenschaftliche Tagung, Ausstellungen und Museumsprojekte, Fernsehserien und Spielfilme, Restaurierung von Artefakten und Denkmalschutz, Denkmalsetzung, Gedenkstättenpolitik – kurzum: jede Variante von Geschichte in der Öffentlichkeit wird im Zeittakt der Jubiläen inszeniert und mit Bedeutung aufgeladen.
Die Gründe für diese Karriere wurden teilweise bereits angedeutet. Zunächst einmal hatte bereits das Heilige Jahr vorexerziert, dass sich in Verbindung mit bestimmten Vergünstigungen – im Falle des giubileo war das der Sündennachlass, im profanen Sinne wurden es später Ehrungen und Gratifikationen – durch die periodische Auszeichnung eines Zeitraums und eines Orts große Teilnehmerkreise mobilisieren lassen. Dieser auffallende Mobilisierungseffekt und damit verbundene gemeinschafts- und identitätsstiftende Erwartungen gaben dann den Impuls für die eigengeschichtliche Nutzung des Jubiläumszyklus durch Institutionen und Personen. Dazu kam im 19. Jahrhundert eine durchgreifende Regulierung des privaten und öffentlichen Lebens durch die Zeitmessung. Auch das dürfte ein Grund für den durchschlagenden Erfolg des an der Jubiläumszahl orientierten Benchmarking im historischen Wettbewerb sein, zumal es sich bei dieser Fixierung auf Zahlen und der Skalierung der Geschichte um universale Praxen handelt. Dies hat wiederum zur Folge, dass sich Jubiläumsanlässe im synchronen wie im diachronen Sinne fast schon beliebig vermehren lassen. Letztlich sind so gut wie alle Segmente des privaten und öffentlichen Lebens jubiläumstauglich, und Jubiläen werden schon längst nicht mehr nur im Rhythmus der sozusagen klassischen Jubiläumszahlen 25, 50 oder 100 begangen. Bereits im 19. Jahrhundert sind Zehnerschritte üblich geworden. Neben 40- oder 70-Jahrfeiern – man denke an das 70-jährige Jubiläum der Berliner Luftbrücke 2019 – führt das angestrengte Bemühen um Traditionsbildung aber auch zu willkürlichen Jubiläumseinheiten. Die Recherche bei Youtube führt jedenfalls rasch zu Drei- oder Siebenjahresfeiern, die als Jubiläen ausgewiesen werden.
Man könnte an dieser Stelle auch von Zahlenfetischismus sprechen, hinter dem sich letztendlich ein Geschichtsverständnis verbirgt, wie man es mit einem überholten, auf das Pauken von Jahreszahlen fixierten Geschichtsunterricht verbindet: "Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffren, deren lebendige Bedeutung niemand mehr kennt und die man mit Schulstolz nachplappert". Aber es gilt eben auch, dass Jubiläen "medientaugliche" Zäsuren kreieren und dort, wo die Fachwissenschaft von historischem Wandel, Sattelzeiten, Kontingenz und Transformationsprozessen spricht, mit dem scharfen Cut und der Fokussierung auf symbolträchtige Figuren und Ereignisse öffentliches Interesse an Geschichte wecken. Dass diese Methode der Kontingenzbewältigung durch Komplexitätsreduzierung durchaus von Erfolg gekrönt ist, das zeigen in jüngerer Zeit die Publikationen von Florian Illies und Frank Bösch, die die bis dato noch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Jahre 1913 und 1979 als Zäsuren extrapolierten, die im einen Fall dem sich zum 100. Mal jährenden Ersten Weltkrieg, im anderen der Unübersichtlichkeit der Welt von heute vorausgingen. Wenn Böschs "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann" entlang einer ganzen Reihe von 40. Jahrestagen – der Bogen wird von der Iranischen Revolution über den ökonomischen Kurswechsel in China, von der Wahl Maggie Thatchers und dem Siegeszug des Neoliberalismus über die Polenreise Papst Johannes Pauls II. geschlagen – ein jubiläumyzyklisches Narrativ entwickelt, so wird man konzedieren, dass das Jahr 1979 tatsächlich mit gravierenden Umbrüchen enggeführt werden kann. Gleichzeitig könnte man aber auch einwenden, dass letztlich jedem sich rundenden Jahr besondere Bedeutung zugeschrieben werden kann, wenn man denn nur die in dieses Jahr fallenden Ereignisse durch systematisches Googlen bündelt und in ein Narrativ – "was ich unbedingt noch erzählen wollte" – einbettet. Auch das bislang unscheinbare Jahr 1913 lässt sich dann im Vorfeld des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs als "Vorkrieg" mit einem Surplus an Bedeutung aufladen. Letztlich aber erklärt die Tatsache, dass ein Ereignis 100 oder 40 Jahre, nicht aber 101 oder 39 Jahre zurückliegt, für sich genommen nichts, sondern verdeckt nur die Tatsache, dass es sich beim Jubiläumszyklus um ein willkürlich gesetztes Datennetz handelt; wäre Böschs Buch 2018 erschienen und wäre das Referenzjahr 1978 gewesen, wäre eben nicht die Polenreise, sondern die Wahl Karol Wojtylas zum Papst das Referenzereignis gewesen.
Kritik und analytisches Potenzial
Hier setzt dann auch die Kritik an der "Jubiläumitis" an – ein Begriff, der, über eine ironische Distanzierung vom Jubiläumsbetrieb hinausgehend, eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des historischen Jubiläums und einer von Kalender und Zahlenfetischismus geprägten Geschichtskultur anstoßen will. Hinter dieser Skepsis gegenüber dem Hype von Jubiläumsjahren, dem ja in der Regel kühles Desinteresse an den eben noch inszenierten Personen und Ereignissen folgt, steht vor allem die keineswegs unberechtigte Befürchtung, dass es letztlich die Jubiläumsarithmetik ist, die die Themen vorgibt, und dass die Eventisierung der Geschichte mithin zur Bedrohung für das Königsrecht einer jeden Wissenschaft, das Agenda Setting, werden kann. Dazu kommen die Erwartungshaltungen der sich selbst inszenierenden Institutionen und Personen, die in der Regel nach wie vor eher auf Affirmation gestimmt sind. Das jubiläumszyklische Mahnen und Gedenken war jedenfalls lange Zeit der staatlichen Gedenk- und Identitätspolitik vorbehalten, Unternehmen und Institutionen wie Universitäten taten sich hingegen – oder tun sich immer noch – schwer, sich in der Jubiläumssituation auch den Schattenseiten ihrer Vergangenheit zu stellen. Wenn davon als Resümee abgeleitet wird, "anniversary moments do not seem to be the best time für scholarly innovation", spätestens dann sollte die kritische Reflexion über den automatisierten Jubiläumsmechanismus einsetzen.
Dass historische Jubiläen Forschungsimpulse geben können, ist von jeher nur einer ihrer Effekte, das ist sozusagen der fachwissenschaftliche Beifang der in eine Vielzahl von Veranstaltungs- und Erinnerungsformaten aufgefächerten historischen Jubiläumskultur. Grundsätzlich sollte man sich dabei im Klaren sein, dass Jubiläen nur bedingt darüber informieren, "wie es einmal gewesen ist". Vor allem machen Jubiläumssituationen wie unter einem Brennglas die Zurichtung der Vergangenheit auf die Gegenwart sichtbar. Diesem Zeitkern, den zeittypischen Motiven und Bewusstseinslagen beim Zugriff auf die Geschichte, gilt das eigentliche kulturwissenschaftliche Interesse, wobei zwei Jubiläumsvarianten aus analytischer Perspektive besonders aufschlussreich sind.
Zum einen sind das vom Scheitern bedrohte oder gescheiterte Jubiläen, da sie Krisensymptome deutlicher als im historischen Alltag hervortreten lassen. Das war beispielsweise beim 40. Jahrestag der DDR im Wendejahr 1989 der Fall, das für die SED nachgerade zur "Jubiläumsfalle" wurde: Die Bürgerbewegung nutzte die Jubiläumsfeiern als Bühne, die Staatsführung konnte hingegen um des Jubiläumserfolgs und ihres außenpolitischen Ansehens willen nicht mit jener Härte zurückschlagen, die sie unter sozusagen normalen Umständen gerne angewendet hätte.
Zum anderen verdienen jene historischen Jubiläen besonderes Interesse, an denen sich in der longue durée der Wandel von Geschichtsbildern und die Umwertung historischer Ereignisse erkennen lassen. Neben den angesprochenen Beispielen nach dem Zweiten Weltkrieg, dem 1948 begangenen Jubiläum der 1848er Revolution und des Westfälischen Friedens von 1648, liefern hier gerade auch die zentralen Jubiläen der zurückliegenden Jahre reiches Anschauungsmaterial. 2014 und 2018 stand beispielsweise bei der Erinnerung an den 100. Jahrestag von Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr die frühere Historikergenerationen beschäftigende und in der Fischer-Kontroverse verdichtete Kriegsschuldfrage im Zentrum der Diskussion, sondern das eher auf nicht intentionale Faktoren im multilateralen Beziehungsgeflecht abhebende Schlafwandler-Narrativ bestimmte die Debatte. Das 500. Reformationsjubiläum 2017 wiederum wollte sich bewusst von früheren Säkularfeiern – 1617, 1717, 1817, 1917 – abheben, deren "konfessionalistische und nationalistische Akzente" sollten dezidiert durch ein "integratives, ökumenisches, religionstolerantes, multikulturelles (…) ‚Jubiläum für alle‘" abgelöst werden. Beredter Ausdruck dieser Absicht war es, dass Papst Franziskus im Vorjahr des eigentlichen Jubiläums, 2016, gemeinsam mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Munib Younan in die Arena von Malmö einzog, unterlegt von der aus anderen Zusammenhängen bekannten und nun als Soundtrack der Ökumene apostrophierten Hymne "You’ll Never Walk Alone". Dass dann 2017 der in früheren Reformationsjubiläen monumentalisierte Luther als Playmobil-Figur aus Plastik Karriere machte, gab Anlass zu der Anmerkung, dass der "berserkische Gottesbarbar" und "Querdenker" Luther in diesem entkonfessionalisierten Klima "entsorgt" worden und die Evangelische Kirche endgültig in der Pop- und Eventkultur angekommen sei. Gerade die seit 1617 regelmäßig geknüpfte Erinnerungskette der Reformationsjubiläen verweist somit auf die Geschichtlichkeit und Selbstreferenzialität von Jubiläen. Hierbei liegt nicht nur die Eigengeschichte von Organisationen und Personen im Fokus, sondern mit dem Blick auf frühere Jubiläen wird die Inszenierungs- und Deutungsgeschichte selbst zum Thema gemacht, um vergangene Erfahrungen mit Interpretationen der Gegenwart und Erwartungen für die Zukunft in Beziehung zu setzen – in aller Regel mit der Überzeugung, dass das Jubiläum kein Verfallsdatum ist, sondern ein mit Hoffnungen und Wünschen besetzter Merkposten.