Jahrestage seien wie "Flächenbombardements", schrieb der Politologe Ivan Krastev in dieser Zeitschrift anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen Revolution. Ihnen entkommen weder die Geschichtswissenschaften noch die historisch-politische Bildung. In diesem Jahr haben wir mit Themenheften bereits der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und des Kriegsendes sowie der Entstehung der Vereinten Nationen vor 75 Jahren gedacht und, etwas vorzeitig, den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit begangen. Wir nutzen auch weniger etablierte Jahrestage, zuletzt 5 Jahre "Wir schaffen das" oder im vergangenen Jahr 70 Jahre Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht". Bei zwei Anlässen haben wir aus politisch-bildnerischen Überlegungen heraus das Jahr vor dem Jahr besprochen ("Vorkrieg 1913", "1967").
Kritik an der "Jubiläumitis" (Marko Demantowsky), an "Zeitgeschichte als Jubiläumsreigen" (Martin Sabrow) wird immer wieder geäußert. Ein Ausstieg aus dem Jahrestagskarussell scheint aber nur schwer möglich und ist, je nach Anlass, auch nicht wünschenswert. Denn Jahrestage versprechen planbare Öffentlichkeit für historisches Wissen und bieten, insbesondere als institutionalisierte Gedenktage, Staat und Gesellschaft Gelegenheit, innezuhalten. Ob damit stets historischer Erkenntnisgewinn und eine gründliche Selbstbefragung einhergehen, mag hingegen bezweifelt werden.
Um die unerwünschten Folgen einer "Jahrestagisierung" abzumildern, gilt es, Routinen bis hin zur Erstarrung beim Begehen der immergleichen Gedenktage und Jubiläen vorzubeugen. So wird etwa vorgeschlagen, den Kanon der Jahrestage zu erweitern, um marginalisierter Geschichte Raum zu geben. Dass das auch jenseits von einzelnen Tagen möglich ist, zeigen etwa der Black History Month oder der Queer History Month, die in einigen Städten stattfinden. Schließlich lässt sich zu jeder Zeit, an jedem Tag, in jedem Monat oder Jahr, fragen, für welche aktuellen Debatten und Probleme sich ein vertiefter Blick in die Geschichte lohnen könnte.