Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Revolutionäre Subjekte bei Frantz Fanon | 1968 | bpb.de

1968 Editorial Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig - Essay Mythos 1968 Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen 1968 als transnationales Ereignis Revolutionäre Subjekte bei Frantz Fanon Die Arbeiter und "1968" in West- und Südeuropa Die 68er-Proteste in der DDR

Revolutionäre Subjekte bei Frantz Fanon

Sabine Kebir

/ 15 Minuten zu lesen

Zur Begründung des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik diente der RAF das Buch "Die verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon. Dabei handelte es sich um eine falsche Universalisierung seiner Thesen.

Einleitung

Frantz Fanons Buch "Die Verdammten dieser Erde" beeinflusste verschiedene Vorstellungen der 68er-Bewegung vom 'revolutionären Subjekt!. Der 1925 auf Martinique geborene Autor hatte auf neuartige Weise - nämlich soziologisch und psychologisch - ein kollektives 'revolutionäres Subjekt' beschrieben: die antikolonialen Befreiungsbewegungen, die in den 1950er und 1960er Jahren wesentliche welthistorische Veränderungen bewirkten. Fanon war schon tot, als sein 'Gewaltkonzept' auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den westlichen Ländern übertragen wurde.

Er hatte die Dekolonisation als "Zusammentreffen zweier von Geburt an antagonistischer Kräfte" geschildert. Sie sei daher "immer ein Phänomen der Gewalt. Wo man auch hinsieht: persönliche Begegnungen, Neubenennungen von Sportclubs, Zusammensetzung der Cocktail-Parties, der Polizei, der Aufsichtsräte staatlicher oder privater Banken - die Dekolonisation ersetzt ganz einfach eine bestimmte 'Art' von Menschen. Ohne Übergang findet ein totaler und vollständiger Austausch statt." Ziel sind vollkommen neue Institutionen: "...das Auftauchen einer neuen Nation, die Errichtung eines neuen Staates, seine diplomatischen Beziehungen, seine politische und wirtschaftliche Orientierung".

Im ersten Kapitel "Von der Gewalt" analysiert Fanon die verschiedenen Gewaltarten, die zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten eine Rolle spielten. Es geht nicht nur um die Bedrohung physischer Körper, sondern auch um strukturelle Gewalt: alle Formen von Rechtlosigkeit, die eine systematische Benachteiligung in Bezug auf Ernährung, Wohnung, Gesundheit, Ausbildung und politische Teilhabe nach sich ziehen. Fanon behauptet, dass die physische Gewalt, welche die Kolonisierten zum Einsatz bringen, eine historisch notwendige Gegengewalt darstellt. Sie richtet sich gegen physische und strukturelle Gewalt, welche die Kolonialmacht permanent gegen die Kolonisierten einsetzt.

Demokratisch konnte sich dieser institutionelle Wandel und der Austausch der politischen Klasse nicht vollziehen, weil das Hauptkennzeichen des Kolonialismus gerade darin bestand, die Kolonisierten gar nicht oder nicht gleichberechtigt in die demokratischen Systeme der so genannten Mutterländer einzubeziehen. Wichtig ist festzuhalten, dass Fanon seine Theorien nicht in Bezug auf seine Heimat, die französische Antilleninsel Martinique, entwickelte, sondern auf Algerien, der bürgerrechtlich erheblich stärker benachteiligten Kolonie in Nordafrika. Die Bürgerrechte der schwarzen Antillianer waren schon 1794 durch den Haitianischen Sklavenaufstand erkämpft worden. Ihre kolonialistische Benachteiligung drückte sich nur als subtiler Druck der Großgrundbesitzer aus, der verhinderte, dass die schwarzen Kleinpächter bis ins 20. Jahrhundert hinein keine eigenen politischen Interessenvertreter wählten. Fanon, der im Zweiten Weltkrieg bei den Streitkräften des freien Frankreich unter General Charles de Gaulle kämpfte, erkannte erst in den Soldatenlagern, dass schwerer Rassismus auch in Frankreich noch existierte und in der Armee sogar institutionell verankert war.

Nachdem er in Lyon Psychiatrie studiert hatte, wurde Fanon 1953 Direktor einer großen Nervenklinik in Blida bei Algier. Als 1954 der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, musste er die psychischen Schädigungen von Folteropfern und auch von einigen Folterern behandeln. So erkannte er schnell die Unhaltbarkeit der kolonialen Situation. Mit einem Teil seines Ärzteteams trat er in Kontakt mit dem Maquis. Es kam zu Verhaftungen, einer seiner Doktoranden starb unter der Folter. Begleitet von einigen Kollegen verließ er 1955 seinen Posten und ging nach Tunis, dem Sitz der algerischen Exilregierung. Dort baute er psychiatrische Strukturen für traumatisierte Flüchtlinge auf, arbeitete aber auch für die Presse der Exilregierung und fungierte als ihr Sprecher und Diplomat in schwarzafrikanischen Ländern. Zwei 1959 von französischen Geheimdiensten in Marokko und Rom organisierten Attentaten entging er knapp. An Leukämie erkrankt, diktierte er 1960 seiner französischen Frau Josie den Text von "Die Verdammten dieser Erde". Fanon starb 1961 in einem Krankenhaus in Maryland/USA.

Das Werk stellt nicht nur ein Manifest des algerischen Unabhängigkeitskampfes dar, sondern vor allem sein psychologisch-soziologisches Resumée. Obwohl auch viele Muslime am Krieg gegen den Faschismus teilgenommen hatten, mündete eine Demonstration für die versprochene Legalisierung der nationalistischen Parteien am 8. Mai 1945 in ein Polizeimassaker, in dessen Folge innerhalb einer Woche 40 000 Algerier umkamen. Die politischen Parteien blieben verboten. Eingeführt wurde nur ein Zweikammerwahlrecht, das die Muslime weiterhin stark benachteiligte. Zugang zur Schule und damit zur Verwaltung und den qualifizierten Berufen blieb den großen Mehrheiten bis zur Unabhängigkeit verwehrt. Diese Situation führte dazu, dass die Revolution schließlich "alle Mittel, die Gewalt natürlich eingeschlossen, in die Waagschale" warf.

Die physische Gewalt, die die Kolonisierten zur Anwendung brachten, definierte Fanon als reaktive Gewalt, als Antwort auf eine vorher gegen sie ausgeübte, teils strukturelle, zum großen Teil aber auch direkte Gewalt. Die koloniale Welt sei eine zweigeteilte, in der es "Eingeborenenstädte und Europäerstädte" gäbe, "Schulen für Eingeborene und Schulen für Europäer. (...) Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm oder der Soldat." Es existiert keine demokratische Kultur, in die der Kolonisierte einbezogen ist, der "Kontakt" zu ihm wird mit "Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben" hergestellt. Der Kolonialismus in Algerien benutzt eine "Sprache der reinen Gewalt". Er "erleichtert nicht die Unterdrückung und verschleiert nicht die Herrschaft. Er stellt sie zur Schau, er manifestiert sie mit dem guten Gewissen der Ordnungskräfte." Diese vielschichtige koloniale Gewalt ist es, die "die Gewalt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten" trägt.

Der Algerier weiß, dass er nicht das wilde Tier ist, auf den ihn Haltung und Diskurs des Kolonialismus reduziert. "Und genau zu derselben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen." Neben dem Soziologen kommt der Psychiater Fanon zum Zuge, der auch die psychosomatische Ebene beschreibt, auf der die Gewaltbereitschaft des Kolonisierten entsteht: Der koloniale Landraub zerstört den sozialen Raum. Das löste in den kolonisierten Individuen ein andauerndes Gefühl von Scham aus. Wenn von den höheren Werten der europäischen Kultur gesprochen wird, erfasst sie "eine Art Anspannung, ein Starrkrampf der Muskeln". Es kann geschehen, "dass der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht (...). Die Gewalt, mit der sich die Überlegenheit der weißen Werte behauptet hat (...) führt durch eine legitime Umkehr der Dinge dazu, dass der Kolonisierte grinst, wenn man diese Werte vor ihm heraufbeschwört." In dieser Situation "wirkt die Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Haltungen."

Weil der "Eingeborene" nicht Herr seines Raums und seiner Bewegungen ist, sondern dort zu sein hat, wo ihn der Kolonialherr haben will, "sind seine Träume Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume. Ich träumte, dass ich springe, dass ich schwimme, dass ich renne, dass ich klettere. Ich träume, dass ich vor Lachen berste, dass ich den Fluß überspringe, dass ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen. Während der Kolonisation hört der Kolonisierte nicht auf, sich zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh zu befreien." Aber diese "in seinen Muskeln sitzende Aggressivität wird der Kolonisierte zunächst gegen seinesgleichen richten". Die immer wieder erwähnte "Muskelspannung des Kolonisierten" löse sich "periodisch in blutigen Explosionen" wie Stammesfehden oder Schlägereien zwischen Einzelnen. Das "affektive Vermögen" des Kolonisierten konzentriert sich "auf der Oberfläche der Haut; sie ist empfindlich wie eine offene Wunde gegen ätzende Stoffe. Und die psychische Disposition schrumpft ein, verkrampft und entlädt sich in muskulären Reaktionen, die manchen Wissenschaftler auf die Idee gebracht haben, der Kolonisierte sei ein Hysteriker. Sein Affekt, der sich gleichsam in einem Zustand dauernder Erektion befindet und zugleich von einem inneren Zensor am Ausbruch gehindert wird, reagiert sich in motorischen Entladungen ab und findet in der Krise eine erotische Befriedigung."

In dieser Inkubationszeit nehmen Okkultismus und Magie zu. Es kann zu ekstatischen Tänzen kommen, die an Besessenheit grenzen. "Der Kolonisierte entspannt sich in diesen Muskelorgien, die seine schärfste Aggressivität und seine unmittelbarste Gewalttätigkeit kanalisieren, verwandeln und ableiten. Im Kreis des Tanzes ist alles erlaubt. Er beschützt und ermächtigt. Zu festgesetzten Stunden, an festgesetzten Daten finden sich Männer und Frauen an einem gegebenen Ort zusammen und werfen sich unter dem strengen Auge des Stammes in eine scheinbar ungeordnete, in Wirklichkeit aber streng geregelte Pantomime, wo sich auf vielfache Weise - Neigungen des Kopfes, Krümmen der Wirbelsäule, Zurückwerfen des ganzen Körpers - handgreiflich die grandiose Anstrengung eines Kollektivs äußert, sich durch Exorzismen zu befreien und auszudrücken. (...) Alles ist erlaubt, denn man versammelt sich nur, um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde, all das muß herauskommen. Die bösen Säfte ergießen sich, donnernd wie Lavamassen."

Wie sich das Wirken der "bösen Säfte" schließlich anarchisch in Richtung der Kolonialmacht bewegt, zeigt Fanon durch erschreckende Gewaltberichte im Anhang des Buchs: "Zwei algerische Jungen von 13 und 14 Jahren ermorden ihren europäischen Spielkameraden", ohne mit ihm Streit gehabt zu haben. Als einzige Begründung geben sie an, dass auch die Franzosen Algerier ohne Begründung töten würden. Eigentlich hätten sie vorgehabt, im Maquis zu kämpfen. Da sie dafür aber noch zu klein seien, hätten sie sich zur Tötung des Spielkameraden entschlossen. "Aber warum gerade ihn?" - "Weil er mit uns spielte. Ein anderer wäre nicht mit uns dort 'raufgegangen."

Da es keine legalen Möglichkeiten gibt, die Ungerechtigkeit des Systems zu beseitigen, dauert es lange, bis sich - notgedrungen im Untergrund - eine organisatorische Kraft formiert, die diese anarchischen Energien in politische Bahnen lenkt. Die Masse der Kolonisierten - analphabetische Bauern - misstrauen den wenigen Intellektuellen und den Gewerkschaften, die nur wenige einheimische Arbeiter repräsentieren. Sie misstrauen sogar den verbotenen nationalistischen Parteien, die ihnen auch als Agenten des Kolonialherren vorkommen. Um den Kolonialismus herauszufordern, musste ganz außerhalb seines Systems eine neue Organisation wachsen: die Front de Liberation Nationale. Deren politische Anerkennung war nur erreichbar durch jahrelange Aktionen eines bewaffneten Arms, der Armée de Liberation Nationale. Diese hat keine Möglichkeit zu modernen militärischen Operationen und bedient sich hauptsächlich der Waffe des Terrors.

Fanons Buch weist Parallelen zu den Algerien-Passagen von Jean-Paul Sartres "Kritik der dialektischen Vernunft" auf, die er begeistert rezipiert hatte. Auch Sartre sprach von einem unüberwindlichen Antagonismus in der kolonialen Situation. Man habe die Institutionen der Muslime zerstört, "ohne ihnen zu ermöglichen, sich der unseren zu 'erfreuen'", d.h. ohne sie zum gleichberechtigten Teil der demokratischen Gesellschaft zu machen. Durch die Enteignung des Landes zugunsten europäischer Einwanderer sei die muslimische Gesellschaft "atomisiert" und "clochardisiert", was sie zur Reservearmee billigster Arbeitskräfte mache. Im Unterschied zum ausgebeuteten Europäer empfinde der Kolonisierte diese unfreiwillige Lebensweise nicht als Entfremdung, sondern als nackten Zwang, weshalb die ständige Präsenz der Armee erforderlich sei. So ist der Kolonialismus "in sich selbst eine Gewalt, die sich selbst rechtfertigt, eine Gewalt, die sich als eingeführte Gewalt, Gegen-Gewalt und legitime Verteidigung ausgibt". Der einzige Ausweg sei: "der totalen Negation die totale Negation entgegenzustellen, der Gewalt eine gleiche Gewalt; die Zerstreuung und Atomisierung durch eine zunächst negative Einheit negieren, deren Inhalt sich im Kampf bestimmen wird: die algerische Nation. (...) Die Gewalt des Aufständischen ist die Gewalt des Kolonialherren; es hat niemals eine andere gegeben."

1957 war Sartre Zeuge der Verteidigung für den algerischen Attentäter Ben Saddok, der einen Vizepräsidenten der algerischen Kammer ermordet hatte. Er erklärte, dass es sich nicht um Terrorismus, sondern um politischen Mord handele. Morde dieser Art würden für die Zeit der Résistence als heroisch angesehen. Sartre und Simone de Beauvoir nahmen an Demonstrationen und riskanten Aktionen teil, was mehrere Attentate der französischen Untergrundbewegung Organisation armée secrète (OAS) auf Sartre zur Folge hatte. Die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift "Les temps modernes" hatte - im Gegensatz zur KPF - den Befreiungskrieg der Algerier von Anfang unterstützt und viele Sachdossiers z.B. über massenhafte Folterungen, standrechtliche Erschießungen, Frauenvergewaltigung, Zwangsumsiedlungen usw. publiziert. Die Zeitschrift engagierte sich gegen die Hinrichtung von Terroristinnen wie Djamila Bouhired und Djamila Boupacha. Auch hatte sie bereits Beiträge Fanons gebracht. Sartre sah Frankreich, das sich immer tiefer in den Algerienkonflikt hineinmanövrierte, in einem Prozess der Neurotisierung und Faschisierung.

Über seinen Verleger Maspero hatte Fanon Sartre gebeten, das Vorwort zu "Die Verdammten dieser Erde" zu schreiben. Beauvoir berichtete, dass sie das Buch als "extremes Manifest der Dritten Welt" angesehen hätten, "wie aus einem Guß, flammend, aber auch vielschichtig und differenzierend". Als sich Sartre, Beauvoir und Fanon im Sommer 1961 in Rom trafen, befand sich der Schwerkranke in fiebriger Erregung. Der "Partisan der Gewalt" wirkte äußerst empfindsam, sobald es um konkrete Gewaltakte ging: "Seine Züge veränderten sich, wenn er über die Verstümmelungen sprach, die die Belgier den Kongolesen zufügten, die Portugiesen den Angolanern - durchstochene Lippen, durch die ein Schloß gezogen wurde, Gesichter, deren Nasen mit einem Palmmesser abgeschlagen worden waren." Er zeigte denselben Abscheu, wenn er "über die schwere 'Gegengewalt' der Schwarzen sprach und über die Racheakte, die die algerische Revolution mit sich gebracht hatte." Auch betonte er: "Auf keinen Fall möchte ich ein Berufsrevolutionär sein." Fanon hat nie Zweifel an der Priorität des Politischen vor der Gewalt gelassen.

Bei Beauvoir finden sich Hinweise, inwieweit Fanon selbst am Terror beteiligt gewesen war. Als leitender Arzt in Blida hatte er dem Maquis Medikamente geschickt und Sanitäter ausgebildet, Partisanen beherbergt und Psychotraining angeboten. Mit Einverständnis der Verantwortlichen schulte er das Konzentrationsvermögen von Kämpfern "für den Moment, in dem sie eine Bombe legen oder eine Granate zu werfen hatten". Er brachte ihnen auch bei, "welche psychologische und physische Haltung ihnen helfen konnte, möglichst gut die Folterungen zu überstehen". In den "Verdammten dieser Erde" fehlt es jedoch nicht an Hinweisen, dass die Psyche der Unabhängigkeitskämpfer, insbesondere wenn sie terroristische Gewalt gegen Zivilisten verübten, von Zweifel, Reue und schweren Störungen befallen wurde. Auch der nachdrückliche Verweis auf die von den Gewaltexzessen gleichermaßen bei Kolonisierten und Kolonisatoren ausgelöste Psychopathologie zeigt, dass Fanon keineswegs die Gewalt als universelles Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Widersprüche ansah.

Alice Cherki, Psychiaterin und Psychotherapeutin, gehörte zu der Gruppe, die 1954 mit Fanon nach Tunis ging. In ihrer Fanon-Biographie belegt sie die differenzierende Haltung Fanons zur Gewalt. Um Gewalt zu verhindern, habe er sogar die ärztliche Schweigepflicht gebrochen. In Blida hatte ihm eine französische Patientin anvertraut, dass ihr Mann vorhatte, gewaltsame Straßenunruhen bei einem bevorstehenden Besuch des Regierungschefs Guy Mollet zu inszenieren, die der FLN in die Schuhe geschoben werden sollten. Fanon gab sein Wissen über einen Mittelsmann sowohl den staatlichen Stellen als auch dem Ehemann der Patientin preis. Die Aktion unterblieb.

Um ein schnelles Ende des Konflikts herbeizuführen, war er 1956 an einer Planung beteiligt, wonach die auf einer Mole vor Algier gelegene Admiralität besetzt werden sollte, um die Europäerstadt zu bombardieren. Das sollte während einer UNO-Sitzung geschehen, um die internationale Aufmerksamkeit auf Algerien zu lenken. Dieses Vorhaben war unrealisierbar, und Fanon nahm ferner nicht mehr an militärischen Planspielen teil.

Als Sprecher der Exilregierung kommentierte er die militärischen Aktionen anders als im internen Kreis. Auf die Frage von französischen Sympathisanten, weshalb durch den Terrorismus der FLN auch Zivilisten zu Schaden kämen, argumentierte er: Der Kolonialismus werde nicht nur von bestimmten Individuen repräsentiert, sondern stelle ein System dar, das ohne gewaltsame Unterdrückung bis hin zur präventiven Folter ebenfalls Unschuldiger nicht existieren könne. Als "Ausdruck eines ganzen Volkes" bezeichnete er verschleierte Algerierinnen, die unter ihren Kleidern Bomben transportierten, modern gekleideten jungen Mädchen, die in Bars und Cafés verheerende Explosionen auslösten. Im engeren Kreis - so Cherki - habe Fanon jedoch gefordert, das Vorgehen der Stadtguerilla immer wieder kritisch zu hinterfragen.

Fanons Äußerungen zur Gewalt in der kolonialen Situation befindet sich auf der scheinbar paradoxen Linie, auf der Kant über das Recht auf Notwehr und Widerstand als unauflösbaren, in der Praxis aber vorkommenden Widerspruch für den Fall reflektierte, wenn eine despotisch handelnde Regierung die Souveränität des Volkes missachtet. Obwohl in solchen äußersten Fällen "Gewalt gerade auch aus Vernunftgründen nicht verboten werden" könne, erhalten Notwehr und Widerstand bei Kant einen Ort zugewiesen, "der auf keinem Koordinatensystem der Vernunft oder des Verstandes bestimmt werden kann". Da es nach Kant jedoch keine Not geben kann, die Unrecht - z.B. Schaden für Unschuldige - rechtfertigt, gibt es für ihn keine positivrechtliche Fixierung solcher Gewalt. Ein solcher, als objektiver Rechtsverstoss erkennbarer Gewaltakt kann bei Kant zu subjektiver Straflosigkeit führen, "die zugleich das Verhältnis zwischen rechtlich-moralischer Schuld und der Unzulänglichkeit staatlicher Strafverfolgungsbehörden bezeichnet: Also ist die Tat der gewalttätigen Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (inpunibile) zu beurteilen.'" Im Kant'schen Sinne kann über Gewalt keine normative oder generalisierende Aussage gemacht werden: "Jede Rechtfertigung einer bestimmten Gewalthandlung würde zu einer Typisierung und Standardisierung führen, die die Ausnahmeentscheidung der Gewalt zur Normalität hin entgrenzte."

Hegel, der den Begriff des "Widerstandsrechts" im Sinne der feudalen Kämpfe gegen die Französische Revolution eher kritisch nutzte, erweiterte jedoch das "Notrecht" Kants in seiner sozialen Dimension: Da es in der Moderne nichts mehr gibt, was keinen Besitzer hat und demzufolge sich der Arme keinen verwertbaren Teil der Natur mehr zu Nutze machen kann, ergibt sich nach Hegel für die von der Teilhabe Ausgeschlossenen unter Umständen ein Notrecht. Wie Kant sieht auch er die revolutionäre Gewalt außerhalb der Rechtsnorm stehen. Lieber sähe Hegel die Teilhabe aller an den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft über Steuern und Gesetze geregelt.

Weil die Algerier von der demokratischen und sozialen Teilhabe ausgeschlossen gewesen waren, erscheint es im Sinne Kants und Hegels logisch, dass die ,revolutionären Subjekte` des algerischen Unabhängigkeitskampfes nach der Gründung ihres eigenen Staates in Frankreich keine strafrechtlichen Verfolgungen zu fürchten hatten. Jedoch können die auch nach damaligen französischen Recht illegalen Folterungen von Seiten der Kolonialbehörden das Notrecht Kants und Hegels nicht in Anspruch nehmen. Deshalb wird von Zeit zu Zeit der Ruf nach ihrer strafrechtlichen Aufarbeitung laut.

Bei den Teilen der Achtundsechziger-Bewegung, die zu den Waffen griffen, verschmolzen Elemente von Fanons Analysen mit der Focus-Theorie Che Guevaras, wonach mehrere 'Vietnams' auf der Welt entstehen sollten, auch in demokratischen Ländern des Westens. Es kam dabei zu einer Verallgemeinerung von Fanons Analysen, die zu einer mechanischen Übertragung seiner Äußerungen zur Gewalt auf ein enthistorisiertes 'revolutionäres Subjekt' führte. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe bezogen sich am 13. Januar 1976 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim in ihrer zweitägigen "Erklärung zur Sache" dreimal auf Fanon. Dessen Behauptung, "dass man mit nur Wut, Haß, spontaner Bewegung nicht in einem nationalen Krieg siegen, die furchtbare Kriegsmaschine des Feindes in die Flucht schlagen kann`", habe sich auch im Westen bestätigt, und zwar "in der wesentlichen Erfahrung der Studentenbewegung: dass Spontaneität, Revolte integrierbar ist, wenn sie sich nicht bewaffnet".

Fanon hatte jedoch niemals behauptet, dass Kampfformen der antikolonialen Revolution auf den Westen übertragbar seien. Dies schien aber Sartres Vorwort zu "Die Verdammten dieser Erde" zu suggerieren. Während er es schrieb, drohten Gewalt und Gegengewalt des Algerienkrieges auf Frankreich mit voller Wucht überzuspringen. Unklar war noch, ob es der starken öffentlichen Gegenbewegung, in der Sartre selbst eine wesentliche Rolle spielte, gelingen würde, die Gefahr eines Rechtsputsches abzuwenden.

Die Enthistorisierung von Fanons und Sartres Analyse der 'revolutionären Subjekte' der antikolonialen Revolution führte bei der RAF zu seiner Universalisierung. Iring Fetscher sah hierin auch das Wiederaufleben einer speziell in Deutschland aus der Romantik überkommenen Tradition des individuellen Terrors.

Besser begriffen die politisch agierenden Teile der Achtundsechziger, dass die Aufgaben und Methoden 'revolutionärer Subjekte' in den antikolonialen Befreiungsbewegungen einerseits und in den gesellschaftlichen Bewegungen im Westen andererseits nicht dieselbe sein durften. Als Rudi Dutschke 1966 Fanons Werk im SDS referierte, wollte er die Solidarität zwischen westlichen Metropolen und "Dritter Welt" stärken. Seine 'revolutionäre' Strategie suchte einen - freilich sehr schmalen Grat - auf dem im Westen sowohl legale wie auch illegale Aktionen stattfinden sollten, aber kein Terror gegen Menschen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1966 (Französisch 1961).

  2. Ebd., S. 27.

  3. Zeitgenössischer Ausdruck für Guerilla.

  4. Vgl. Alice Cherki, Frantz Fanon. Ein Portrait, Hamburg 2001, S. 185.

  5. Vgl. David Macay, Frantz Fanon. A Biography, New York 2001.

  6. Im Zweikammerwahlrecht wog eine europäische Stimme soviel wie acht muslimische. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in jede Schulklasse zehn Prozent Muslime aufgenommen. Der Proporz zwischen europäischer und muslimischer Bevölkerung war aber genau umgekehrt.

  7. F. Fanon (Anm. 1), S. 28.

  8. Ebd., S. 29.

  9. Ebd., S. 33f.

  10. Ebd., S. 72.

  11. Ebd., S. 40.

  12. Ebd., S. 41.

  13. Ebd., S. 44.

  14. Ebd., S. 207.

  15. Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek 1980, S. 760.

  16. Ebd., S. 762.

  17. Ebd., S. 775.

  18. Vgl. Ronald Haymann, Jean-Paul Sartre: Leben und Werk, München 1988, S. 488.

  19. Es handelt sich um Vorabdrucke einiger Teile von "L'an V de la Révolution Algérienne", Paris 1959.

  20. Unter der "sengenden Sonne der Folter (...) gibt es kein Lachen, das nicht falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken müßte, um die Wut oder die Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren Ekel oder unsere Komplizenschaft verriete. (...) Frankreich war einst der Name eines Landes. Passen wir auf, dass es nicht der Name einer Neurose wird." Jean-Paul Sartre, Vorwort zu F. Fanon (Anm. 1), S. 24f.

  21. Simone de Beauvoir, La force des choses, Paris 1963, S. 620.

  22. Ebd., S. 622.

  23. Ebd., S. 620.

  24. Vgl. Alice Cherki, Frantz Fanon. Ein Porträt, Hamburg 2001, S. 130.

  25. Vgl. ebd., S. 330.

  26. Vgl. ebd., S. 160. Zur Einbeziehung der Frauen in den Unabhängigkeitskampf vgl. Frantz Fanon, Algerien legt den Schleier ab, in: Aspekte der algerischen Revolution, Frankfurt/M. 1969.

  27. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992, S. 113.

  28. Ebd., S. 109.

  29. Ebd., S. 114.

  30. Vgl. Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Moderne, Frankfurt/M. 2000, S. 119, 207 - 209, 398.

  31. Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, bearbeitet von Martin Hoffmann, Berlin 1997, S. 238.

  32. Vgl. Iring Fetscher, Die sechs politischen Trugschlüsse des Terrorismus, in: ders., Utopien, Illusionen, Hoffnungen, Stuttgart 1990, S. 230.

  33. Dokumentation FU, Nr. 15/73, Berlin, Freie Universität 1948 - 1973. Hochschule im Umbruch, Teil IV, 1964 - 1967, ausgewählt und dokumentiert von Siegward Lönnendonker/Tilman Fichter/Claus Rietschel, S. 71.

  34. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: ders./Jan Philipp Reemtsma, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2003.

Dr. phil. habil., geb. 1949; Privatdozentin an der Johann- Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M.; freie Publizistin, Wicelstraße 30, 10551 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: S.kebir@web.de
Internet: Externer Link: www.Sabine-Kebir.de