Einleitung
Das magische Jahr "1968" gilt gemeinhin als globales Ereignis, als "Mythos, Chiffre und Zäsur" auch auf internationaler Ebene.
Dabei variiert die kollektive Erinnerung an dieses Jahrzehnt auf nationaler Ebene erheblich. Was heute im deutschsprachigen Raum unter der Chiffre "1968" zusammengefasst wird, vereinigt in internationaler Perspektive die unterschiedlichsten politischen und sozialen Transformationsprozesse von den 1950er bis 1970er Jahren. Denn die internen Umwälzungen erschütterten nicht nur die westliche, kapitalistische Welt, sondern auch die Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Dritte Welt in Lateinamerika, Afrika und Asien.
Historische Rahmenbedingungen
Nach Eric Hobsbawm war "1968" bereits das erste Anzeichen dafür, dass das "goldene Zeitalter" von anhaltendem wirtschaftlichen Boom, Modernisierung und innerer Stabilität zu seinem Ende kam.
Flankiert wurden diese Prozesse durch einen allgemeinen Anstieg internationaler Austauschprogramme und verstärkte kulturdiplomatische Anstrengungen beider Supermächte im Kampf um die internationale öffentliche Meinung im Kalten Krieg, oftmals mit besonderem Augenmerk auf jugendliche Zielgruppen. Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologie, insbesondere des Fernsehens und internationaler Satellitenkommunikation, internationalisierte diese Diskurse auch auf medialer Ebene. Der durch den Siegeszug des Fernsehens ausgelöste Strukturwandel in der öffentlichen Kommunikation und der Bedeutungsgewinn visueller Repräsentationen ist daher eine weitere, entscheidende Rahmenbedingung für die synchrone Erfahrung der globalen, oft äußerst medial wirksamen Protestinszenierungen um 1968.
Transnationale Protestkulturen vor "1968"
Diejenige Bewegung, die die politische Ausrichtung der Aktivisten um 1968 am entscheidendsten prägen sollte, war die sich Anfang des Jahrzehnts formierende Neue Linke. Ihre Wurzeln reichen bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre, als sie unter dem Eindruck des Ungarn-Aufstandes und der Suez-Krise von 1956 im Umfeld von E. P. Thompson, Stuart Hall und Ralph Miliband als britische New Left entstand und danach ihren Weg über den amerikanischen Soziologen C. Wright Mills und andere in die USA fand. Mills' "Letter to the New Left" (1960) und das "Port Huron Statement" (1962) des amerikanischen SDS (Students for a Democratic Society) können als nationale Ausprägungen dieser bereits transnational etablierten Bewegung gelten, deren Ableger ebenso in Frankreich, Belgien und den Niederlanden agierten. Vertretern dieser Neuen Linken war nicht nur die Absage an den traditionellen Marxismus und dessen Fokus auf die Arbeiterklasse gemeinsam, sondern auch eine fundamentale Unzufriedenheit mit dem Kalten Krieg, seiner Abschreckungspolitik der potentiellen nuklearen Vernichtung und der Ideologie des Antikommunismus. Sie beklagten auch die ihrer Ansicht nach herrschende politische Apathie, den Materialismus und das kapitalistische Konkurrenzdenken in ihren jeweiligen Gesellschaften. Als Neue Linke, New Left oder Nouvelle Gauche bildeten sie ihre eigenen Gruppen innerhalb internationaler sozialistischer Organisationen wie der International Union of Socialist Youth (IUSY) oder fanden sich in transnationalen, personalen Netzwerken zusammen. Nicht zuletzt Herbert Wehner selbst begründete den Bruch der SPD mit dem deutschen SDS mit einem Vorgehen gegen die Neue Linke als solche, deren Ziel er auch in anderen westeuropäischen Ländern darin sah, die Sozialdemokratie zu zerstören.
Diese stark studentisch geprägte Neue Linke bewegte sich im Gefolge einer Vielzahl anderer subkultureller Strömungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Hier ist zum einen das Beat-Movement zu nennen, eine Gruppe von amerikanischen Schriftstellern, die Non-Konformismus, Spontaneität und offene Emotionen zelebrierten und deren Werke wie z.B. Allen Ginsbergs Howl (1956) oder Jack Kerouacs On the Road (1957) paradigmatisch für die jugendliche Frustration mit Konformität und Konsumgesellschaft der 1950er Jahre stehen. Auch Phänomene wie die "Halbstarken" oder die britischen "Teddy Boys" sowie Ikonen oppositioneller Jugendkultur wie James Dean oder Marlon Brando verkörperten die Sehnsucht nach individueller spiritueller Erfüllung, die auch die späten 1960er Jahre kennzeichnete.
Von ebensolcher Bedeutung für die Gegenkultur der späten 1960er Jahre war die Künstlergruppe Situationistische Internationale (SI). Gegründet 1957 in Italien unter der Ägide des Franzosen Guy Debord und dem Dänen Asger Jorn führte die Gruppe Künstler aus zehn Ländern zusammen, die maßgeblich vom Existentialismus Sartres und Camus' sowie vom Dadaismus, Surrealismus und den Lettristen beeinflusst waren. Ihr Ziel war die Etablierung einer umfassenden Kritik der modernen Gesellschaft, die über den Marxismus hinausging und alle Lebensbereiche umfassen sollte. Die Routine und rituelle Ordnung sozialer Beziehungen sollte durch die Herstellung von "Situationen" gestört werden, in denen gängige Alltagshandlungen ihrer traditionellen Bedeutung enthoben und in einen neuen Zusammenhang gestellt wurden, um neue Erfahrungshorizonte zu erschließen. Diese Umdeutung (detournement) ging einher mit aktionistischen Techniken für politische oder künstlerische Ziele und sollte der Erzeugung eines kritischen Bewusstseins dienen.
Auch die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung spielte eine entscheidende Rolle im Politisierungsprozess westlicher Aktivisten. Ob Rosa Parks, Martin Luther King Jr. oder Freedom Rides - der moralische Anspruch der Proteste und ihre Demonstrationsformen der "direkten Aktion" (z.B. sit-ins) fügten dem Bild des "freien Westens" erhebliche Risse zu. Zugleich brachten sie die Frage nach der sozialen und legalen Gleichstellung ethnischer Minderheiten in die öffentliche Diskussion, insbesondere in Ländern wie Großbritannien und Frankreich. Mit der wachsenden Anziehungskraft von Malcolm X und dem Entstehen der Black-Power-Bewegung stellten radikalere Fraktionen der Bürgerrechtsbewegung dann ab Mitte der 1960er Jahre vermehrt die Grundpfeiler des kapitalistischen Gesellschaftssystems selbst in Frage. Die damit einhergehende Militanz fand ihre Entsprechung in der verstärkten Hinwendung zu den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und den Spätfolgen europäischer Kolonialpolitik.
Diese wurden bereits im Laufe der 1950er Jahre im Zuge der weltweiten Dekolonisation deutlich. Anfang des Jahrzehnts avancierten so neben Kuba auch Staaten in Afrika wie beispielsweise Algerien zum Schauplatz nationalrevolutionärer Vorgänge.
Transnationale Kooperation und Solidarität um "1968"
Trotz aller transnationalen Wurzeln ist das Phänomen "1968" jedoch in seiner Dynamik und seinen verschiedenen globalen Erscheinungsformen nur vor dem Hintergrund lokaler Faktoren vollständig zu verstehen. Sei es die Bedeutung der faschistischen Vergangenheit in Italien und Deutschland, der Vietnamkrieg in den USA, der Konflikt zwischen flämischer und französischer Bevölkerung in Belgien, die so genannten "68er-Bewegungen" wurden durch die verschiedensten Faktoren mobilisiert und verfolgten weltweit eine Fülle von Zielen, die bei weitem nicht immer deckungsgleich waren. In den osteuropäischen Staaten beispielsweise blieben die Nischen für Systemkritik verständlicherweise begrenzt, obwohl sich auch hier fundamentale Wandlungsprozesse vollzogen. Dies zeigte sich nicht nur an der Reformbewegung des Prager Frühlings, sondern auch an den Studentenunruhen in Polen im März 1968 oder an den inneren Spannungen in Jugoslawien, die sich bis weit in die 1970er Jahre zogen. Gleichermaßen schufen sich auch Jugendliche und Studenten in den Diktaturen Spaniens oder Griechenlands eigene Freiräume, um ihren Protest hörbar zu machen.
Auf der politischen Ebene waren gegenseitige Wahrnehmung und internationale Kooperation ebenso stark ausgeprägt, nicht zuletzt durch das Betreiben intellektueller Mentoren wie Herbert Marcuse.
Derartige Bestrebungen und Imaginationen trafen jedoch in der Realität oftmals auf erhebliche Widerstände. Bei einer von der "International Confederation for Disarmament and Peace" (ICDP) und dem deutschen SDS organisierten Konferenz in Ljubljana im August 1968 konnten sich beispielsweise Delegierte aus Frankreich, Finnland, Spanien, Kanada, den USA, der Schweiz und der Bundesrepublik trotz intensiver Diskussionen nicht auf eine gemeinsame politische Agenda einigen. Auseinanderklaffende ideologische Perspektiven und Strategien im Hinblick auf Militanz, das Verhältnis zur Arbeiterklasse, Solidarität mit der Dritten Welt sowie unterschiedliche nationale Bedingungen machten dies schlicht unmöglich. Auch bei der "International Assembly of Revolutionary Student Movements" an der Columbia Universität in New York im September 1968 wich der anfängliche Optimismus im Hinblick auf internationale Zusammenarbeit ebenfalls sehr schnell heftigen ideologischen Grabenkämpfen.
Die zum Teil fatale Wirkmächtigkeit internationaler Verortungen und Solidaritätsdiskurse Ende der 1960er Jahre zeigt sich jedoch nicht nur in der Geschichte des Terrorismus im darauf folgenden Jahrzehnt.
Schlussbemerkungen
Als Rudi Dutschke im Interview mit Günter Gaus im Dezember 1967 proklamierte, die Studentenbewegung könne "eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat", lagen die Mai-Unruhen in Frankreich, die Niederschlagung des Prager Frühlings oder das Massaker von Tlatelolco kurz vor Eröffnung der Olympischen Spielen in Mexiko noch in weiter Ferne. Doch die von Dutschke implizierte transnationale Dimension der weltweiten Protestbewegungen speiste sich bereits durch eine kollektive Protestidentität, die sowohl kulturell als auch politisch gemeinsame Referenzpunkte aufweisen konnte und durch einen globalen Mediendiskurs verstärkt wurde. Aktivisten nahmen seit Mitte der 1960er Jahre zum Teil gestaltend an ausländischen Protestereignissen teil, pflegten transnationale Kontakte und brachten ihre Erfahrungen durch Import und Rekontextualisierung neuer Protestformen, -inhalte und -taktiken in ihren nationalen Kontext ein.
Die rebellierenden Gegeneliten der 1960er Jahre stellten den geopolitischen Realitäten des Kalten Krieges somit eine eigene, transnationale Schicksals- und Wertegemeinschaft gegenüber, die eine wichtige Rolle als Wegbereiter soziokultureller Veränderungen in ihren eigenen Ländern spielen sollte. Denn es waren zumeist die Jahre und Jahrzehnte nach 1968, in denen die durch die Protestbewegungen popularisierte, alltagskulturelle Liberalisierung in vielen Ländern eine breite gesellschaftliche Basis erreichte und Neudefinitionen von Öffentlichkeit, demokratischer Partizipation und individuellen Freiheitsrechten nach sich zog. Und obwohl sich unmittelbare gesellschaftliche Reaktion, Langzeitwirkung und kollektive Erinnerung geographisch teils erheblich unterscheiden, waren die Protestbewegungen um "1968" Teil einer fundamentalen Zäsur in der Geschichte des Kalten Krieges.
Auch wenn es keiner dieser Bewegungen letztlich gelang, die etablierten Ordnungen vollständig zu überwinden, trugen sie doch mit ihrem utopischen Selbstverständnis und globalem Anspruch zur Überwindung einer bipolaren Weltsicht und zu einer Verschiebung des internationalen Koordinatensystems zugunsten des transnationalen Sektors bei. Dies zeigt sich in so disparaten Phänomenen wie dem internationalen Terrorismus der 1970er Jahre oder dem dramatischen Anstieg von weltweit operierenden, humanitären Nichtregierungsorganisationen in den Jahren nach 1968. Gerade im historischen Scheitern des durch die Protestbewegungen der 1960er Jahre vorangetriebenen, transnationalen revolutionären Projekts liegt somit die ungebrochene Faszinationskraft von "1968" als grenzüberschreitendem Erinnerungsort und einem der zentralen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts.