Einleitung
Wer sich mit 1968 befassen will, steht zunächst vor einem Problem: Was soll darunter eigentlich verstanden werden? Ist damit jene wachsende linkspolitische Protestbewegung an den Hochschulen gemeint, die zuerst in West-Berlin von sich reden machte, mit den ersten spektakulären Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg 1966 die Öffentlichkeit der damaligen "Frontstadt" erregte und sich nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 auf fast alle bundesdeutschen Hochschulen ausdehnte? Die nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Ostern 1968 eskalierte, auf andere Ausbildungseinrichtungen ausstrahlte, zu einer Welle von Institutsbesetzungen führte, dann in eine Krise geriet und schließlich in die Gründung verschiedener linksradikaler Kleinparteien und Politsekten mündete und mit der RAF auch einen terroristischen Seitenstrang hervorbrachte?
Oder gilt 1968 als Synonym für eine viel umfassendere internationale Jugendrevolte, die einen kulturellen Bruch mit der Erwachsenenwelt anzeigte, zwar zeitweise linkspolitische und systemkritische Untertöne besaß, aber vor allem in der Veränderung von Lebensformen und Sexualmoral, Erziehungsstilen, Werthaltungen und kulturellen Ausdrucksformen ihren wesentlichen Gehalt besaß? Oder ist 1968 einfach nur eine vage Chiffre für den unruhigen Geist der späten 1960er Jahre?
Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Zwar haben soziale Bewegungen oft kulturrevolutionäre Seiten, doch lässt sich Woodstock kaum bloß als kulturelle Ausdrucksform einer linkspolitisch-systemkritischen Bewegung fassen. Und im Blick auf die Wirkungen von 1968 lässt sich eher kulturgeschichtlich als politisch von einschneidenden Veränderungen sprechen. Freilich waren die politischen Untertöne auch nicht bloß Beiwerk in einem neuartigen Generationskonflikt zwischen einer vom "oberflächlichen" Materialismus der Wohlstandswunderzeit geprägten und vom Makel der Vergangenheit gezeichneten Generation der Älteren und den Jungen, die sich als Träger neuer, "post-industrieller Werte" in einer Gesellschaft des Überflusses vom Lebensstil dieser Gesellschaft abzugrenzen suchten und nach eigenen kulturellen Ausdrucksformen Ausschau hielten.
1968 ist eben beides: Chiffre für eine Protestbewegung, die mit einem Linksruck in der Welt des Geistes verbunden ist, die Legitimationsgrundlagen vieler Institutionen des öffentlichen Lebens herausfordert, verschiedenste sich als revolutionär verstehende Gruppen hervorbringt und auch die Großparteien (vor allem die SPD) beeinflusst, aber auch Synonym für eine internationale Jugendkultur, deren Anfänge sich schon vor den politischen Protestwellen zeigten, die sich in wachsender Opposition zur etablierten Welt formierte, mit ihren kulturellen Ausdrucksformen einen viel größeren Adressatenkreis erreichte und zeitweise in Berührung kam mit dem im engeren Sinne politischen Protest.
Woodstock war nicht einfach nur ein Pop-Konzert, und viele Rockmusiker der späten Sechziger sahen sich selbst als Bestandteil einer Kultur mit rebellischen Obertönen. Mick Jaggers Selbstbescheidung in "Street Fighting Man" ("Well then what can a poor boy do / Except to sing for a rock 'n' roll band") kann dabei gleichgültig sein: Die Rezeptionsgeschichte des Stücks war anders.
Kulturgeschichtlich erlebten die hoch entwickelten westlichen Gesellschaften in den 1960er Jahren einen Umbruch, dessen Vorzeichen sich bis zu Elvis Presleys laszivem Hüftschwung zurückverfolgen lassen. Die kulturelle Emblematik dieses Umbruchs enthielt im Deutschland des Wohlstandswunders und mancher noch lebendigen Prägung durch Werte und Alltagskultur des NS-Regimes provokante Potentiale. Dies schuf einen Resonanzboden, auf dem linkspolitische Einstellungen, gestützt durch singuläre Protestanlässe, neue Popularitätschancen gewinnen konnten.
Eine Deutung von 1968
Ralf Dahrendorf hat einmal geschrieben, der Bewegung von 1968 seien fast so viele Ursachen zugeschrieben worden wie dem Krebs. Manchen gilt die Protestbewegung als Folge von Bildungsexpansion und beginnender Massenuniversität, andere sehen eine "demokratische Bewegung", die sich aus veränderten Rahmenbedingungen und einer besonderen Verdichtung politischer Handlungsanlässe in den 1960er Jahren ergeben habe. Wieder andere begreifen sie als Protest gegen den "rigiden Funktionalismus der protestantischen Ethik" oder die Jugend von damals als Vorboten eines neuen, post-industriellen Wertesystems, das gegen Triebverzicht und Affektkontrolle Werte der Spontaneität und der Selbstentfaltung gesetzt habe. Sozialisationstheoretische Ansätze wollen sie aus den spezifischen familiären Sozialisationsbedingungen der Nachkriegsgeneration oder als neue Form des Generationenkonflikts erklären, psychoanalytisch ist der Protest als "Aufstand einer vaterlosen Generation" beschrieben worden. Namhafte Vertreter des zeitgenössischen geistigen Lebens schließlich haben darin einen "romantizistischen Affront gegen die moderne Industriegesellschaft" gesehen, verbunden mit einer sehr deutschen Neigung, Politik als Sache des Glaubens und der "metaphysischen Militanz" aufzufassen.
Hier soll die Protestbewegung, wie sie zwischen 1967 und 1970 bestanden hat, als Verknüpfung zweier verschiedener Elemente betrachtet werden, die sich gegenseitig beeinflussten: eine mit subkulturell-bohemehaften Zügen versehene, gleichwohl eher rationalistisch geprägte politische Fundamentalopposition auf der einen und eine breitere Jugend- oder Subkultur des emotionellen Protests und der Verweigerung auf der anderen Seite. Das eigentümliche Zusammenwirken dieser beiden Seiten, in den USA noch deutlicher als in der Bundesrepublik, erklärt ihre besondere Verbreitung und gesellschaftliche Wirkung.
Eine Voraussetzung bildete die Entwicklung eines politischen Systems, das in der Wohlstandswunderzeit im Zeichen einer weitgehenden Integration alternativer politischer Konzepte stand. Dabei war mit der Bildung der Großen Koalition 1966 insoweit eine neue Situation eingetreten, als diese jetzt als Anzeichen für einen Bedeutungsverlust und Funktionswandel des Parlaments gedeutet wurde. Bei dieser Realitätsdeutung spielte die sozialistische Studentenorganisation SDS, die in Theoriezirkeln marxistisches Denken pflegte und von den neuen politischen Protestformen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung beeinflusst wurde, eine wachsende Rolle.
Eine zweite Rahmenbedingung lieferte das geistig-kulturelle Klima der Adenauer-Ära. Geprägt war dieses nicht nur vom "kollektiven Beschweigen" der NS-Vergangenheit, sondern auch von einem biedermeierlichen Privatismus des kleinen Glücks, der nach Kriegserfahrung, materieller und geistiger Entwurzelung der Älteren verständlich sein mochte, gleichwohl von manchen Jüngeren als "geistig eng und öde" empfunden wurde und mit seiner Ausgrenzung von Nonkonformismus wachsende Reibungspunkte erzeugte.
Damit verbunden war die Aktualität der braunen Vergangenheit. Bis in die 1960er Jahre hatten viele Täter und Belastete des nationalsozialistischen Regimes unbehelligt ihren Platz in der Nachkriegsgesellschaft finden können. Jetzt wurde diese Vergangenheit zum Thema. Zugleich schien durch die aggressive Abwehr der neuen Jugendkultur ("Negermusik") eine Kontinuität autoritärer Mentalitätsstrukturen sichtbar zu werden. Die Rufe der Älteren nach "Zucht und Ordnung" verbanden sich häufig mit beschönigender Vergangenheitsinterpretation, was in vielen Elternhäusern für Konfliktstoff sorgte. In einer Repräsentativbefragung aus dem Jahr 1967 gab fast die Hälfte der Befragten an, dass der Nationalsozialismus eine im Prinzip gute Idee gewesen sei.
Das zeitlich parallele Wachstum jugendbewegter Elemente der kulturellen Rebellion machte sich vor allem an Normen und Konventionen des Alltagslebens fest, drückte sich in einer neuen Musik, dem Wandel der Sexualmoral sowie radikal veränderten Vorstellungen von Mode und Haartracht aus und berührte schließlich Grundfragen von Lebenssinn und Selbstverwirklichung. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Beatmusik. Mit der Musik verband sich eine ganze Subkultur mit abweichenden Lebensstilen und Verhaltensnormen - mit Beatgruppen, Beatclubs, Solo-Tanzstilen, die expressionistische und exhibitionistische Motive betonten, und protestlerisch aufgemachten Moden wie lange Haare, bunte und äußerst legere Kleidung. Entstanden war dies alles in Liverpool. Von dort kamen die Beatles, die zu internationalen Identifikationsfiguren der Jugend wurden. Bald trat eine zweite Gruppe hinzu: die Rolling Stones. Mit der aggressiven Direktheit ihrer Musik und einer von den Älteren als "schmutzig" empfundenen Sinnlichkeit wurden sie zu einem noch authentischeren Ausdruck des Aufbegehrens ("I can't get no Satisfaction").
Die Vitalität der Beatmusik erzeugte eine energiegeladene, "freie" und "ehrliche" Grundstimmung. Die Expressivität der Darstellung durch die Gruppen begünstigte das Aufbrechen von Tabus. Und die offene Artikulation von Emotion auf der Bühne wirkte als Ausbruch aus der als "unecht" gefühlten Welt des bürgerlichen Verhaltenshabitus. Im Kern aber stand die Erotik. Diese "expressiv-erosbestimmte Gegenwelt der Beatkultur" vertrug sich schwer mit den Vorstellungen bürgerlicher Wohlanständigkeit jener Zeit, in der Gründerfleiß und Aufbauwille zwei Jahrzehnte lang prägend gewesen waren.
Vor diesem Hintergrund gewann die Verdichtung von Anlässen zu politischer Mobilisierung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erst ihre außergewöhnliche Bedeutung. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Vietnam-Konflikt. Eine Generation von Studenten, für die Amerika ursprünglich Avantgarde demokratischer Fortschrittlichkeit gewesen war, entdeckte, dass in Vietnam eine Militärdiktatur verteidigt wurde und bei der Kriegsführung offenbar jedes Mittel recht war. Dies provozierte bald auch die Frage, ob nicht auch anderes verlogen sei, was im Namen von Freiheit und Demokratie verteidigt wurde.
Gegenüber dieser Erschütterung des Amerikabildes sind andere Themen wie die Notstandsgesetze eher von sekundärer Bedeutung gewesen. Das gilt letztlich auch für die hochschulinternen Protestanlässe. Zwar spielten die politischen Studentenorganisationen in der Debatte um Bildungs- und Hochschulreformen früh eine aktive Rolle, doch haben alle Deutungen, die in der Bewegung der 1960er Jahre eine Art Interessenbewegung für Belange der Studierenden sehen wollten, nicht überzeugen können.
Die äußeren Bedingungen und Protestanlässe trafen auf eine Generation, deren Demokratiebewusstein weit über dem gesellschaftlichen Durchschnitt lag. Sie war "tolerant, hoch informiert und hatte eine hohe Partizipationsneigung". In ihrer familiären Sozialisation hatte ein autoritärer Erziehungsstil mit emotionalen Defiziten und einem ideellen Vakuum korrespondiert. Die von ihrer Jugend im Nationalsozialismus geprägten Ge- und Verbotssysteme von Vätern, deren emotionale Defizite zu offensichtlich waren, als dass ihre Werte und Normen einfach akzeptiert werden konnten, deren Strenge aber leicht Versagensängste und Schuldgefühle auslösten, provozierten Ausbruchsversuche und offene Auflehnung. Hinzutrat die Überreaktion der Gesellschaft, wobei die Vorgänge am 2. Juni 1967 sowie der Mordanschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968 eine zentrale Rolle gespielt haben. Diese Überreaktion hat jene Gemeinschaftserlebnisse oft erst ermöglicht, die dann einen Prozess kumulativer Radikalisierung in Gang setzten.
Hinter dieser Härte lugten freilich Angst und Unsicherheit hervor. Die Protestierenden spürten rasch, wie schwer sich die herausgeforderten Autoritäten mit souveräner Begründung ihrer Legitimation taten. Das eröffnete ihnen provokative Chancen, die zur Mobilisierung beitrugen, freilich auch zu einer Selbstüberschätzung, die mitunter Züge von Größenwahn annahm. In dieser Gemengelage ließ sich die emotionale Verweigerungspose der Hippies ebenso leicht mit Elementen der Kapitalismuskritik einer neuen Linken aufladen, wie der politische Protest mit kulturrevolutionären Zügen versetzt war. Dabei hat die Jugendkultur ihrerseits eine Radikalisierung durchgemacht. Sichtbarster Ausdruck war das Woodstock-Festival im September 1969, an dem ein Großteil der Rockstars jener Zeit beteiligt war und das 400 000 Menschen zusammenführte, die sich im emotionalen Dissens zur etablierten Welt ebenso einig waren wie darin, mit der eigenen Subkultur ein besseres Lebensmodell zu verkörpern. So lieferte die Jugendkultur der Protestbewegung eine "Rekrutierungsbasis", konnten sich die politischen Aktivisten von einer Welle jugendlicher Auflehnung getragen fühlen.
Wirkungen von 1968
Politisch sichtbarste Konsequenz der APO war die Formierung einer in verschiedene linksradikale Kleinparteien zersplitterten Neuen Linken. Zwar verstanden sich alle als "revolutionäre Kraft", die für den Kampf um die "Überwindung des Kapitalismus" das Bündnis mit den "arbeitenden Massen" suchten, doch untereinander waren sie sich spinnefeind. In den verschiedenen maoistischen Gruppen orientierte man sich an der Kommunistischen Partei Chinas mit ihrer Gegnerschaft zum "modernen Revisionismus" in der Sowjetunion. Ständiger Begleiter wurde bald die Suche nach "Abweichlern" und "Klassenverrätern".
Dabei entstanden vier Gruppierungen von zeitweise überregionaler Bedeutung: Die KPD, die KPD/ML, der KB sowie der KBW. Die KPD hatte ihre Hochburg in West-Berlin. Der KB war vor allem in Norddeutschland präsent, und der KBW war in Heidelberg besonders stark. Erstaunlich viele aus dem späteren Führungspersonal der Grünen haben in dieser Szene frühe politische Erfahrungen gesammelt. Die westdeutschen Arbeitermassen freilich hatten damit wenig im Sinn. Die KPD existierte bis 1979, der KBW gab einige Jahre später auf. Der KB betrieb schließlich eine "entristische Strategie" des Beitritts zu den Grünen.
Nachdem schon die illegalen Kader der KPD den Kontakt mit der APO gesucht hatten, kam es zur Annäherung "traditionalistischer" Teile des SDS an den "offiziellen" Parteikommunismus, der sich ab 1968 in der DKP formierte. Daraus entstand der "Marxistische Studentenbund Spartakus". Mit seinem eher gemäßigten politischen Auftreten kam er zu einigen hochschulpolitischen Erfolgen und war 1974 mit 5 000 Mitgliedern der größte Studentenverband der Bundesrepublik. Erst mit dem Aufstieg der linksalternativen Spontis ging sein Einfluss zurück.
Aus dem Zerfallsprozess der APO entstanden auch diverse trotzkistische, rätekommunistische und anarchistisch-spontaneistische Gruppen. Von einer gewissen Bedeutung war der "Revolutionäre Kampf" (RK), der sich im Frankfurter Raum bildete, auf betrieblicher Ebene den Kampf um eine "Arbeiterautonomie" führen wollte und sich vom Leninismus der K-Gruppen abgrenzte. Aus dem RK sind eine ganze Reihe prominenter Personen des öffentlichen Lebens hervorgegangen, so die Grünen-Politiker Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit oder der Kabarettist Matthias Beltz.
Die anarchistischen Unterströmungen der Protestbewegung gingen entweder in der zu Beginn der 1970er Jahre wachsenden Underground-Subkultur auf, bildeten das Rekrutierungsfeld für die militanten Desperados der RAF und des "2. Juni" oder wurden zur Keimzelle der ab 1975 breiter werdenden Sponti-Szene. Auch die RAF und der "2. Juni" sind aus der APO hervorgegangen. Wenngleich ihre Aktionen nicht als bloße Verlängerung von Weltbildern der APO gesehen werden können, sind geistige Verwandtschaften nicht zu übersehen, die von der RAF hypostasiert wurden. Das gilt für die romantisierende Identifikation mit der Guerillabewegung in der Dritten Welt, aber auch für den moralischen Rigorismus, der jetzt zum menschenfeindlichen Aktionismus wurde.
Längerfristig folgenreich sind all diese Organisierungsversuche nur insofern geworden, als sich viele aus der "Neuen Linken" ab 1977 in den Gründungsprozess der Grünen und Alternativen Listen einmischten. Gewiss sind die Grünen auch ein Ergebnis der Umweltdiskussion der 1970er Jahre; der gesellschaftskritische Geist von 1968 aber hat für ihren Entstehungsprozess eine zentrale Rolle gespielt: durch Kristallisationskerne linksoppositioneller Aktivisten, die sich nach dem Scheitern linksradikaler Parteiaufbaugruppen aussichtsreicheren politischen Unternehmungen verschrieben, aber auch durch die Impulse, die von 1968 für die Entstehung einer wachsenden Zahl kritischer Bürgerinitiativen ausgingen.
Während der Versuch einer Wiederbelebung der Klassenkämpfe der Weimarer Republik auf der Bühne von Universitätshörsälen eine kurzlebige Veranstaltung mit operettenhaften Zügen blieb, hat die Politisierung dieser Zeit die SPD nachhaltig verändert. Zunächst eher indirekt: Die gesellschaftliche Grundstimmung begünstigte reformorientierte Kräfte, auch wenn sich ein nachhaltiger Einfluss der APO auf den Machtwechsel 1969 nicht nachweisen lässt. Hernach aber ließ der massenhafte Zulauf junger Leute den Mitgliederbestand der SPD von 650 000 bis auf eine Million im Jahr 1975 anwachsen. Zahlreiche Parteigliederungen wurden reaktiviert, es entwickelte sich eine lebhafte Diskussions- und Streitkultur, die von einer Renaissance systemkritischen und marxistischen Denkens begleitet war. Vielerorts kam es zu Richtungskämpfen und Generationskonflikten. Oft war die gewerkschaftsnahe Traditionsmitgliedschaft dem Ansturm der theoretisierenden Jungen nicht gewachsen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Jungsozialisten.
Mit dem Umschlagen der gesellschaftlichen Grundstimmung im Zuge von Ölkrise und beginnenden wirtschaftlichen Krisenerscheinungen war das freilich schon wieder vorbei. Sichtbares Ende dieser Zeit wurde der Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt. Das Vordringen der jungen Linksakademiker hat dazu beigetragen, dass die SPD in jenen Jahren ihren Charakter als Arbeitnehmerpartei folgenreich verändert hat. Vermutlich aber hat der Strukturwandel der Gesellschaft mit der Abnahme klassischer Arbeitnehmermilieus dabei eine größere Rolle gespielt.
Auch die FDP ist von den Anstößen der Protestbewegung berührt worden. Das musste schon deshalb so sein, weil die FDP damals die parlamentarische Opposition stellte und selbst einen Wandlungsprozess durchmachte, der in die sozialliberale Koalition führte. Zu den Protagonisten dieses Wandels gehörten die Jungdemokraten. Manche wollten jetzt aus der FDP-Jugend einen sozialistischen Kampfverband machen, was zu Spannungen mit der Mutterpartei führte. Noch radikaler gerierte sich der Liberale Hochschulverband. Diese Impulse haben die sozialliberale Entwicklung der FDP begünstigt. Doch längerfristig blieben die Einflüsse der APO auf die Entwicklung der Partei bescheiden.
Eher wenig berührt wurden CDU und CSU. Zwar verlangte jetzt auch die Junge Union nach Reformen. Doch blieb das Verhältnis zur APO überwiegend von Abwehr bestimmt. Am Ende hat die Union von der Protestbewegung vor allem insofern profitiert, als sie ihre Gegner mobilisierte. Das geistige Klima der frühen 1970er Jahre brachte eine gesellschaftliche Polarisierung hervor, in der die CDU von einem bürgerlichen Honoratiorenclub zu einem mitgliederstarken Kampfverband gegen den "linken Zeitgeist" wurde.
Kurt Sontheimer hat 1976 festgestellt, dass die Protestbewegung keine wesentlichen Veränderungen der Grundstrukturen der Gesellschaft erreicht, wohl aber zu einem einschneidenden Wandel der Auffassungen über diese Gesellschaft beigetragen habe. Tatsächlich waren die Hochschulen den Einflüssen eines systemkritischen, z. T. neomarxistischen Denkens ausgesetzt. Dabei wurde das Vordringen dieses "kritischen" Wissenschaftsverständnisses erleichtert durch den quantitativen Ausbau der Hochschulen. An vielen politologischen und soziologischen Instituten traten Marx-Lektüre, Politische Ökonomie, Geschichte der Arbeiterbewegung und Systemtheorie an die Stelle von Regierungslehre, empirischer Soziologie und Parlamentarismusforschung. An den historischen Instituten gerieten die Vertreter einer narrativ orientierten Geschichtswissenschaft in die Defensive, in der Germanistik erlangte eine "materialistische Literaturwissenschaft" Bedeutung. Soziolinguisten erforschten den "Klassencharakter der Hochsprache". In der Ausbildung von Pädagogen und Sozialarbeitern ging es um eine "emanzipatorische Erziehung".
Während sich Deutungen von der Gesellschaft der Bundesrepublik als einer "Klassengesellschaft" verbreiteten, wurde die im Systemvergleich vor der Revolte dominierende Totalitarismustheorie nun antikommunistischer Ideologielastigkeit verdächtigt. Dazu trat ein geschichtswissenschaftlicher Revisionismus, der den Kalten Krieg zu einer Auseinandersetzung zwischen der kapitalistischen Hegemonialmacht USA als treibender Kraft der Spaltung der Welt und einem eher defensiven sozialistischen Lager unter Führung der Sowjetunion umdeutete. Aus dieser Sicht wurde die Nachkriegsdemokratie eine "verhinderte Neuordnung", das Wirtschaftswunder eine "Rekonstruktionsperiode", und die ganze Staatsgründung stand im Zeichen einer "Restauration des Kapitalismus". Der Faschismus galt als besonders brutale Form "bürgerlicher Herrschaft", was eine abstruse Relativierung der Differenzen zwischen Faschismus und Liberalismus begünstigte.
Sicher haben diese "Paradigmenwechsel" einseitige Blickwinkel auf die westliche Welt und Formen geistiger Verödung hervorgebracht. Doch hat sich diese Entwicklung nicht flächendeckend vollzogen, und ihr Höhepunkt war Mitte der 1970er Jahre wieder vorbei. Deshalb können sie kaum als Hauptgrund für den später vielbeklagten Zustand der deutschen Universitäten herangezogen werden. Allerdings waren Marx-Exegese und Fundamentalkritik "bürgerlicher Wissenschaft" begleitet von einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften.
Einige der nach 1968 wirkungsmächtigen Deutungsmuster haben auch die folgenden Paradigmenwechsel überdauert. So galt in der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre die USA als eigentliche Gefahr für den Weltfrieden. Die östliche Seite wurde meist milder beurteilt. Zugleich wurde ein Geschichtsbild hegemonial, dem Auschwitz als Fluchtpunkt deutscher Geschichte galt. Weil Hitler der Architekt der deutschen Spaltung gewesen sei, konnte man das Thema Deutschland vernachlässigen. Dass aus dieser Sicht allein die Bürger der DDR die Zeche zu zahlen hatten, wurde dabei übersehen. Das hat am Ende zu den mentalen Problemen beigetragen, die der jüngere Teil der westdeutschen Gesellschaft mit der deutschen Einheit hatte. Das Geschichtsbild disponierte mit seiner Relativierung des Systemkonflikts zwischen liberaler Demokratie und Kommunismus zu einer Verniedlichung der sozialistischen Systeme wie zur vorschnellen Verabschiedung von der deutschen Einheit, die weder als realistisch noch überhaupt wünschbar galt.
In den Sog der Bewegung gerieten auch die Schulen. Die Gelegenheit für Reformen schien günstig, die als Beitrag zur "Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse" gedeutet wurden. So stellten die Hessischen Rahmenrichtlinien 1971 "Emanzipation" und die "Befähigung der Schüler zur Analyse gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse" ins Zentrum allen pädagogischen Bemühens. Dies mündete in eine erbitterte kulturpolitische Auseinandersetzung. Weil mit dem Reformeifer tatsächlich eine gewisse Entwertung des Leistungsgedankens und der klassischen Bildung verbunden war, traf die Kritik einen realen Kern. Doch angesichts der Gegenkräfte und der vielen seither eingetretenen Veränderungen ist es mindestens eine gewaltige Übertreibung, wenn als Ursache für alle möglichen Mängel des Bildungswesens von heute der Emanzipationsgeist von damals herangezogen wird.
Weil die APO von einem besonderen subjektiven "Verwirklichungs- und Selbstverwirklichungsimpuls" bestimmt war, bei dem "Partizipation" eine zentrale Rolle spielte, lässt sich die seit Ende der 1960er Jahre wachsende Zahl außerparlamentarischer Bürgerinitiativen als Fortsetzung gesellschaftskritischer Impulse auf mikropolitischer Ebene beschreiben. Das politisierte Klima dieser Jahre, die von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung übernommenen Aktionsformen, die subjektive Partizipationsdimension - das schuf Bedingungen für den Aufschwung einer neuen Form des nicht-institutionalisierten politischen Engagements, das sich in Bürgerinitiativen niederschlug.
Die Soziologie hat nachgewiesen, dass sich für die jüngere Generation von damals von einem "Wertewandel" sprechen lässt. Doch ist die Protestbewegung aus dem Blickwinkel des Wertewandels eher Objekt als Subjekt. Sie hat vielen erlaubt, Wünsche auszuleben, die ansonsten vielleicht verdrängt worden wären. Aber es ist weder ihr Verdienst noch ihre Schuld, dass sie in die relativ gesicherten materiellen Verhältnisse hineinwachsen konnte, die ihre Eltern lange entbehren mussten. Dass dabei die Gräben zwischen den Generationen so tief wurden, lässt sich aus den unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Kriegs- und Nachkriegsgeneration erklären. Hinzu trat der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft: Das hohe materielle Niveau ließ die Bedeutung der Kulturindustrie wachsen. So schwand die prägende Kraft von Triebverzicht und Enthaltsamkeit. Freilich hat der Wertewandel nicht jene bestandsgefährdende Kulturkrise der westlichen Welt ausgelöst, die Daniel Bell in den 1970er Jahren angenommen hat.
Auch eine Vielzahl von Veränderungen der Lebensformen und des alltäglichen Sozialverkehrs führen auf die 1960er Jahre zurück. Das gilt für die veränderten Einstellungen zu Ehe und Familie, für vorehelichen Sex und serielle Monogamie, für das Vordringen der Frauen in der Gesellschaft und eine allgemeine Pluralisierung von Lebensstilen. Tief sitzende kulturelle Einstellungsmuster vom engen Zusammenhang zwischen Sexualität, Ehe und Fortpflanzung haben sich innerhalb weniger Jahre nachhaltig verändert. Sexuelle Libertinage bei verminderter Wertschätzung von Ehe und Familie - dabei ist die Protestbewegung Vorreiter gewesen. Zwar hat sie bald die Anzeichen der "systemkonformen Vermarktung der Sexualität" durch eine wachsende Sex-Industrie kritisiert. Doch die demonstrative Promiskuität und die vielfältigen Diskussionen um sexuelle "Unterdrückung" und "Befreiung" haben nicht nur ihren Beitrag zur Liberalisierung der Sexualmoral geleistet, sondern auch das soziale Rekrutierungsfeld der APO ausgeweitet. Heute wird man die Errungenschaften dieser Libertinage eher zwiespältig betrachten müssen. Was zunächst Befreiung war von der Last eines bedrängenden Normensystems und neue Möglichkeiten von Freiheit und Selbstverwirklichung schuf, ist auch Trendsetter einer allgemeinen Sexualisierung des Alltagslebens geworden.
Mit 1968 verbindet sich auch der Protest gegen alle möglichen äußeren Attribute von Wohlanständigkeit und "guter Kinderstube", die von den jungen Leuten als Fassade für die repressive Moral eines biedermeierlichen Kleinbürgertums mit brauner Vergangenheit gedeutet wurden. Der Rigidität des Einklagens von "ehrlichen" und "offenen" Formen des Sozialverkehrs entsprach die Denunziation des bürgerlichen Verhaltenshabitus als doppelbödig und verlogen. Entsprechend wurde (fast) alles abgelehnt, was dort zum guten Ton gehörte: gepflegtes Äußeres ebenso wie konventionelle Höflichkeitsformeln. Auch hier hat die Protestbewegung Spuren hinterlassen, wie der Siegeszug des "Du" und die Lockerung der Regeln für Bekleidung und äußeren Habitus besonders deutlich zeigen. Auch die heutige Form- und Zwanglosigkeit aber hat ambivalente Konsequenzen. Das Verrücken von Tabuschranken, der Verlust an Diskretion und Schamgefühl sind Kehrseiten eines weniger von Regeln und Konventionen bestimmten Sozialverkehrs, in dem Tugenden wie Höflichkeit, Ehrlichkeit, Respekt und Verlässlichkeit an Bedeutung verloren haben.
Fraglos hat die Protestbewegung das Bewusstsein von der kulturfördernden Kraft von Institutionen geschwächt. Doch gerade weil die befreiende Formlosigkeit von 1968 in ihrer Radikalität so leicht als Umkehrung der elterlichen Grundwerte von Gehorsam und Disziplin erkennbar ist, wird man die hernach prägende Kraft eines permissiven Zeitgeistes nicht einfach als Folgewirkung dieser Jahre beschreiben können. Eher haben Kulturkritik und Antikapitalismus mitgeholfen, den Weg zu öffnen für eine vom modernen Kapitalismus geforderte neue soziale Mobilität und Flexibilität.
Was bleibt?
Der Protest von 1968 zeigte sich zuerst in den sprachlos-emotionalen Formen einer neuen Jugendkultur. Bald aber fand er einen politischen Ausdruck. Besonders der Vietnamkrieg und die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit lieferten der Abspaltung eines wachsenden Teils der jungen Generation von der Mehrheitsgesellschaft politische Interpretationsmuster. So entstand, aufgeladen durch innere Verweigerungsmotive einer durch emotionale Schwächen und Glaubwürdigkeitsmängel ihrer Eltern beladenen jungen Generation, eine Form des Ausbruchs, die sich bis zur Selbstsuggestion, Teil einer weltrevolutionären Bewegung zu sein, radikalisierte.
Der von den Zeitgenossen empfundene "wilde Zauber" jener Jahre zeigt, wie sehr die Revolte in Kategorien eines neuartigen und singulären Generationenkonflikts gedeutet werden muss. Das Ausmaß der Selbstüberschätzung wie die bald ins Possenhafte abgleitende "revolutionäre Selbststilisierung" lässt freilich auch auf das Fehlen einer inneren Stärke der Protestierenden schließen, die realistische Selbstdeutungen verhinderte. So kann man in der Bewegung von damals auch einen auf der Bühne der Gesellschaft ausgetragenen Kampf ums eigene Ich sehen. Dabei sind in der kumulativen Radikalisierung des Protests auch Seelenverwandtschaften zwischen den Protagonisten des Protests und der attackierten Vätergeneration deutlich geworden. Daraus freilich auf eine Kontinuität der "Dreiunddreißiger und Achtundsechziger" zu schließen, wird der schillernden Vielfalt von 1968 schon deshalb nicht gerecht, weil Obsessionen, Pathologien und der hochgestochene Elitarismus selbsternannter Avantgardisten noch keine Schlussfolgerungen zulassen für die Protestbewegung als Ganzer. Hinzu kommt ihr ganz eigenes Changieren zwischen Realität und Fiktion, das es erschwert, alle wirren Reden und Pamphlete von damals zum revolutionären Nennwert zu nehmen.
Politisch ist von den systemkritischen Impulsen nicht viel geblieben. Bürgerinitiativen sind heute Ergänzung des repräsentativen Systems, die Grünen haben sich von ihren bewegten Ursprüngen gelöst. Und der Glaube, die Welt ließe sich nach Maßgabe großer theoretischer Modelle revolutionär aus den Angeln heben, wirkt heute Lichtjahre entfernt. Geblieben sind die Fundamentalliberalisierung des Alltagslebens und eine Verschiebung von hegemonialen Deutungsmustern von Geschichte und Gesellschaft. Das gilt vor allem für die Interpretation deutscher Geschichte und den kritischen Blick auf Amerika.
Die Permissivität der heutigen Gesellschaft würde keiner jungen Generation auch nur annähernd die Provokationsräume liefern, wie sie die 68er hatten. Zu dieser Liberalisierung hat die Protestbewegung beigetragen, freilich auf widerspruchsvolle Weise. Sie selber war überwiegend gar nicht liberal - oft nicht mal tolerant. Sie hat Räume geöffnet und Anstöße geliefert, aber auch Erfolge erzielt, die sie gar nicht haben wollte. Wenn es ein "Programm von 1968" gegeben hätte, hätte dies nur scheitern können. Sicher darf man Geschichte nicht einfach vom Ergebnis her betrachten. Aber die Selbstsuggestion der Protestierenden von der revolutionären Situation war absurd und der Kostümierungsversuch der antiautoritären Revoluzzer als selbsternannte Arbeiterführer kurios.
So bleibt in der Erinnerung vor allem das befreiende Erlebnis eines jugendlichen Aufbruchs aus allen möglichen Zwängen einer mit rigiden Ge- und Verboten behafteten Existenz - eine Befreiung, die für viele lebensgeschichtlich prägend war. Deshalb ist der kulturelle Umbruch jener Jahre der tiefste, den die Gesellschaften des Westens seit 1945 erlebt haben. Dagegen ist die "Generation Golf" ein aufgeblasenes Kunstprodukt. Freilich hat die Rebellion gegen Tradition und bürgerliche Pflichtethik ungewollt auch den Boden bereitet für die inzwischen ausgreifende Kraft einer entgrenzten Ökonomie, der weder durch die Kraft sicherer kultureller Sinnbestände noch durch politische Macht Grenzen gesetzt werden. Hier liegt die eigenartigste Paradoxie von 1968.