Einleitung
Um die Jahreswende 2006/2007 mussten die Leser der Wochenzeitung "Die Zeit" den irritierenden Eindruck gewinnen, als stünde das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik vor einem tief greifenden Wandel. Auslöser dieses Wandels schien ausgerechnet der Bundespräsident zu sein, dessen Amt - gemessen an der mitihm verbundenen Macht - zu den harmlosesten gehört, die in der Bundesrepublik zu vergeben sind. "Eigentlich ein unmögliches Staatsamt", so der Bonner Verfassungsrechtler Josef Isensee, "dem Protokoll nach das höchste, ist es das ärmste der Kompetenzausstattung nach".
Im Jargon der Politikwissenschaft ausgedrückt: Der Bundespräsident wurde zu einem echten "nachträglichen und fallabhängigen"
Man kann zwar durchaus mit den guten Argumenten Winfried Steffanis behaupten, diesen Systemtypus gäbe es gar nicht.
Irritationen um das Prüfungsrecht
Die eben nur kurz angerissenen Thesen zur sektoralen Präsidialisierung des parlamentarischen Regierungssystems machen eine gewisse analytische Unsicherheit deutlich, mit der heute dem Amt des Bundespräsidenten begegnet wird. Tatsächlich fügt sich dieses Amt nicht besonders geschmeidig in die gängigen Typen der Regierungslehre. Für die Funktionsfähigkeit eines parlamentarischen Regierungssystems ist diese Figur im Grunde verzichtbar - wie man übrigens schon mit Blick auf die Regierungssysteme der Bundesländer sehen kann, die allesamt ohne einen solchen Präsidenten auskommen.
Die jüngsten Irritationen über das Amt des Bundespräsidenten entzünden sich an seinem Recht, Bundesgesetze vor deren Ausfertigung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Dieses Prüfungsrecht bietet hier den Anlass, die Funktionen des Bundespräsidenten aus Sicht gängiger verfassungsrechtlicher und politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze genauer zu hinterfragen. Im Anschluss daran soll die etwas überspitzt formulierte Frage beantwortet werden, ob dieses Amt unverzichtbar oder überflüssig ist. So ist diese Frage jedoch noch zu allgemein gestellt und wird daher um die folgende zu überprüfende Hypothese ergänzt: Ist das Amt und das mit ihm verbundene Prüfungsrecht nicht vor allem deshalb doch unverzichtbar, weil derBundespräsident zum (einspringenden) Hüter der Verfassung wird, wenn und soweit der Weg zu einer abstrakten Normenkontrolle unter den Bedingungen der Großen Koalition verbaut ist?
Könnte es nicht sogar sein, dass der Bundesgesetzgeber in antizipierender Reaktion auf die drohende Ausfertigungsverweigerung durch den Bundespräsidenten im legislativen Prozess mehr verfassungsrechtliche Sorgfalt und Umsicht walten lässt als ohne ein ex post zur Intervention bereites - und berechtigtes - Staatsoberhaupt?
Der Bundespräsident - ein "systemfremdes Element"?
Will man über das Amt des Bundespräsidenten unter funktionalen Gesichtspunkten Genaueres wissen, erfährt man von der Staatsrechtslehre mehr als von politikwissenschaftlichen Abhandlungen zum parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik. Grundsätzlich gilt aber hier wie dort, dass das Modell der parlamentarischen Demokratie dem Bundespräsidenten als "einem Staatsoberhaupt, das nicht zugleich Regierungschef ist, im Spiel der Kräfte und Gegenkräfte keinen natürlichen, quasi systemtragenden Platz"
Allerdings existiert mit dem Prüfungsrecht in Art. 82 GG eine Kompetenz des Bundespräsidenten, die in der staatsrechtlichen Diskussion erhöhte Aufmerksamkeit erfahren hat
Die Feststellung, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, kann immer nur das Resultat einer eingehenden, umfassenden und gewissenhaften Prüfung sein und ist niemals einfach "evident", zumal die Praxis zeigt, dass der Gesetzgeber höchst selten ein "zweifelsfrei" verfassungswidriges Gesetz erlässt, sich mithin in der Regel auch immer Argumente für die Verfassungskonformität eines strittigen Gesetzes anführen lassen. Der Bundespräsident würde seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen somit keinesfalls überschreiten, "wenn er die Ausfertigung eines Gesetzes schon dann ablehnen würde, wenn er aufgrund sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung (...) zur Schlussfolgerung gelangte, dass das Gesetz verfassungswidrig sei, ohne dass es auf Offenkundigkeit ankommt."
Die Politikwissenschaft steht diesen staatsrechtlichen Überlegungen zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten eigentümlich reserviert gegenüber und reflektiert diese kaum.
Tatsächlich lässt sich die Reinheit des parlamentarischen Regierungssystems nur behaupten, wenn dem Bundespräsidenten eine lediglich untergeordnete Rolle eingeräumt wird und er über sein Gesetzesausfertigungsrecht nicht zu einem "Parteigänger einer Partei" in politischen Konflikten der Staatsorgane wird. Aus ähnlichen Gründen muss auch die - oftmals undifferenziert geforderte - legitimatorische Aufwertung des Bundespräsidenten durch dessen Direktwahl abgelehnt werden, weil sie ihn in eine Konkurrenzsituation zu dem ja nur indirekt gewählten Bundeskanzler stellen würde, die dem parlamentarischen Regierungssystem kaum zuträglich wäre.
Damit muss aber keineswegs das letzte Wort aus politikwissenschaftlicher Sicht gesprochen sein. Bei der Beurteilung des Problems müsste es indessen zuallererst darauf ankommen, welcher demokratietheoretische Maßstab zugrunde gelegt wird. Empirisch spricht wenig dafür, das politische System quasi nur unter dem Blickwinkel eines Westminster-Systems zu begutachten, da schon die gewaltenteilige Mischverfassung des Grundgesetzes mit seinen durchaus eigentümlichen checks and balances Konsenszwänge institutionalisiert, die mit diesem reinen Modell kaum in Einklang zu bringen sind. Aus diesem Grund müssen andere Maßstäbe gesucht werden, wobei vor allem folgendes zu beachten ist: Legitimationstheoretisch müssen Macht und Gegenmacht im gewaltenteiligen System der Bundesrepublik keineswegs immer durch majoritäre demokratische Rückkopplung legitimiert sein. Wichtiger ist aus Sicht der Gewaltenteilungslehre vielmehr, dass sich Macht und Gegenmacht wechselseitig in Schach halten und kontrollieren können. Nicht jede öffentliche Herrschaftsausübung muss dabei durch Legitimationsketten direkt auf das Volk zurückgeführt werden.
In diese gewaltenteilige und letztlich doch outputorientierte Logik als ergänzendes und korrigierendes Moment neben der inputorientierten Logik des parlamentarischen Regierungssystems reiht sich dann aber auch der Bundespräsident ein, der - so gesehen - auf eine stärkere demokratische Legitimation beispielsweise durch seine Direktwahl aber auch getrost verzichten kann, weil er sich schlicht durch andere Leistungen - gewissermaßen "kompensatorisch" - zu rechtfertigen vermag.
Der Bundespräsident - "Mithüter der Verfassung"
Nur wenn diese Zusammenhänge übersehen werden, mag man es als Gefahr wahrnehmen, dass der Bundespräsident durch die Wahrnehmung seiner Prüfungskompetenz in eine stärkere Konkurrenzsituation zum Amt des Bundeskanzlers und dessen parlamentarisch verantwortliche Regierung kommen und hierüber sogar zum institutionellen Vetospieler werden könnte, der ähnlich wie der Bundesrat die Gesetzgebung der Regierungsmehrheit blockiert. Gesehen wird hier nicht - und exakt dies ist eben auch konstitutiv für den demokratischen Verfassungsstaat -, dass der Bundespräsident gerade nicht unbedingt das "letzte Wort"
Zwar ist die Erkenntnis, dem Bundespräsidenten keine besondere Rolle als "Hüter der Verfassung" zuzuschreiben, gängige Münze. Mit dem GG wurde diese - wie man weiß ja durchaus missbrauchsanfällige - Funktion bewusst fallen gelassen. Neben dem Bundesverfassungsgericht brauchte man keinen besonderen Hüter der Verfassung mehr - vor allem keinen, der sich machtvoll über das Parteiengezänk erheben und den vermeintlich wahren Willen des Volkes zu repräsentieren für sich in Anspruch nehmen könnte ("volonté générale"), nur um unter dieser demokratietheoretisch höchst zweifelhaften Prämisse diktatorisch am Parlament vorbeiregieren zu können, in dem - so meinten die zahlreichen Parlamentskritiker in der Weimarer Republik - der zur politischen Einheitsbildung kaum zu gebrauchende, weil dissonante und vielstimmige "volonté de tous" dominierte. Und doch könnte es sich lohnen, die Kategorie des "Hüters der Verfassers" wieder aus der Mottenkiste der Geschichtsschreibung um die gescheiterte Weimarer Reichsverfassung zu holen und sie auf den Bundespräsidenten anzuwenden.
Was spricht dagegen, dem Bundespräsidenten einzuräumen, als einspringender Hüter der Verfassung zu fungieren, dort wo es nötig ist? Wenn man einerseits annimmt, dass der Bundespräsident zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit per Gesetz berufen und sogar verpflichtet ist,
Vom Bundespräsidenten droht keine Gefahr ...
Diese Bedenken gegen die Funktionszuschreibung des "Hüters der Verfassung" können heute nicht mehr überzeugen, da nach Bonn auch Berlin nicht Weimar ist. Der Bundespräsident, dem die Hüterfunktion - kumulativ mit dem Bundesverfassungsgericht und nicht exklusiv - eingeräumt werden kann, wird in der Berliner Republik kaum die Gelegenheitsstrukturen vorfinden, die ihm eine Machtdominanz im ausgeklügelten und ausbalancierten deutschen Regierungssystem ermöglichen würden. Ein Art. 48 Weimarer Reichsverfassung (WRV) existiert im GG nicht - aus dem Bundespräsidenten kann kaum ein regierendes Staatsoberhaupt werden, das am Parlament vorbei regiert. Grundsätzlich spricht gleichwohl nichts dagegen, dass das Staatsoberhaupt auch in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Rolle einnehmen kann, indem es das Kräftespiel von Parlament und Regierung mit überwacht und gegebenenfalls eingreift, wenn die Verfassung sonst Schaden nehmen könnte - natürlich immer nur im Rahmen der ihm von Verfassungs wegen gegebenen Möglichkeiten, niemals aber extrakonstitutionell. Diese Funktionszuschreibung als "Mithüter der Verfassung" ergänzt neuere verfassungsrechtliche Überlegungen, in denen dem Bundespräsidenten als "Kustos"-Funktion die Rolle eines "beschützenden Wächters des politischen Prozesses"
Was die reale Macht des Bundespräsidenten anbelangt, gibt es nichts zu befürchten. Er bliebe weiterhin höchstens Sand im Getriebe - und das aber nur in ausgesuchten Fällen, in denen er das qua Amt verantworten kann und auch muss, gegebenenfalls sogar gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Auf Problembeschreibungen, die aus lauter typologischer Verlegenheit darauf hinauslaufen, das Regierungssystem in die Nähe eines semi-präsidentiellen Regierungssystems rücken zu müssen, könnte daher getrost verzichtet werden, und schließlich wäre die so definierte Rolle des Bundespräsidenten als "einspringender Verfassungshüter" auch normativ nicht zu beanstanden. Vom Boden des Grundgesetzes müssten wir uns keineswegs entfernen, denn dort ist die Hüterfunktion des Bundespräsidenten als oberstes Verfassungsorgan durchaus angelegt, man muss sie nur empirisch erkennen und normativ anerkennen wollen. Der Bundespräsident ist insofern doch eine "pouvoir neutre"
Insofern wird der Bundespräsident seinerunter prozessual-dynamischen Gesichtspunkten im GG zu erkennenden "Vorbeugefunktion"
Schlussbemerkung
Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, welches sein Recht auf Ausfertigungsverweigerung einschließt, lässt sich kaum einspurig mit der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems erklären. Auch die Ansicht, der Bundespräsident wäre dann, wenn er von seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht Gebrauch macht, ein systemfremdes und antimajoritäres Element im gut geölten Getriebe des auf dem Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition basierenden parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems lässt sich nicht mehr halten. Die Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Regierungspraxis stellt sich - zumal unter der Bedingung der Großen Koalition - komplett anders dar, wie gezeigt werden konnte. Auch normativ spricht gegen die Hüterfunktion des Bundespräsidenten nichts, vor allem dann nicht, wenn man sich der seit Aristoteles bekannten Vorzüge von Mischverfassungen bewusst ist. "Ambition must be made to counteract ambition", das wussten auch die Verfasser der Federalist Papers nur zu genau.
Die Bundesrepublik ist eben nicht nur als parlamentarisches Regierungssystem zu klassifizieren, sondern als demokratischer Verfassungsstaat, in dem das parlamentarische "Durchregieren" - glücklicherweise - nur einen Ausschnitt der Verfassungspraxis ausmacht und manchmal eben auch von Verfassungs wegen durch institutionelle Gegenmächte ausgebremst werden muss. Der von institutionellen Gegenmächten zuweilen eingestreute Sand ins Getriebe des parlamentarischen Regierungssystems ist sogar notwendig. Und unter diese institutionellen Gegenmächte hat sich in jüngster Zeit eben auch der Bundespräsident gemischt - übrigens keineswegs zum Schaden des demokratischen Verfassungsstaates.