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Sünde und Strafe: Israel und die Siedler | 60 Jahre Israel | bpb.de

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Sünde und Strafe: Israel und die Siedler

Idith Zertal

/ 18 Minuten zu lesen

Der Dämon der jüdischen Siedlungen in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten sucht die israelische wie die palästinensische Gesellschaft weiter heim.

Einleitung

Der Mord eines palästinensischen Terroristen an acht Studenten der Jeschiwa (Talmudschule) Merkaz ha-Rav in Jerusalem am 6. März 2008, einem Donnerstagabend, erschütterte nicht nur Israel, hatte man sich doch allmählich von den Folgen der furchtbaren Selbstmordattentate erholt, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die öffentlichen Plätze und Straßen des Landes verwüsteten. Auf tragische Weise richtete die Gewalttat die nationale und internationale Aufmerksamkeit wieder auf den geistlichen Eckpfeiler der ideologischen, religiös-nationalistischen Gruppe, aus der die Siedlerbewegung hervorgegangen ist, die sich über die besetzten Gebiete ausgebreitet und die Geschichte Israels nachhaltig verändert hat.


Eine solche Bluttat im Zentrum einer israelischen Stadt war allgemein befürchtet worden, angesichts einer tödlichen Woche in Gaza, in der israelische Militäreinsätze 130 Palästinensern das Leben gekostet hatten, mindestens die Hälfte von ihnen Zivilisten - gewissermaßen als Teil des altbekannten, abgenutzten Musters von Gewalt und Gegengewalt. Doch der Anblick junger Menschen, die während ihrer Studien und Gebete in einer Bibliothek ermordet wurden, traf einen Nerv: den des ewigen jüdischen Märtyrer- und Opfertums. Und so wurde das Gemetzel eingeordnet in die lange Reihe vorangegangener Massaker und mit mythischen, symbolischen Dimensionen jüdischer Zerstörung und Wiedergeburt, jüdischen Leidens und Selbstermächtigung versehen: "Man muss wissen, dass unser Leiden uns nicht überwältigen soll, sondern uns stärkt", sagte einer der Lehrer der Jeschiwa. "Sie haben uns mitten ins Herz getroffen", meinte ein anderer Rabbi am Abend der Tat.

Es war wirklich das Herz, nicht, weil sich die Talmudschule in Jerusalem befindet, sondern, weil Merkaz ha-Rav seit fast einem halben Jahrhundert den Mittelpunkt religiöser Jeschiwas in Israel darstellt. Von hier stammten Generationen, welche die immer zahlreicheren Siedlungen in den palästinensischen Gebieten bevölkerten, und diese Jeschiwa war das Herz der kookistisch-messianischen Ideologie. Diese diente den Führern von Gush Emunim (Block des Glaubens) als Leuchtturm bei ihrem Drang, sich das heilige, mythische Herz des alten Israel, das im Juni-Krieg 1967 erobert worden war, anzueignen und zu besiedeln. Als verschiedene Regierungen zögerliche Versuche unternahmen, einige Siedlungen zu räumen, wurde diese Jeschiwa zum Zentrum des oft gewaltsamen Widerstands; sie lieferte jungen Soldaten - manche hatten hier studiert - die ideologische und religiöse Begründung, sich Befehlen zur Evakuierung der Siedler zu widersetzen.

Es gibt viele Perspektiven, von denen aus man die komplizierte, vierzigjährige Geschichte der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten jenseits der Grünen Linie (Israels politische Grenze bis 1967) analysieren kann. Man kann den Kern des Siedlerphänomens und seine Bedeutung für die israelische Geschichte nicht erfassen, ohne das Rätsel der charismatischen Bedeutung der Merkaz ha-Rav zu lösen, die diese seit Jahren für Tausende religiöser Jugendlicher besitzt. Noch bemerkenswerter ist der spirituelle und politische Einfluss, den diese Jeschiwa auf große Teile der politischen Klasse in Israel ausübt, auf die Eliten, die Intellektuellen und die Meinungsbildner, die meisten von ihnen erklärte Sakuläre. Der Schlüssel zu diesem Rätsel ist eine einzigartige, historische Verbindung dreier Elemente: zum einen ein charismatischer Rabbi mit einer eher simplen politischen Theologie absoluter Wahrheit und mit Prinzipien, nach denen alles möglich und erlaubt ist in Bezug auf das Land Israel; zum zweiten eine Generation religiöser Jugendlicher, deren Eltern von der zionistischen Arbeiterrevolution in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit politisch unterdrückt und marginalisiert wurden und die sich seitdem auf die Mission vorbereiteten, um das Land vom Säkularismus, Individualismus, Defätismus und der Vernachlässigung jüdisch-zionistischer Werte zu erlösen; drittens eine Atmosphäre des Überschwangs und der messianischen Übertreibung, die Israel nach dem militärischen Sieg 1967 ergriff.

Theologie und Politik

Es war die Begegnung von Rabbi Zvi Jehudah Kook, 1967 Leiter der Merkaz ha-Rav und Sohn des legendären Abraham Isaak Kook, 1920 Gründer des Oberrabbinats im Mandatsgebiet Palästina und auch der Jeschiwa Merkaz ha-Rav, mit einer Gruppe rebellierender, religiöser Jugendlicher unter den historischen Umständen des Sieges von 1967, die diese neue politische Bewegung in Israel schmiedete. Die vereinten Kräfte der radikalen und einfachen Botschaften des Rabbis und die seiner eifernden, aber höchst pragmatischen Studenten erhielt unvorhersehbare ideologische und politische Kraft, die weit über die Jeschiwa hinausging, die noch bis in die 1960er Jahre hinein eine eher randständige religiöse Einrichtung gewesen war.

Die komplexen, ausgefeilten Lehren des Vaters wurden vom Sohn in eine "Sprache des Handelns" übersetzt. Der jüngere Kook, der die Sprache und Terminologie von Gush Emunim prägen und dessen illegale Praxis formen sollte, verwischte die Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Politischen, um die Utopie auf Erden zu verwirklichen. "Der Herr des Universums hat seine eigene politische Agenda, und dementsprechend muss die Politik gestaltet werden", lehrte Kook. "Teil dieser Erlösung ist die Eroberung und Besiedlung des Landes. Das wird von göttlicher Politik bestimmt, und keine irdische Politik kann diese ersetzen."

Die Bewahrung der 1967 eroberten Gebiete, ihre Besiedlung und die Einführung jüdischen Lebens waren die wichtigsten Grundsätze - ja, eigentlich die einzigen. Die Bedeutung des Landes Israel (Eretz Yisrael) überstieg jede politische Realität und jedes andere religiöse Anliegen. Das absolute Recht auf das Land und die Pflicht, es zu besiedeln, waren ebenso wichtig wie alle anderen Gebote zusammen. Die Methoden, die man anwandte, um das Ziel zu erreichen, waren heilig. Im Namen der "Wahrheit", predigte Kook, sollte man willens sein, bis zum letzten Graben zu kämpfen und auch zu sterben. Er diente seiner Gefolgschaft als Modell dafür, wie man Theologie und Politik in Einklang bringen könnte. Regierungsmitglieder, Abgeordnete der Knesset, Militärbefehlshaber und Mitglieder der säkularen Gesellschaft wurden regelmäßig eingeladen und hörten den theopolitischen Predigten in der Jeschiwa zu.

Indem er zwischen "hoher" und "niederer" Politik auf dialektische Weise schwankte, während er von Beginn der 1970er Jahre an einen kompromisslosen Kampf mit dem politischen Establishment und seinen Repräsentanten um die Siedlungen führte, wussten der Rabbi und seine Schüler, wie man sich des Establishments bediente. Sie pflegten ausgefeilte Netzwerke, die alle staatlichen Institutionen durchzogen, setzten sich wie keine politische Organisation zuvor in den Ministerbüros und in dem des Premierministers fest und zeigten sich dienstbereit, bewaffnet mit himmlischer Rechtschaffenheit und irdischen Forderungen. Sie handelten und lebten, Körper und Seele, wie am Ende aller Tage, am Ende der Geschichte. "Nicht wir erzwingen das Ende, das Ende zwingt uns!", sagte Kook seinen Studenten, die ihre Mission erfüllen wollten, dieses Ende zu beschleunigen. Sie sahen sich als Avantgarde, die den göttlichen Lauf der Erlösung voranbringt.

Von der ersten Siedlung in Gush Etzion, illegal, aber mit Wissen der Regierung von einer Gruppe von Kooks Schülern nur wenige Monate nach Kriegsende, am Abend des jüdischen Neujahrsfestes im Oktober 1967, errichtet, bis zu den letzten illegalen Vorposten, die vielleicht in diesem Moment auf Hügeln der Westbank geschaffen werden, ist es der Geist von Kook, des Jüngeren, und seiner Gebote, die diese Unternehmungen anleitet. In über vierzig Jahren überschritten fast eine halbe Million israelischer Juden Israels international anerkannte Grenzen und siedelten in den besetzten Gebieten in der Westbank, im Gazastreifen und auf dem Golan. Sie taten dies unter Bruch internationalen Rechts und von Übereinkommen, die es einer Besatzungsmacht untersagen, die eigene Bevölkerung in besetzten Gebieten anzusiedeln. Eine große Anzahl von Siedlungen sind auf Gebieten hinter der Grünen Linie verteilt. Sie bilden große Blocks um Jerusalem herum und auf den westlichen und östlichen Hängen in Samaria. Sie finden sich im Tal des Jordan und um die Stadt Hebron im Süden. Wuchernde "Nachbarschaften" schließen sich um größere palästinensische Städte wie Nablus, das historische Wirtschafts- und Industriezentrum, oder Ramallah, den Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde.

In den vier Jahrzehnten der Besatzung wurden in den Gebieten rund 120 Siedlungen errichtet, die von den meisten Israelis als "legal" angesehen werden, sowie zahllose "illegale" Außenposten. Dicht nebeneinander wurden Jeschiwas, verschiedenste Religionsschulen, paramilitärische Ausbildungszentren und Industriegebiete eingerichtet. Dutzende von Kilometern lange asphaltierte Schnellstraßen wurden gebaut, die meisten zur ausschließlichen Nutzung durch Siedler und die Sicherheitskräfte. Folgt man einem Sonderbericht des State Comptroller, legten die Siedler allein in den späten 1990er Jahren nicht weniger als 126 Straßen und Dutzende von Umgehungswegen mit einer Gesamtlänge von vielen hundert Kilometern an, um ein Netz zu schaffen, das die Siedlungen miteinander verbindet. Alle diese Baumaßnahmen wurden auf palästinensischem Land vorgenommen, dessen ansässige Einwohner enteignet wurden. Im vergangenen Jahrzehnt wurden mehrere hundert Straßenblockaden errichtet, manche sehr groß und befestigt, mit den ausgefeiltesten Überwachungsinstrumenten, andere kleiner und mobil, aber alle brutal, willkürlich und hässlich, an denen sich Besatzer und Besetzte täglich als Ungleiche im Niemandsland begegnen.

Der Generalstabschef, einer der Väter des Systems von Checkpoints, gab im Juli 2003 auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada zu, dass "wir, selbst wenn wir den Krieg gewinnen, nicht mehr in den Spiegel schauen können (...). Ein Soldat, der eine Straßensperre bewachen muss und die Zugänglichkeit sowie die Versuchungen, die Menschen zum Plündern verführen, trägt nichts zu unserer moralischen Stärke bei." Angeblich aus Sicherheitsgründen errichtet (interne Armeedokumente belegen, dass "Straßensperren ihre Aufgabe nicht erfüllen, zu verhindern, dass Terroristen oder Material passieren können"), wurden die Straßensperren vor allem deshalb gebaut, um die aggressiven Forderungen der Siedler zu erfüllen und um ihrer Angst angesichts des bewaffneten palästinensischen Widerstands und der blutigen Selbstmordattentate zu begegnen. Statt Sicherheit und Befriedung bringen sie weitere Feindseligkeiten hervor und mehr Hass.

Erlöser des jüdischen Volkes

Treibende Kraft der Siedlungen ist Gush Emunim, als organisierte, hoch motivierte Bewegung interessanterweise nicht unmittelbar nach dem Krieg von 1967 gegründet, sondern erst nach dem Yom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973. Die von diesem Krieg und seinen anfänglichen Rückschlägen ausgehenden Traumata, die moralische Depression und die politische Krise, die ihm folgten, sowie die Pläne zum Rückzug und zur "Truppenentflechtung" auf dem Sinai schufen perfekte Bedingungen für eine Bewegung, die sich aufgrund kollektiver Ängste, einer Politik des Hasses, der Angst und der Kriegstreiberei in den Vordergrund schob und sich als Retter des jüdischen Volkes präsentierte. Die ersten Siedlungen wurden nicht unter der Flagge von Gush Emunim errichtet, aber die meisten waren von Leuten besetzt, die später zu Führungspersonen von Gush avancierten. Tatsächlich wurden die 19 Siedlungen, die von 1967 bis 1976 in den Gebieten entstanden, unter den Augen von Regierungen errichtet, die von der Arbeitspartei geführt wurden, manchmal unter deren ausdrücklicher Billigung, wie die Siedlungen am Jordan, manchmal unter stillschweigender Hinnahme.

Die Gründung von Gush Anfang 1974 fiel mit der Entlassung von General Ariel Sharon aus dem Armeedienst nach dem Yom-Kippur-Krieg zusammen; Sharon versuchte eine Karriere in der Politik. Die Verbindung zwischen dem hedonistischen General und den jungen Fanatikern erwies sich als von Dauer und profitabel, und für Israel ebenso schicksalhaft wie die Begegnung dieser Jugendlichen mit Rabbi Kook. Beide Seiten ähnelten sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Auserwählte, als Träger einer größeren Mission als gewöhnliche Politiker, nach höheren Gesetzen handelnd.

Die historische Begegnung zwischen dem General und den Kadern des ultrareligiösen Zionismus fand statt während des Kampfes gegen die Truppenentflechtung und den Rückzugsplan auf dem Sinai, den der amerikanische Außenminister Henry Kissinger verfolgte. Die massiven Demonstrationen gegen die Israel-Besuche Kissingers 1974 und 1975 verlieh Gush einen einzigartigen Status in der israelischen Politik und schuf eine enge Verbindung mit dem ehemaligen Krieger. Sharon nahm an den Geheimtreffen der Spitzen von Gush teil und wurde zur grauen Eminenz. Er verlangte "machtvolle, breit angelegte Maßnahmen" gegen Kissinger und die Regierung sowie ein kriegerisches Vorgehen gegen "jene, die eine solch schändliche Lage verursacht haben", und forderte, "dass wir jeden Tag neue Siedlungen einrichten und den Amerikanern zeigen sollten, dass die Regierung Rabin keine Unterstützung für einen Rückzug aus Judäa und Samaria hat".

Die Invasion in Sebastia, in Samaria, durch Gush Emunim im Dezember 1975 war ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Siedlungen, und auch hier spielte Ariel Sharon eine Schlüsselrolle. Es bedeutete nicht nur, "ein Messer ins Herz des Palästinismus zu stoßen", wie es Mitglieder von Gush formulierten, sondern den Durchbruch der Organisation ins das israelische Bewusstsein. Vor dem Hintergrund der bröckelnden, verlassenen türkischen Bahnstation bildeten die Mitglieder von Gush wie leidenschaftliche Gläubige einer ekstatischen, rituellen Sekte einen Kreis und sangen laut ihre inoffizielle Hymne, die sie dem täglichen Gottesdienst entnommen hatten: "Beschließt einen Rat, und es werde nichts daraus; beredet euch, und es geschehe nicht! Denn hier ist Immanuel!"

Das Ereignis von Sebastia enthielt alle Elemente des Phänomens Gush Emunim: eine Gruppe junger Radikaler mit messianischem Glauben, die das Recht und die Entscheidungen der gewählten Institutionen des Staates mit Füßen trat, indem sie eine mystische und irrationale Weltsicht mit einer modernen, rationalen, effektiven Wahrnehmung und mit Handlungsoptionen verband. Eine Doppelstrategie wurde angewandt: Man näherte sich dem Endkampf mit der geduldigen, scharfsinnigen Interpretation einer unvollkommenen Wirklichkeit und mit einer umfassenden Ideologie der Illegalität. Sieben Versuche, in Sebastia zu siedeln, wurden unternommen, und jedes Mal vertrieb die Armee die Eindringlinge. Vor dem achten Versuch, sorgfältig wie eine Militäroperation geplant, wurden Tausende mobilisiert - einschließlich Familien mit Kindern, die auf den Hügel zogen. Die Absicht der Anführer war es, nicht nur gegen eine "schwache", "diasporische", "zurückweichende" Regierung zu demonstrieren, sondern einen umfassenden Schlag auszuführen, der eine Alternative zum demokratischen Rechtsstaat und seinen Institutionen darstellen sollte.

Fleißiger Botschafter

Sharon ernannte sich selbst zum Botschafter von Gush Emunim gegenüber dem politischen System und zum praktischen Umsetzer ihrer messianischen Anschauungen. Zunächst, vor der historischen Niederlage der Linken 1977, stand Sharon Seite an Seite mit den kookistischen Siedlern gegen den Staat Israel. Die erste Regierung Yitzhak Rabins wurde vom Gush mit dem britischen Kabinett während der Mandatszeit gleichgesetzt. Schlimmer noch, die Rückzugspläne der Regierung wurden mit Hitlers Plan, Europa "judenrein" zu machen, verglichen. Sharon war die erste öffentliche Person, die Soldaten dazu drängte, Befehle, Siedler aus illegalen Siedlungen zu evakuieren, zu missachten. Seine Stimme hatte Gewicht aufgrund seiner langen militärischen Karriere und aufgrund des Heiligenscheins, den er als Held, der 1973 den Suezkanal überquert hatte, erlangt hatte. "Das ist eine politische Angelegenheit", erklärte Sharon den Offizieren, das Militär dürfe nicht eingreifen. Dreißig Jahre später befahl er als Premierminster den Befehlshabern der Israel Defense Forces einen eben solchen Akt der Räumung von Siedlungen in Gaza, deren Errichtung er einst unterstützt hatte. Dieses Mal wandten sich die Siedler gegen ihn, und manche riefen die Befehlshaber und Soldaten zum Ungehorsam auf.

Der in Sebastia von Sharon als Sonderberater des Premierministers Rabin erreichte Kompromiss wurde als großer Erfolg für die Siedler gewertet, denn "er öffnete die Tür für Siedlungen in ganz Judäa und Samaria". Tatsächlich war es der erste Schritt zur massiven Besiedlung. Es war zugleich eine wichtige Etappe beim Sturz der Rabin-Regierung. Ihr wiederholtes Nachgeben gegenüber dem Druck der Siedler und die vielen Wohltaten, die auf sie herabregneten, verfehlten ihre Wirkungen bei der Parlamentswahl nicht. Am 17. Mai 1977 kam erstmals in der israelischen Geschichte eine rechte Regierung an die Macht. Gush Emunim hatte eine wichtige Rolle bei dieser Umwälzung gespielt.

Betraut mit dem vergleichsweise nachgeordneten und prestigelosen Amt des Landwirtschaftsministers - der neue Premierminister Menachem Begin hatte sich geweigert, ihm das Verteidigungsministerium zu übertragen -, wandelte Sharon sein Amt und das Komitee für Siedlungsangelegenheiten, dem er vorstand, in ein Schlüsselinstrument zur Einrichtung neuer Siedlungen in den Gebieten um. Weder die Einwände von US-Präsident Jimmy Carter, noch Begins Zögerlichkeit oder die Ansichten seiner Ministerkollegen, die jedes extreme Vorgehen in den Gebieten öffentlich verurteilten, hinterließen Eindruck bei Sharon, dem Newcomer im Likud. Ende September 1977 stellte er dem Kabinett seinen Siedlungsplan vor. Sein Komitee wählte den Ort jeder neuen Siedlung aus, beschloss über ihren Umfang und ihre Größe auf kurze und auf lange Sicht und bestimmte die Körperschaft, die für sie verantwortlich war. Seine Entscheidungen bezogen sich auch auf das Ausmaß der staatlichen Beteiligung bei der Zuteilung von Land, Mitteln für die Infrastruktur und Kosten der Baumaßnahmen. Die massive, systematische Errichtung von so vielen Siedlungen wie möglich in kürzester Zeit, möglichst weit verstreut in der Westbank, war Sharons Modus operandi. Er versicherte seinen Ministerkollegen, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwei Millionen Juden in den besetzten Gebieten siedeln würden.

Innerhalb weniger Jahre wurde die hügelige, steinige Landschaft der Westbank mit Dutzenden von Siedlungen überzogen. Die Samen schienen zufällig gestreut, aber die Hand des Sämannes zielte auf strategische Punkte und auf die Umgebung der großen palästinensischen Städte; nicht eine wurde übersehen. Sharon hatte rasch und entschlossen gehandelt, nicht nur, weil er es schon immer so gehalten hatte, sondern auch im Bewusstsein, dass die Zeit diplomatisch und politisch gegen ihn lief.

Das Land des Sultans

Kurz nach dem historischen Besuch von Ägyptens Präsident Anwar Sadat in Israel, bei dem er mit seiner Friedensrede in der Knesset die Herzen der meisten Israelis gewann, trafen sich Israelis und Ägypter bei einem von den Amerikanern in die Wege geleiteten Gipfeltreffen. Auf dem Tisch lagen Vorschläge für ein Friedensabkommen, die einen Rückzug aus dem Sinai und Autonomie für die Westbank einschlossen. Als Premierminister Begin in Camp David den Autonomieplan diskutierte, entwarf Gush Emunim einen eigenen "Friedensplan": die Besiedlung der Gebiete mit Millionen von Juden. Fast eine halbe Million hatte sich bereits auf palästinensischem Gebiet festgesetzt, mit direkter oder indirekter Hilfe der verschiedenen Regierungen, und Israel wurde in eine Besatzung getrieben, die seine Existenz und Legitimität untergräbt.

Als der Oberste Gerichtshof 1979 von palästinensischen Bewohnern angerufen wurde, deren Land "aus Sicherheitsgründen" (ein Euphemismus für die Siedlungen) beschlagnahmt worden war, urteilte der High Court of Justice erstmals, im Fall von Elon Moreh, dass die Besatzungsbefehle der Armee gegen palästinensisches Land null und nichtig seien und dass die Siedlungen geräumt werden müssten. Vor allem die Siedler verstanden die Implikationen dieses Rechtsspruchs, der als "Elon-Moreh-Urteil" in die israelische Siedlungs- und Rechtsgeschichte eingehen sollte. In einer beispiellosen Erklärung analysierten die Verfasser von Gush Emunim den Rechtsstatus der besetzten Gebiete und der Siedlungen. Obwohl dieses Dokument dafür bestimmt war, die Rechtslage in Frage zu stellen, enthüllte es eine Wahrheit, welche die israelische Gesellschaft lange nicht anerkennen wollte. "Israel hat ein Besatzungsregime in Judäa, Samaria, dem Jordantal und dem Gazastreifen errichtet", hieß es. "Unter internationalem Recht kann es nur dann zu einer Militärherrschaft kommen, wenn die Besatzungsmacht fremdes Land betritt, das ihr nicht gehört (...). Die Besatzungsmacht herrscht über ein solches Gebiet nur mit zeitlicher Begrenzung, bis zum Frieden (...). In fremdem Gebiet, das besetzt worden ist, darf die Besatzungsmacht keine Fakten schaffen: Sie (...) darf ihre eigene Bevölkerung dort nicht ansiedeln, sie darf kein Land enteignen, sie darf nur das tun, was notwendig ist, um die Besatzung aufrecht zu erhalten und was zur Versorgung der ansässigen Bevölkerung notwendig ist."

Durch die Anwendung des Besatzungsrechts im Herzen von Eretz Israel, hieß es anklagend in dem Dokument, hätten die Regierungen anerkannt, dass "Judäa und Samaria, von unserem Standpunkt aus, fremdes Land ist, das besetzt worden ist (...). Unsere Anwesenheit in Judäa und Samaria ist nur befristet." Weiter heißt es: "Mit dem Elon-Moreh-Urteil [hat der Oberste Gerichtshof formuliert, I.Z.], dass die militärischen Erforderlichkeiten zeitlich begrenzt seien und dass deshalb keine weitere, permanente Besiedlung (...) vorstellbar ist (...)." Deshalb, so die Siedler, "ist dem gesamten jüdischen Siedlungsvorhaben in den befreiten Gebieten der Boden unter den Füßen entzogen worden. Das Schicksal von 20 000 neuen Siedlern, die Millionen von israelischen Pfund, die in die Sicherheit Israels, das ohne Judäa und Samaria nicht verteidigt werden kann, investiert wurden, das Schicksal der vertrautesten und geliebtesten Stellen unseres Heimatlandes - all das hängt nun in der Luft, wie Chagall-ähnliche Diasporabilder, ohne Land."

Mit Hilfe des Rechtssystems wurde ein Weg gefunden, das Urteil des Obersten Gerichtes zu umgehen. Die Wiederbelebung des Landrechts aus dem Osmanischen Reich von 1858 ermöglichte einen umfassenden Wandel des Status des Landes in der Westbank, indem weite Gebiete zu "Staatsland" erklärt wurden. Dem osmanischen Status gemäß gehört Land, dessen Besitzer nicht ermittelt werden kann, dem Sultan. Der "Sultan" der besetzten Gebiete ist seit 1967 die israelische Regierung. Die besten und hellsten Köpfe in Israels Rechtssystem machten sich daran, große Gebiete, fast die Hälfte der Westbank, zu "Staatsland" zu erklären, um Land für jüdische Siedlungen für mindestens ein Jahrhundert im Voraus bereitstellen zu können. Dadurch beraubte Israel die Palästinenser ihres kollektiven und ihres öffentlichen politischen Lebens. Im Ergebnis wurde die Westbank in den 1980er Jahren mit einem Teppich aus Dutzenden neuer jüdischer Siedlungen überzogen, nicht nur, um die Vision und die Ideologie von "Großisrael" zu erfüllen, sondern auch, um die jüdische Besiedlung unumkehrbar zu machen.

Angst vor dem Frieden

Der Friedensvertrag mit Ägypten und die Enthüllungen über eine jüdische Terrorgruppe Mitte 1980er Jahre, die geplant hatte, die Moscheen auf dem Tempelberg zu sprengen, trafen Gush Emunim empfindlich. Die Organisation, die sich einst aus einer Politik der Angst und des Säbelrasselns gegründet hatte, konnte nicht überleben, wenn sie mit der Möglichkeit des Friedens in einem Klima der Verhandlungen konfrontiert wurde. Die Tage des Sturm und Drang waren vorüber, und die Mühen des Alltags hatten sie ersetzt.

Doch die Siedlungen schossen auch nach dem Machtantritt der Regierung der Nationalen Einheit aus dem Boden, wenn auch in verringertem Umfang. Der Zerfall der Regierung im Jahr 1990 und die Bildung einer Rechtskoalition beseitigte alle Hemmungen. Riesige Finanzmittel wurden über Mittelsmänner in die Siedlungen transferiert. Gewöhnliche Israelis, die ihre Häuser ausbauen und ihre Lebensqualität verbessern wollten, wurden durch "Deals" in die Gebiete gelockt: freies "Staatsland" für alle Neuankömmlinge, zinslose Kredite, die sich nach wenigen Jahren in Zuschüsse verwandelten, Ausbau der Infrastruktur zur Wasser- und Elektrizitätsversorgung, bessere Schulen, bessere Verteidigung - alles kostenfrei. Nach und nach übernahmen viele der neuen Siedler die ideologischen und religiösen Rechtfertigungen dafür, in geräumigen Häusern zu wohnen, die nur ein Viertel des in Israel Üblichen gekostet hatten, und sie assimilierten sich mit der heiligen Herde.

Die Versuche der 1992 nach der Rückkehr der Arbeitspartei an die Macht zustande gekommenen zweiten Regierung Rabin, neue Wege zu gehen, und die historische Unterschrift unter dem Oslo-Abkommen in Washington im September 1993 trugen zur Wiederbelebung des Gush bei, der einen erbitterten Krieg gegen Rabin entfacht hatte, um ihn persönlich und politisch zu diskreditieren. Eine noch nie da gewesene Kampagne koordinierter Empörung trug zu einem Klima bei, das am 4. November 1995 in der Katastrophe der Ermordung eines israelischen Premierministers durch einen israelischen Bürger gipfelte.

Nun änderte sich tatsächlich die Richtung der Politik, allerdings nicht so, wie es sich Rabin erträumt und wofür er gearbeitet hatte. Seine Nachfolger kehrten zur Politik der Kapitulation vor den Erpressungen der Siedler zurück - im Wissen um das Schicksal desjenigen, der es gewagt hatte, ihren Forderungen entgegenzutreten, und der Israel aus ihrem Würgegriff befreien wollte. Täglich wurden neue Siedlungen an strategischen Punkten errichtet, verbrämt als "Nachbarschaften" oder als Außenposten. Die "erweiterte" Bevölkerungszahl der Siedlungen, einschließlich der "Nachbarschaften" um Jerusalem, verdoppelte sich in den Jahren von 1996 bis 2005.

Auch während der Amtszeit von Ehud Barak von der Arbeitspartei, der 1999 mit einem Wahlprogramm des Friedens Erfolg gehabt hatte, dehnten sich die Siedlungen weiter aus. Die Fragmentierung und Zerstückelung der palästinensischen Gebiete aufgrund der Siedlungen, die Straßensperren und die willkürliche "Sicherheitsbarriere", die Israel auf palästinensischem Gebiet errichtet hat, verhindern jedes Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Palästinensern, von demokratischen Einrichtungen, gesellschaftlichen Strukturen und Solidarität nicht zu reden. Rechte und Linke, Sharon und Barak, waren gleichermaßen blind gegenüber der Wirklichkeit der Siedlungen und der Besatzung den Gebieten, und sind in gleicher Weise mitverantwortlich für den Beginn der palästinensischen Intifada im Herbst 2000.

Obwohl die Siedler einen schmutzigen Krieg gegen Sharons Abzugsplan aus Gaza führten, mit grotesken Holocaust-Vergleichen und apokalyptischen Drohungen ihrer Rabbis, sind sie sich über die Unterschiede zwischen den Absichten Rabins und Sharons Plan dreizehn Jahre danach im Klaren. Denn hinter der offenen Konfrontation über die Siedlungen im dicht besiedelten Gazastreifen und im Zentrum der Welle des Hasses, welche die Siedler in den Monaten und Jahren vor dem israelischen Rückzug aus Gaza gegen Premierminister Sharon entfacht hatten, stimmen die Ziele der Siedler und Sharons noch immer überein: die Existenz einer größtmöglichen Anzahl von Siedlungen in der Westbank und die Bewahrung und der Ausbau der großen Siedlungsgebiete, die jede Möglichkeit verhindern, einen lebensfähigen und zusammenhängenden palästinensischen Staat zu schaffen.

Auch nachdem sich Sharon den Kräften der Natur ergeben hat und auf eine fast mythische Weise aus dem politischen Leben entschwunden ist, hat sich sein Plan, jede Bewegung zum Frieden und jeden Schritt zur Räumung der Siedlungen in der Westbank einzufrieren, als erfolgreich erwiesen. Der Dämon der Siedlungen sucht sowohl die israelische wie die palästinensische Gesellschaft weiter heim; große Mehrheiten beider Gesellschaften kennen keine andere Realität und können sie sich auch nicht vorstellen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Georg Golz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zum Folgenden Idith Zertal/Akiva Eldar, Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, München 2007; vgl. auch Idith Zertal, Nation und Tod, Göttingen 2003.

  2. Yair Ettinger, For stricken yeshiva, trauma of terror attack likely linger, in: Haaretz (English Edition) vom 9.3. 2008.

  3. Friday Evening News Program, Channel 10, 7.3. 2008.

  4. Zvi Yehudah Kook, In the Public Debate, S. 112, zit. nach: Aviezer Ravitzky, Messianism, Zionism and Jewish Religious Radicalism, Chicago 1996, S.131.

  5. Zit. nach: ebd., S. 80.

  6. Artikel 49 der 4. Genfer Konvention lautet: "The Occupying Power shall not deport or transfer parts of its own civilian population into the territory it occupies." Israel ratifizierte die Genfer Konventionen im Juli 1951.

  7. Interview mit Generalleutnant Moshe Yaalon, in: Yedioth Aharonoth, Weekend Magazine, vom 4.7. 2003.

  8. State Comptroller's Report on the Subject of the Seamline Zone, Jerusalem, Juli 2002, S. 36.

  9. Ma'ariv correspondent, Sharon: Mess up Kissinger's Visit, in: Ma'ariv vom 3.3. 1975.

  10. Jesajah 8:10.

  11. So die Führer der Siedler Hanan Porat, Benny Katzover und Menahem Felix, zit. nach: Shlomo Nakdimon/Arieh Tzimuki, The Protocols of the Mediators of Kadum, in: Yedioth Aharonoth vom 30.4. 1976.

  12. The Land Trap: The Legal Situation. Gush Emunim document pursuant to the Elon Moreh ruling, Dezember 1979 (Hervorhebungen im Original).

  13. Vgl. Onn Levy, Secret Government Decision: Free Land in Judea-Samaria-Gaza, in: Davar vom 26.7. 1991.

  14. Vgl. In Lieu of an Editorial, in: Nekuda, 169 (1993) June, S. 11.

Professor - Ph. D. - of Contemporary History und Essayistin; Visiting Professor für Geschichte am Institut für Jüdische Studien der Universität Basel/Schweiz.
E-Mail: E-Mail Link: Idith.Zertal@unibas.ch