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Habe ich es geschafft? | "Wir schaffen das" | bpb.de

"Wir schaffen das" Editorial Habe ich es geschafft? "Wir schaffen das!" Vom Entstehen und Nachleben eines Topos "Die Geschehnisse des Septembers 2015". Oder: Sprachkämpfe um die Flüchtlingskrise "Wir schaffen das" oder "revolutionäres Bewusstsein"? Überlegungen zur Willkommenskultur 2015 Vor dem 5. September. Die "Flüchtlingskrise" 2015 im historischen Kontext Die Asylkrise 2015 als Verwaltungsproblem Kommunen in der Pflicht? Fluchtzuwanderung als Innovationsmotor für kommunale Integrationspolitik

Habe ich es geschafft?

Dima Al-Bitar Kalaji

/ 10 Minuten zu lesen

Es heißt wieder einmal "Wir schaffen das" in Deutschland, jetzt, wo Covid-19 unser Leben auf den Kopf stellt, meist mit dem Zusatz: "gemeinsam!" Denn viele Institutionen möchten sich dem Virus wie einem gemeinsamen Feind entgegenstellen, deshalb heißt es jetzt allenthalben: "Alle zusammen gegen Corona!" Das Virus lässt sich nun einmal nicht so leicht in abgelegenen und abgeschlossenen Zeltlagern isolieren wie erschöpfte Flüchtlinge an den Küsten Europas, also isolieren wir uns von ihm. Wie sich andere Menschen unter Kontrolle halten lassen, damit gibt es einfach viel mehr Erfahrung als mit einem Virus, das uns zu Hause einsperrt und vielen im Wortsinn die Luft zum Atmen nimmt.

Ich weiß, es ist etwas vorlaut von mir, Viren und Flüchtlinge zu vergleichen – aber ist die Angst vor dem "unbekannten Eindringling" nicht in beiden Fällen ähnlich? Grenzen werden geschlossen, die Einreisenden werden penibel gezählt und registriert, es gibt tägliche Statistiken und große Furcht vor plötzlich steigenden Zahlen, das Thema ist die Nummer eins in allen Nachrichtensendungen, und das Land ist gespalten zwischen Solidarischen, Ablehnern und Ängstlichen. Ende Mai 2020 warnte Gesundheitsminister Jens Spahn vor einer Polarisierung wie zur Zeit der Flucht- und Asylkrise 2015; so etwas dürfe sich keinesfalls wiederholen.

Seit der Corona-Krise ist Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder auf der Höhe ihrer Beliebtheit, bei jeder Äußerung und jedem Auftritt wird sie für ihre Ruhe gelobt und wird ihr Krisenmanagement, insbesondere im Vergleich zu anderen Regierungschefs, gepriesen. Sie wandte sich sogar direkt an die Öffentlichkeit, um vor unsinnigen Hamsterkäufen zu warnen. Zugleich verlor dieselbe Kanzlerin in diesem Jahr noch kaum ein Wort über die nächste "Flüchtlingskrise" an den griechischen Küsten. Nur anlässlich eines deutsch-griechischen Wirtschaftsforums sagte sie Anfang März: "2020 ist nicht 2015." Damit machte sie allen Sorgen ein Ende, sie könnte, wie 2015, noch einmal die Grenzen öffnen und sagen: "Wir schaffen das." Dafür hatte sie zwar anfangs noch Unterstützung gewonnen, und in der Politik, in der Wirtschaft und in der ganzen Gesellschaft zelebrierte man eine "Willkommenskultur", aber der Satz brachte ihr auch eine bis heute anhaltende Welle der Kritik ein.

Das Ergebnis war eine ganze Reihe von Gesetzen und Einschränkungen gegen eine weitere Aufnahme von Geflüchteten, und dennoch kostete der in Teilen der Bevölkerung verbreitete Unmut die CDU in Umfragen und Wahlen viele Stimmen. Hätten die Eingewanderten damals wählen dürfen, wäre Merkel freilich die große Gewinnerin gewesen, denn auf Seiten der Geflüchteten war die Stimmung genau umgekehrt: Sie warteten auf jeden Auftritt und jede Äußerung der Bundeskanzlerin wie auf ein Wort der Götter. Merkel war die, die ihnen quasi ein neues Leben schenkte, ihre Beliebtheit stieg mit jedem Lächeln, das sie spendete, mit jedem Selfie, das sie vor Asylbewerberheimen machen ließ, und mit jedem Schawarma, in das sie hier oder da einmal biss. Man schöpfte Lebensmut aus jedem Satz, den sie sprach, denn wer sollte den Geflüchteten nun noch etwas anhaben, wenn sie die mächtigste Frau Europas auf ihrer Seite hatten? Niemand würde in einen Zug oder auf ein Schiff steigen müssen, um die Rückreise anzutreten, und nur die, deren Familien noch auf der anderen Seite des Mittelmeeres ausharrten, beobachteten argwöhnisch jede von Merkel auch nur angedeutete Änderung des politischen Kurses.

Das Eis oder das Herz brechen

Trotz aller guten Absichten, die es 2015 in Deutschland gab, hatte ich kaum je zuvor das Gefühl, dass meine Menschlichkeit so litt wie gerade damals. Überall wurde ich gefragt, wie ich denn als Syrerin nach Deutschland gekommen sei – aber sobald der oder die Fragende erfuhr, dass ich schon seit 2013 hier wohne, mit einem regulären Visum eingereist bin und mehr oder weniger in stabilen Verhältnissen lebe, kühlte das Interesse schlagartig ab.

Es blieben Fragen wie: "Wie gefällt es dir hier in Deutschland?" – "Wirst du wieder nach Syrien gehen?" – "Wann kehrst du zurück?" – "Sprichst du Deutsch?" – "Woher kannst du so gut Englisch?" – "Hattest du einen Kulturschock, als du hier ankamst?" – "Wie war es für dich, dein Kopftuch abzulegen?" (Ich habe nie Kopftuch getragen, aber wie selbstverständlich werde ich als Muslimin eingeordnet, und viele gehen davon aus, dass alle Syrerinnen ihr Haar bedecken.) – "Bereust du den Aufstand in Syrien nicht jetzt, wo ein Krieg daraus geworden ist?" Es waren Fragen, die vielleicht das Eis brechen sollten, die mir aber oft genug das Herz brachen. Allen, denen ich begegne oder mit denen ich arbeite, muss ich bis heute solche Fragen beantworten. Krieg, Flucht, Exil, Sprache: In dieses Viereck werde ich immer und immer wieder zurückgeworfen. Selbst die Ärztin, die mir mit einem Ultraschallgerät über meinen Bauch strich, sprach dabei über Syrien: Pässe, Grenzen, Politik – als Vertreterin der syrischen Sache musste ich all ihre Fragen beantworten, auch wenn mir dabei die ersten Herzschläge meiner Tochter entgingen. Ich traute mich nicht zu sagen, dass sie mich doch bitte nichts mehr fragen möge.

Damals dachte ich noch, ich müsste bei jeder Gelegenheit begründen, warum ich hier bin. Wie Hunderttausende anderer Geflüchteter hatte ich Schuldgefühle. Ich dachte, Verrat an mir selbst und an dem Land begangen zu haben, in dem ich geboren wurde und das meine Heimat hätte sein und bleiben sollen. Für dieses Land gab es eine Chance, die ich und viele andere "Revolution" nannten und an die ich glaubte, bis ich flüchten musste, um mich zu retten. Ich musste die im Stich lassen, die zurückblieben – auf Friedhöfen, in Gefängnissen, in Flüchtlingslagern, in ihren Häusern oder auf der Straße. Ihnen gegenüber hatte ich nun, wenn ich schon selbst nicht hatte bleiben können, die Verantwortung, zu beweisen, dass ich sie nicht vergessen und nicht kapituliert hatte. Meine Stimme musste ihre sein, ihre Geschichten musste ich erzählen, und um das zu tun, musste ich das Vertrauen und die Empathie meiner deutschen Mitmenschen gewinnen und ihnen erklären, warum wir hierher fliehen mussten. Doch in Deutschland erwartete man vor allem Dankbarkeit von mir, überhaupt hier sein zu dürfen. Ich sollte mich bitte wohlfühlen und froh sein, hier Rettung gefunden zu haben, nachdem ich in meinem Land zum Opfer geworden war. Außerdem sollte ich mich schnellstmöglich integrieren und produktiv werden.

Nicht nur mir ging es so. Jede und jeder Geflüchtete, die oder der einen Fuß nach Deutschland gesetzt hatte, fühlte sich als Botschafter ihres oder seines Landes und als Vertreter aller Geflüchteten, und alle Syrer wollten ein möglichst positives Bild von Syrien über die dortige Geschichte, die Gesellschaft, die guten Sitten und die Sehenswürdigkeiten vermitteln. Wir entwarfen ein Idealbild, das es so nie gab und nie geben wird. Aber wenn wir unser Land schon verloren haben, warum sollten wir es dann nicht wenigstens etwas aufhübschen? Zumindest wollten wir uns an die schönen Dinge erinnern und hofften, dass uns das in den Augen der Deutschen akzeptabler machte.

Deshalb wurde auch jedes Verhalten eines Flüchtlings von anderen Flüchtlingen kritisch beäugt, und wer einen Fehler machte, wurde gerügt. Man distanzierte sich von ihm und ächtete ihn, schließlich konnte die deutsche Gesellschaft von den Verstößen Einzelner auf alle Syrer schließen, und auf Facebook gab es endlose Kommentare wie: "Ihr schadet unserem Image, ihr bringt unser Asyl in Gefahr, wenn ihr dies und das macht!" Gleichzeitig feierten wir übertrieben jede Erfolgsmeldung. Flüchtlinge, die etwas geschafft und sich integriert hatten, taugten als Werbung sowohl unter den Geflüchteten selbst als auch für die Öffentlichkeit, und ihre Geschichten wurden breit gestreut. Zum einen wollte man so schlechten Nachrichten und den negativen, stereotypen Annahmen über "die Flüchtlinge" etwas entgegensetzen, zum anderen wollte man sich Mut machen, sich ins rechte Licht rücken und der Gegenseite beweisen, dass man zur Integration fähig sei.

Was aber ist Integration eigentlich? Deutsch zu beherrschen, Steuern zu zahlen, einen deutschen Lebensstil zu führen? Wurst essen und Bier trinken? Einen Mann daten, der weiße Socken in Sandalen trägt? Jeden Sonntag "Tatort" gucken? Ich glaube nicht, dass man die Frage, was deutsche Lebensweise ist, seriös beantworten kann. Denn deutsch zu sein, kann ebenso heißen, sich jugendlich-anarchistisch zu geben oder als alte Spießerin in einem Dorf zu wohnen. Ich ziehe es vor, dass das Land, in dem ich lebe, multikulturell und vielfältig ist und viele Lebensweisen und individuelle und soziale Freiheiten ermöglicht. Viele Geflüchtete wollten unbedingt ein glänzendes Bild von sich und ihrem Herkunftsland abgeben, um damit Klischees entgegenzutreten, und später verlangte man von ihnen geradezu, sich an dieses Bild zu halten – wodurch neue Klischees entstanden. So, wie man im Ausland vielfach vom Oktoberfest auf ganz Deutschland schließt, wollte man nun auch die neuen Fremden in einen Rahmen pressen.

Ich bin sicher nicht dagegen, dass man das Augenmerk auf Erfolgsgeschichten lenkt und sie hervorhebt, und ich kenne die Schwierigkeiten des Neuanfangs nur zu gut, wenn man materiell und menschlich, psychisch und physisch so viel verloren hat. Ich weiß auch um die Wichtigkeit, Chancen und Unterstützung von Menschen zu erhalten, die es ehrlich mit einem meinen, denn ohne all das könnte ich dies hier nicht schreiben. Aber man sollte Menschen auch nicht abverlangen, dass sie wirtschaftlich erfolgreich sind, um an einem sicheren Ort leben zu dürfen – und als Einzelperson sollte man weder im Positiven noch im Negativen für das eigene Kollektiv verantwortlich gemacht werden. Es stellte sich aber bald heraus, dass die Angst vieler Geflüchteter, die "Willkommenskultur" könnte durch das Verhalten einiger von ihnen beschädigt werden, berechtigt war. Es war eben auch keine Kultur, die damals entstand, sondern erst einmal der Beginn einer solidarischen Bewegung, die die Grundlage für die Entwicklung einer solchen (gewesen) sein könnte; eine genuine Kultur entsteht und vergeht nicht so schnell.

Nach den massenhaften Übergriffen in der Silvesternacht von Köln 2015/16 flaute die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten in Deutschland ab, und dieselben Ereignisse ebneten der AfD 2017 den Weg in den Bundestag. Manche sprachen von den AfD-Wählern als ehemalige Unionsanhänger, die von Merkels Politik enttäuscht seien. Jedenfalls sind es Menschen, die sich eher mit Forderungen anfreunden können, das Asylrecht aus dem Grundgesetz zu streichen und es in ein Gnadenrecht umzuwandeln – und sich damit als Erben einer Zeit entblößen, die sich in Deutschland vermeintlich nie wiederholen sollte. Ein deutscher Freund, der 2015 Geflüchteten sehr engagiert geholfen hatte, erklärte mir nach der Bundestagswahl 2017, es werde schon nicht so schlimm werden mit der Polarisierung wegen der Geflüchteten, die Leute seien einfach nur erschöpft davon, überall endlose Schlangen von Fremden zu sehen. Ich fand es seltsam, dass der Anblick von Warteschlangen oder Flüchtlingstrecks anstrengender sein sollte, als darin zu stehen.

Die Solidaritätswelle in der deutschen Gesellschaft und die Hilfsbereitschaft von Einzelnen, von Vereinen und vom Staat waren tatsächlich eindrucksvoll. Viele Menschen haben sich sehr um die Geflüchteten bemüht, sei es, indem sie vor der Asylbehörde Wasser an die Wartenden verteilten, Familien bei sich einziehen ließen oder für sie demonstrierten. Das alles war sehr freundlich. Mir fiel lediglich auf, dass man über die, die in Deutschland nun eine "Krise" auslösten, eigentlich schon seit Jahren Bescheid gewusst hatte. Man kannte ihr Leid und wusste, dass sie in ihren Ländern systematisch unterdrückt und mit allen Arten von Waffen beschossen wurden – aber solange diese Menschen weit weg waren, hatte man das Problem weitgehend ignoriert und keine Krise nach ihnen benannt.

Privileg oder Recht?

Ich muss gestehen, dass ich das Datum, ab dem ich einen deutschen Pass beantragen konnte, herbeigesehnt habe, insbesondere seit ich 2016 für meine in Deutschland geborene Tochter ebenfalls Asyl beantragen musste. Die Kleine erbte damit das Schicksal ihrer Eltern, noch bevor sie unsere Gesichter kannte. Im Dezember 2019 hatte ich schließlich lange genug hier gelebt, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, aber ich ließ den Antrag zunächst fast sechs Monate lang liegen, weil mir der Wechsel der Nationalität viel Nachdenken abverlangte. Ich zerbrach mir wieder mal den Kopf über Dinge wie Identität, Heimat, Exil und Zugehörigkeit und darüber, ob das alles überhaupt bedeutsam ist. Als ich die erforderlichen Unterlagen schließlich eingetütet hatte, wurde aus einem routineartigen Ämtergang plötzlich ein großes Ereignis. Ich sagte einem Freund am Telefon, ich könne ihn heute treffen, ich müsse nur noch ins Rathaus, um meinen Einbürgerungsantrag abzugeben. Ganz begeistert schlug er vor, er würde mich bei diesem "historischen Moment" begleiten. Er kam dann mit zwei weiteren Freunden, und so warfen wir den Umschlag zu viert in den Briefkasten.

Meine Hoffnung ist, dass die deutsche Staatsbürgerschaft meiner Tochter weniger Identitätsprobleme bereiten wird, dass sie einen Pass haben wird, mit dem sie leichter reisen kann und mit dem sie auf Flughäfen weniger kritisch angesehen wird. Außerdem wird sie wählen können. Ich habe in meinem Leben noch an keiner Wahl teilnehmen können. Bei Wahlkämpfen in Deutschland muss ich an die Straßen in Damaskus denken, wenn die syrische Volkskammer neu gewählt wird: Hier wie dort sind die Straßen dann voll mit den Bildern der Kandidaten und ihren Parolen, nur dass in Deutschland keine Stofftransparente zum Einsatz kommen, die wie bunte Leichentücher aussehen und im Wind knattern und nach der Wahl von syrischen Binnenvertriebenen als Zeltwände benutzt werden.

Bei deutschen Wahlen gefällt mir, wie meine Freundinnen und Freunde hitzig diskutieren und davon sprechen, wie wichtig ihre Stimme ist, dass man sie aber nicht an die Falschen verschwenden darf. Wenn sie die Ergebnisse sehen, sind sie dann häufig dennoch enttäuscht, dass sich doch wieder nichts Grundlegendes ändern wird. Ein Grund sei die zunehmende Wahlmüdigkeit, sagen sie, und dass man die Nichtwähler zur Stimmabgabe motivieren und daran erinnern müsse, wie privilegiert sie hier sind im Vergleich zu Ländern, in denen es keine demokratischen Wahlen gibt. Nein, sage ich dann: Das Wahlrecht ist kein Privileg. Wählen ist kein Geschenk, aus dem man "das Beste machen" sollte. Wählen ist ein Recht, und wenn es einem genommen wird, muss man dafür kämpfen, es zurückzuerhalten. Eine lebendige demokratische Kultur sollte der Maßstab der Dinge sein und das Wahlrecht nicht nur eine Erinnerung daran, wie schön es doch ist, in einem demokratischen Land zu leben.

Sollte ich also bis zur Bundestagswahl 2021 eingebürgert sein und wählen dürfen: Werde ich es dann "geschafft" haben? Ich glaube nicht. Denn etwas geschafft zu haben, bedeutet ja, dass man an einem Ziel angekommen ist und aufhören kann. Und ich will nicht aufhören, ich will weitermachen und mich in Diskussionen einbringen, nicht nur als Echo, sondern als eigene Stimme.

Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth, Berlin.

ist Journalistin und arbeitet als Redaktionsleiterin bei der Berliner Initiative "Wir machen das". Sie hat unter anderem für "Zeit Online" geschrieben und für Deutschlandfunk Kultur die Podcastserie "Syrmania" produziert. Externer Link: http://www.wirmachendas.jetzt