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Die Zukünfte der israelischen Gesellschaft | 60 Jahre Israel | bpb.de

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Die Zukünfte der israelischen Gesellschaft

Fania Oz-Salzberger

/ 17 Minuten zu lesen

Israel hat viele Zukünfte. Welche davon Gestalt annehmen wird, hängt von globalen, regionalen und lokalen Entwicklungen ab.

Einleitung

Vorhersagen sind ein riskantes Geschäft, umso mehr, wenn es um Israel geht. Gemäß der jüdischen Tradition ist die Gabe der Prophezeiung seit der Zerstörung des Tempels den Narren vorbehalten. Im neuzeitlichen Verständnis wird Futurismus entweder dem Reich der Phantasie und der Fiktion zugeschrieben, oder er steht für einen Zweig der Sozialwissenschaften. Ich gehöre keiner der beiden Lehrmeinungen an. Daher ist die folgende Exkursion in die Zukunft, oder eigentlich müsste man sagen die Zukünfte, der israelischen Gesellschaft genau genommen ein Versuch, die Gegenwart zu kommentieren.



Israel hat viele Zukünfte. Welche davon Gestalt annehmen wird, hängt von globalen, regionalen und lokalen Entwicklungen ab, von denen manche einigermaßen vorhersagbar, andere unvorhersagbar sind. In gewissem Maße hängt Israels Zukunft natürlich von den Israelis ab, obwohl es unmöglich ist, dieses Maß zu benennen. Dennoch ist die Verantwortung der Israelis für ihre gemeinsame Zukunft ein faszinierenderes Thema als, beispielsweise, die entsprechende Verantwortung der Schweden. Wegen seiner sensiblen, komplizierten und einzigartigen globalen, regionalen und lokalen Situation kann in Israel die Rolle der Staatsbürger als Individuen oder als Kollektiv von entscheidender Bedeutung sein.

Es ist schwer vorstellbar, dass ein schwedischer Bürger die Zukunft seines Landes tief greifend verändert, indem er einen politischen Mord begeht. Im September 2003 wurde die schwedische Außenministerin Anna Lindh erschossen. Das war ein schreckliches Verbrechen, eine menschliche Tragödie, die öffentliche Empörung auslöste, aber man wird kaum feststellen können, dass dieser Mord den Lauf der schwedischen, skandinavischen oder europäischen Geschichte verändert hat.

Im Fall Israel ist das völlig anders. Im November 1995 schoss ein Jurastudent namens Yigal Amir, ein praktizierender Jude und zutiefst idealistischer Nationalist, Premierminister Yitzhak Rabin dreimal in den Rücken. Amir veränderte die Geschichte Israels grundlegend und auf allen Ebenen: global, regional und lokal. Mit seiner Tat durchkreuzte er Rabins Bemühungen, ein Friedensabkommen mit den Palästinensern zustande zu bringen und israelische Geschichte zu schreiben. Sowohl Rabin als auch Amir taten, auf unterschiedliche Weise, alles, was in ihrer Macht stand, um als Individuen die Geschichte ihres Landes mitzubestimmen, und die Bedeutung ihres Handelns liegt darin, dass es unmittelbare Auswirkungen auf die sensible, völlig offene, auf dramatische Weise situationsabhängige Lage Israels hatte.

Meine Szenarien für die Zukunft der Israelis müssen solche Beispiele individueller menschlicher Intervention in den Lauf der Ereignisse unbedingt ausschließen. Aufgrund der großen Trends, die man aus diesem unerwartet aufgetretenen Fall herauslesen kann, ist es allerdings möglich, Aussagen über die Zukunft zu machen. Der Friedensprozess, dem sich Rabin verschrieben hatte, der Oslo-Prozess, ist bis heute fest in der israelischen Öffentlichkeit verankert. Amirs Entschlossenheit, diese Initiative zu stoppen, kam aus seinen rechtsradikalen religiösen Überzeugungen, und seine Tat ist daher vor allem in politischem und kulturellem Kontext zu sehen. Wir können unerwartete Einzelaktionen zwar nicht zur Gänze ergründen, aber die Tendenzen nachzeichnen, denen sie entspringen.

Heute ist Israel eine 60-jährige souveräne, liberale Demokratie, nach Eigendefinition ein jüdischer und demokratischer Staat. Es ist auf einem internationalen Konsens begründet, ratifiziert durch den UN-Beschluss aus dem Jahre 1947, obwohl sein Territorium seit dem Sieg nach dem arabischen Angriff 1948 größer ist als seinerzeit von der UNO zugesprochen. Es wird von der großen Mehrheit der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft anerkannt, unterhält strategische Partnerschaften mit wichtigen Weltmächten, darunter vor allem die USA und Deutschland, und ist durch formelle Handels- und Kooperationsabkommen mit bedeutenden internationalen Kräften, im Besonderen den USA und der EU, verbunden. Israel hat die Last einer 41-jährigen Besatzung zweier Gebiete mit dichter palästinensischer Besiedlung zu tragen, in denen gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft und selbst vieler Israelis jüdische Siedlungen gebaut wurden. Die Okkupation lässt sich nicht leicht rückgängig machen, in Anbetracht des palästinensischen Anspruchs auf das gesamte Land ("Rückkehrrecht"), der gleichlautenden Forderung der jüdischen nationalen Rechten, die die Siedlerbewegung anführt, und des komplexen Status von Jerusalem.

Die Zukunftsperspektiven für den Staat Israel pendeln zwischen Wunschdenken und Alptraumszenario. Vom strategischen Standpunkt aus gesehen ist eine ganze Skala von Entwicklungen möglich, von einem erfolgreichen Abschluss der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen, die Wohlstand und eine demokratische Entwicklung für die ganze Region ermöglichen, bis zu einem atomaren Angriff durch den Iran oder eine andere muslimische Instanz, einen Staat oder eine Organisation, der die teilweise oder totale Zerstörung Israels zur Folge hat. In der Grauzone dazwischen sprechen Szenarien von einem permanenten Kriegszustand oder periodischen Gewaltausbrüchen zwischen Israelis und Arabern über viele Jahre hinweg.

Vom religiösen Standpunkt aus gesehen (der für viele von Belang ist) könnte Israel ein starkes "Licht für die Nationen" im jüdischen Sinne werden, oder aber ein für den Dschihad zurückgewonnenes Land für die Moslems, oder Schauplatz des Armageddon aus christlicher Sicht. Während sich gemäßigte religiöse Kräfte in unserer Generation für bescheidenere und den Menschen eher entsprechende Zukunftsziele einsetzen, darf nicht vergessen werden, dass die großen eschatologischen Perspektiven zweier der drei großen monotheistischen Religionen - der Moslems und der Christen - radikal, endgültig und in höchstem Maße unvereinbar sind.

Wenden wir uns den möglichen Zukünften der israelischen Gesellschaft zu. Es geht mir nicht darum, strategische Vermutungen anzustellen oder einen messianischen Weg anzubieten, sondern die markantesten Richtungen unter den Israelis aufzuzeigen und zu überlegen, wohin diese Trends führen können.

Nationalisierung

Unser erstes Szenario kann als "Nationalisierung der israelischen Gesellschaft" bezeichnet werden. Es geht von der Möglichkeit aus, dass Israels religiöse Rechte andere soziale oder kulturelle Gruppen dominiert oder verdrängt und ihren Traum von einem größeren Israel, vielleicht auch den damit verbundenen von einem religiösen, jüdischen Israel auf Grundlage der Thora, verwirklicht.

Eine Reihe weiterer erfolgloser Versuche, den israelisch-palästinensischen Friedensprozess voranzutreiben, begleitet von blutigen Terrorangriffen auf zivile israelische Ziele und eskalierende militärische Vergeltungsschläge durch israelische Sicherheitskräfte, haben unvermeidlich zur Folge, dass die Wählerschaft zu den Parteien rechts der Mitte tendiert. Keine Partei, die eine Evakuierung der jüdischen Siedlungen auf der Westbank oder einen territorialen Kompromiss mit den Palästinensern in ihrem Programm hat, könnte genug Stimmen erzielen, um eine Koalitionsregierung anzuführen. Die Arbeitspartei spaltet sich, und ihre Mitglieder verteilen sich auf die militaristische Rechte und die Bürgerrechtsparteien links von der Mitte und bilden eine Opposition von zunehmend marginaler Bedeutung.

Aus demographischer Sicht liegt diesem Szenario das rasche natürliche Bevölkerungswachstum unter der religiösen Rechten zugrunde, sowohl innerhalb Israels international anerkannter Grenzen als auch in den Siedlungen auf der Westbank. Diese Wählerschaft, die innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten zwanzig bis dreißig Prozent der Wahlberechtigten ausmachen wird, wird noch verstärkt durch gleichgesinnte Mitglieder zweier anderer Gruppen: der ultraorthodoxen Juden und der nationalistisch gesinnten Mehrheit der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachkommen. Schließlich und endlich rücken Tausende andere Israelis, die nach jahrelangen Terrorangriffen müde und abgestumpft sind und nicht mehr an die allem Anschein nach vergebliche Friedensrhetorik glauben, von der politischen Mitte nach rechts und schließen sich einer militaristischen Weltanschauung an. Die rechte Mehrheitsregierung nimmt zuallererst eine Reform des Regierungssystems in Angriff. Ihr erstes und vorrangiges Ziel ist, wie sich schon heute abzeichnet, der Oberste Gerichtshof. Eine parlamentarische Mehrheit ordnet eine umfassende Reform der Judikative an, die in der Schaffung eines neuen Verfassungsgerichtshofes gipfelt, dessen Richter von einem politisch kontrollierten Gremium und nach dem Mehrheitsprinzip bestellt werden. Das bedeutet das Ende des Prinzips der Gewaltentrennung, auf dem Israels Rechtsstaatlichkeit seit seinen Anfängen beruht. Die Gerichte geben ihre bürgerrechtliche Ausrichtung und ihr Bemühen um das Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger auf und nehmen Abstand von ihrer traditionell liberalen Haltung gegenüber den Rechten der Minderheiten, zu denen auch die Araber zählen, und gegenüber Themen wie alternativen Familien und Rechten für Homosexuelle.

Wenn die Orthodoxen in dieser Koalition stark vertreten sind, gibt es wahrscheinlich Schritte in Richtung einer Verfassung, die sich auf die Thora stützt, eines halachischen Rechtsprinzips (Halacha ist der allgemeine Begriff für die orthodoxe jüdische Gesetzgebung). Ein religiöser Kodex ersetzt den derzeitigen Prozess des Schreibens einer Verfassung für Israel. Persönliche Bürgerrechte wie jene auf Heirat und Scheidung, Kindererziehung und alternative Familienformen, die im heutigen Israel eine sehr fortschrittliche, liberale Stufe erreicht haben, werden im Einklang mit der halachischen Gesetzgebung geändert. Geschäfte, Restaurants und Unterhaltungsbetriebe schließen sich den öffentlichen Verkehrsmitteln an und stellen ihren Betrieb am Sabbat und an jüdischen Feiertagen ein. Kleidungsvorschriften, besonders für Frauen, haben Einfluss auf das öffentliche Leben, die Medien und möglicherweise auch die Privatsphäre. Es ist schwer, vorauszusagen, wie weit eine solche Gesetzgebung geht, aber sie wird Israel von seinem Weg einer liberalen Demokratie wegführen und in Richtung einer Theokratie steuern; wahrscheinlich nicht mit gewaltsamen Mitteln der Vollstreckung, wie sie in islamischen Theokratien praktiziert werden, aber mittels einer Gesetzgebung, die den säkularen und liberalen Teil der Gesellschaft zunehmend an den Rand drängt.

Dieses rechtsreligiöse Israel trägt eine kollektive Bereitschaft in sich, die Westbank, das Herzland des biblischen Israel, dem souveränen Staat Israel durch Annexion einzuverleiben. Die Siedler würden in diesem Szenario ihren Traum verwirklicht sehen, als Pioniere das Rückgrat einer großen jüdischen Rückkehr in das angestammte Land der Israeliten zu werden. Wie ist das vorstellbar, angesichts der zwei bis drei Millionen palästinensischen Siedler und einem beinahe weltweiten Widerstand gegen einen solchen einseitigen Schritt?

Im Zusammenhang mit dieser Frage kann sich mein Szenario nur auf die erklärten Visionen einiger führender Politiker der heutigen israelischen Rechten stützen. Die gewaltsame Option sieht die Zwangsevakuierung zehn- oder hunderttausender Palästinenser aus der Westbank oder sogar aus ganz Israel vor. Das kann in Form offener Kriegshandlungen oder eines Guerillakrieges vonstatten gehen. Eine Alternative wäre, dass die Palästinenser in den annektierten Territorien ansässig bleiben dürfen, ihnen jedoch die Bürgerrechte verwehrt bleiben. Die moderateste Option, die in politischen Kreisen schon diskutiert wurde, würde palästinensische Enklaven mit begrenzter Selbstverwaltung und kultureller Autonomie vorsehen, umgeben von jüdischem Land, das ein formeller Teil des Staates Israel werden würde.

Dieses Szenario wird von einer emotionalen Welle messianischen Enthusiasmus' auf Seiten der nationalistischen jüdischen Gemeinde begleitet, die Widerhall bei ihren Anhängern findet. Der Zionismus wird auf eine einzige Bedeutung reduziert: einen machtbezogenen, militaristischen Territorialismus, der sich auf uralte Symbole und modernen religiösen Fundamentalismus stützt. Die moderate zionistische Überzeugung der prominenten Gründerväter Israels, die einen territorialen Kompromiss und ehrenhaften Frieden mit den arabischen Nachbarn predigten, wird ausgemerzt.

Die Auswirkungen eines solchen Prozesses auf die Gesellschaft sind dramatisch. Mehr als die Hälfte der Israelis, nach heutigen Schätzungen, werden zu Fremden im eigenen Land. Die liberale, aufgeschlossene, zumeist säkulare Mitte und Mitte-Links werden dezimiert, demographisch und politisch. Nicht nur ein Großteil der akademischen, wissenschaftlichen, technologischen und professionellen Elite, nicht nur die Nachkommen des alten Arbeiterzionismus, sondern auch viele Mittelklasse-Israelis haben das Gefühl, sie hätten ihr Land verloren. Ihnen bedeutet das Land Israel der Stammväter weit weniger als die moderne liberale Demokratie, die Israel war. Zahlreiche Israelis fühlten sich aus wirtschaftlichen oder moralischen Gründen gezwungen, auszuwandern. Das allein stellt einen tragischen Moment in der jüdischen Geschichte und ein Scheitern des zionistischen Ideals dar, das von den Anhängern des israelischen Nationalismus nicht verstanden wird. Andere beschließen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. In den Worten des in Israel aktuell geführten Diskurses ausgedrückt heißt es, das Land Israel - biblisch, messianisch, atavistisch - habe den Staat Israel - modern, liberal, global orientiert - besiegt. Manche sagen, Jerusalem habe Tel Aviv geschlagen.

Ein Problem bei diesem Szenario ist die Wirtschaft. Das moderne und gemäßigte "mittlere Israel" hat die israelische Wirtschaft auf einen globalen Erfolgskurs geführt, insbesondere dank einer innovativen Hightechindustrie. Paradoxerweise sind es im heutigen Israel die gemäßigten Liberalen, die mit ihren Steuern die finanziellen Mittel für ihre messianischen und fundamentalistischen Brüder bereitstellen. Wenn das nationalistische Szenario Gestalt annimmt, werden die ausländischen Investitionen versiegen, und die talentiertesten unter den wirtschaftlichen Global Players werden Pleite gehen. Jemand wird für die militärischen und politischen Kraftakte der Nationalisten für ein "Großisrael" zahlen müssen, doch Tel Aviv und seine sozioökonomischen Strukturen werden dazu weder in der Lage noch willens sein.

Ein zweites Machbarkeitsproblem ergibt sich aus dem globalen Kontext. Wird es die internationale Gemeinschaft zulassen, dass Israels rechte Mehrheit widerstandslos Gebiete annektieren beziehungsweise Palästinenser zwangsumsiedeln kann? Die Antwort ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nein, und dem Traum von "Großisrael" würde von außen Einhalt geboten, wenn ihm nicht zuvor schon durch das politische System selbst ein Dämpfer versetzt worden wäre. Aber stellen wir uns eine Welt vor, in der die Spannungen zwischen dem Islam und dem Westen weiter zunehmen; oder eine Welt, die wieder auf eine Kalte-Krieg-Situation zwischen Russland und Amerika zusteuert; oder die besorgniserregende Ausbreitung einer neuen Form von christlichem Fundamentalismus sowohl in den USA als auch in Europa, vielleicht als plumpe Antwort auf das Erstarken des Islam in den westlichen Gesellschaften.

In jedem der drei Fälle könnte eine clevere israelische Führung mit messianischen Träumen und realpolitischer Weisheit die Gunst der Stunde nutzen, eine globale Konfliktsituation ausnutzen und sich der Unterstützung anderer Fundamentalisten in einer christlich-jüdischen Allianz versichern, um das Heilige Land zu befreien. Dieses Szenario ist apokalyptisch, aber wenn die richtigen Auslöser und eine günstige internationale Konstellation zusammenkommen, kann die Apokalypse tatsächlich "Now" eintreten.

Ende des jüdischen Staates

Das zweite Szenario bringt das Ende Israels als jüdischer Staat mit sich. Ich beziehe mich nicht auf die Zerstörung Israels durch eine Kraft von Außen, wie zum Beispiel einen iranischen Bombenangriff oder einen extrem gut konzertierten Überraschungsangriff der vereinigten Armeen verschiedener arabischer (und nicht-arabischer muslimischer) Staaten. Diese Entwicklungen sind vorstellbar, doch beziehen sich meine Überlegungen zu alternativen Zukunftsaussichten hauptsächlich auf die Entscheidungen, das Tun und Lassen der israelischen Gesellschaft selbst.

Auch hier ist die Demographie möglicherweise ein Hauptfaktor. Anstatt der rasch wachsenden Wählerschaft der nationalen Rechten und der orthodoxen Juden könnte der entscheidende Faktor die zunehmende Bevölkerungszahl der Palästinenser sein. Schon jetzt weisen die Westbank und der Gazastreifen einen Bevölkerungsanteil auf, der zu den jüngsten der Welt zählt. Dies ist ein Grund, warum die derzeitigen palästinensischen Führer, zweifellos jene der Hamas und möglicherweise auch jene der Fatah, keine Eile haben, einen Friedensschluss mit Israel zu erzielen: Die Zukunft, glauben sie, gehört ihnen. Die nackten Zahlen sprechen dafür: rund sechs Millionen israelische Juden, etwas über eine Million israelische Araber, geschätzte vier Millionen Palästinenser, nach den jüngsten Schätzungen für Gaza (derzeit von Israel "abgekoppelt", jedoch keine unabhängige politische Einheit) und die Westbank. Wenn kein territorialer Kompromiss erzielt wird, gefolgt von der Errichtung eines souveränen Palästina, das durch international anerkannte Grenzen von Israel getrennt ist, werden die Palästinenser die Juden zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan innerhalb von zwei Generationen oder weniger wahrscheinlich zahlenmäßig überflügeln. Das muss nicht der Untergang des jüdischen Staates sein, es sei denn, die Israelis bestehen auf der Westbank. Der gemeinsame Nenner der gemäßigten Kräfte Israels, die eine versöhnliche Haltung einnehmen, besteht in der Notwendigkeit, die besetzten Gebiete zu verlassen, mit oder ohne Verhandlungslösung.

Somit steht unser zweites Szenario fest: Es wird kein Abkommen erzielt, die Palästinenser stützen sich auf die Gewalt der Bevölkerungszahlen, und die Israelis sind nicht fähig, eine politische Entscheidung zu treffen. Wenn die Israelis den Palästinensern aufgrund ihrer Geburtenrate und trotz des beschleunigten Bevölkerungswachstums der nationalistisch-religiösen Rechten Israels zahlenmäßig unterlegen sind (was ein Hindernis für die territoriale Trennung darstellt), wird Israel entweder nicht länger demokratisch oder nicht länger ein jüdischer Staat sein.

Im ersten Szenario haben wir ein imaginäres Israel gesehen, das sich von der Demokratie entfernt. Im zweiten werden die Israelis, entweder durch Krieg oder internationalen Druck, gezwungen, den in der Westbank (und möglicherweise auch den im Gazastreifen) lebenden Palästinensern Bürgerrechte zuzugestehen. Die neue arabische Mehrheit, auch wenn sie sich demokratisch tadellos verhält, wird das Verfassungsgefüge Israels verändern und den jüdischen Staat zwar nicht physisch, doch auf legale Weise ausradieren. Selbst der Name "Israel" wird voraussichtlich abgewählt werden.

Die Auswirkungen einer solchen Transformation der Gesellschaft sind tief greifend. Für einige Juden und viele Araber wird ein Traum wahr - die "Einstaatenlösung", bei der zwei Nationen in einem neutralen Staat zusammenleben. Für die überwiegende Mehrheit der israelischen Juden, einschließlich eines Großteils der säkularen liberalen Linken, würde eine solche Entwicklung eine historische Katastrophe bedeuten. Trotz scharfer intellektueller Wortmeldungen auf Seiten der extremen Linken geht mein zweites Szenario davon aus - Europäer sind sich dessen oft nicht bewusst -, dass so gut wie alle israelischen Juden Zionisten sind. In dem hier verwendeten Sinn ist Zionismus die grundlegende Überzeugung, dass Israel der Staat der Juden ist und sein sollte. Die politische Mitte und Mitte-Links mögen der demokratischen Verfassung Israels gleichermaßen hohe Bedeutung zumessen. Sie mögen die Gleichheit aller Israelis als Menschen und als Staatsbürger im jüdischen Staat betonen. Doch die meisten können sich nicht vorstellen, in einem demokratischen Staat zu leben, der nicht mehr jüdisch oder nicht mehr Israel ist.

Selbst wenn die palästinensische Mehrheit, in der moderatesten Version dieses Szenarios, einen sanften Übergang in eine Zweistaatendemokratie ermöglicht, und selbst wenn die bürgerlichen Freiheiten unangetastet bleiben, werden die Juden dies als Zerstörung biblischen Ausmaßes ansehen, vergleichbar mit dem historischen Untergang des alten Israel. In meinem Szenario werden die meisten Juden das Land verlassen und als Minderheit in gastfreundlicheren Ländern leben. Endlich wäre heilige Ruhe im Nahen Osten eingekehrt. Die Graffiti "Juden, raus aus Palästina", die man in Europa manchmal sieht, sind Wirklichkeit geworden. Gute liberale Seelen - wieder in Europa - werden den Juden gut gemeinte Vorhaltungen machen, weil sie nicht bereit waren, sich in ein glückliches politisches Gemeinwesen mit ihren palästinensischen Brüdern einzufügen. Die internationale Gemeinschaft, müde und überdrüssig, würde vor Erleichterung aufatmen. Vielleicht aber auch nicht. Dieses Szenario kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Jede einzelne wäre ein Prüfstein für eine höchst kontrovers diskutierte Hypothese: Zürnt der Islam dem Westen vor allem wegen der jüdischen Präsenz im Heiligen Land? Wenn dem so ist, wird das Verschwinden des jüdischen Staates diesem Krieg der Zivilisationen ein Ende setzen. Wenn der Konflikt aber weitergeht, sowohl zwischen den Ländern des Nahen Ostens untereinander als auch zwischen den Moslems und dem Westen, würde sich herausstellen, dass ganz andere Uhren tickten, dass die ganze Zeit über, verschleiert durch den israelisch-palästinensischen Konflikt, andere Fronten existiert haben.

Ein anderer entscheidender Test wird, fürchte ich, den Status der Juden in der Diaspora betreffen. Ist ein starkes Israel die Basis für die Sicherheit der Juden in der Welt? Diese Frage wird heiß diskutiert, auch in Israel selbst. Man muss sie noch schärfer formulieren: Wird der Antisemitismus in einer Welt ohne Israel dem Antisemitismus von heute ähnlich sein? Wird er abnehmen oder, im Gegenteil, immer stärker werden und zunehmend ungestraft bleiben? Schlimmer noch: Wenn die Juden gezwungen sein würden, Israel zu verlassen, aus welchem Grund auch immer, wird es ein Land geben, das sie aufnimmt? Eines der stärksten zionistischen Argumente lautet, dass sie nirgendwo sonst hin können. Das war die Raison d'Etre des jüdischen Staates von Beginn an.

Zwei Staaten

Das dritte Szenario führt uns ein jüdisches und demokratisches Israel neben einem souveränen und demokratischen Palästina vor Augen, als Teil eines stabilen und zumeist friedlichen, vielleicht sogar zunehmend demokratischen Nahen Ostens.

Im Laufe der kommenden Jahre nehmen Einzelpersonen den Lauf der Geschichte in die Hand, aber nicht im zerstörerischen Sinn von politischen Attentaten oder Selbstmordanschlägen. Stattdessen stecken die führenden Politiker Israels und des vorwiegend gemäßigten palästinensischen Establishments weiterhin in einem zähen und zum Verzweifeln schwierigen Prozess, ein Abkommen zustande zu bringen, das auf Grundsätzen basiert, mit denen ohnehin schon fast jeder einverstanden ist. Sie ziehen eine Grenze; nahe genug an der international anerkannten Grünen Linie, mit zahlreichen Anpassungen und mit Bedacht darauf, dass die großen jüdischen und palästinensischen Ballungszentren innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen liegen. Das umstrittene Gebiet wird geteilt, sehr zum Verdruss der israelischen Rechten und der palästinensisch-nationalistischen Extremisten. Jerusalem wird geteilt oder gemeinsam kreativ genutzt. Die Palästinenser verzichten nicht auf ihr "Rückkehrrecht", sie halten es als symbolisches Andenken und Relikt vergangener Katastrophen hoch, verzichten aber auf seine Umsetzung. Jetzt und in Zukunft, historisch gesehen, nicht theologisch.

Wenn dieser Prozess Gestalt anzunehmen beginnt, wird die Hölle losbrechen. Arabische Selbstmordattentäter und jüdisch-nationalistische Gewaltverbrecher tun ihr Bestes, um den Lauf der Geschichte zu verändern, um jeden vertrauensbildenden Schritt mit brutalem Blutvergießen zu beantworten und den November 1995 zu wiederholen, als der Frieden zunichte gemacht wurde. Aber es werden andere eingreifen, stark und entschlossen, und mit den Friedensstiftern an einem Strang ziehen. Weltweit werden Politiker und Organisationen mit Entschiedenheit auftreten. Sie werden Israel oder die Palästinenser nicht zwingen, ihre Hand zu ergreifen, aber Unterstützung und Investitionen, Friedenstruppen und Grenzkontrolleinrichtungen in Echtzeit anbieten. Von großer Bedeutung wird sein, dass höchste Politiker - der künftige amerikanische Präsident und vielleicht auch noch einige der gegenwärtigen europäischen Politiker - für beide Seiten klare Worte finden. Sie werden den Israelis sagen, dass ihre nationale Existenz, ihr Überleben als Staat außer Zweifel steht, und sie werden den Palästinensern sagen, dass man sie nicht allein lässt. Wenn man der Masse ihre Furcht nimmt, wirkt man den abscheulichen Verbrechen der Wenigen entgegen.

Noch wichtiger wird sein, dass die öffentliche Meinung weltweit ein Klima schafft, das diesen Prozess fördert. Insbesondere die Europäer werden ihre Stimme erheben, aber nicht in Form von Sanktionen und Boykott, sondern um Unterstützung anzubieten. Indem sie die Ängste und Hoffnungen der israelischen (und der palästinensischen) Zivilgesellschaft erkannt hat, wird die internationale Gemeinschaft vielleicht auch ihre Berufung als Zivilgesellschaft finden. Dieser spezielle Fall von Konfliktlösung ist ein Reifetest nicht nur für Israelis und Araber.

Beide Nationen werden zu Beginn ihrer neuen Nachbarschaft die echten Schmerzen eines physischen Einschnitts empfinden. Wirtschaftliche Innovation wird eine enorme Rolle spielen, und gemäßigte arabische Regime, besonders Jordanien und Ägypten, werden wichtige Partner sein. Israel darf seinen jüngeren Bruder wirtschaftlich nicht kolonisieren, doch könnte die Kluft über viele Jahre hinweg ein echtes Problem darstellen. Es wird Spannungen geben. Ärger. Feindseligkeit. Rassismus. Es wird Rückschritte und Hindernisse geben. Die beiden souveränen Staaten werden einander nicht lieben. Die arabische Minderheit in Israel und vermutlich eine in Palästina verbliebene jüdische Minderheit werden sich mit besonders großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen. Friedens- und Versöhnungskomitees zwischen Juden und Arabern werden kaum aus dem Boden schießen, denn keine der beiden Seiten ist geistig einer solchen Übung in christlicher Vergebung zugeneigt. Aber es wird Frieden und eine umfassende, grobe Form von Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern geben.

Ich hege die Hoffnung, zu erleben, wie dieses dritte Szenario, diese bestimmte, mögliche Zukunft, eines Tages Wirklichkeit wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Doris Tempfer-Naar, Wien/Österreich. Dieser Beitrag ist Teil eines laufenden Forschungsprojektes, das von der German-Israeli Foundation for Scientific Research (GIF) gefördert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Baba Bathra, S. 12b.

  2. Eine Übersicht über Israels internationale Abkommen und Mitgliedschaften gibt das Außenministerium: www.mfa.gov.il/MFA/foreign%20relations/bilateral%20relations (3.4. 2008). Vgl. auch Efraim Karsh, Israel: The First Hundred Years, Bd. 4: Israel in the International Arena, London 2004.

  3. Vgl. zur israelischen nationalen und religiösen Rechten Ehud Sprinzak, The Ascendance of Israel's Radical Right, Oxford 1991, und Idith Zertal/Akiva Eldar, The Lords of the Land: The War for Israel's Settlements in the Occupied Territories. 1967 - 2007, New York 2007.

  4. Zu Verbindungen zwischen dem christlichen Zionismus und der israelischen religiösen Rechten vgl. Zev Chafets, A Match Made in Heaven, New York 2007, und Victoria Clark, Allies for Armageddon: The Rise of Christian Zionism, New Haven 2007.

  5. Vgl. für einen demographischen Überblick The Economist Pocket World in Figures 2008.

  6. Vgl. ebd.; vgl. auch CIA World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook; zuletzt aktualisiert am 6.3. 2008.

  7. Zur "Einstaatenlösung" vgl. Tony Judt, Israel: The Alternative, in: New York Review of Books, 50 (2003) 16, und Yoel Esteron, Who's in Favour of Annihilating Israel?, in: Haaretz vom 28.11. 2003.

  8. Der einzige nahöstliche Staatsmann, der eine solch optimistische Zukunftsperspektive vertritt, ist Israels Präsident Shimon Peres. Vgl. sein Interview mit Wikinews vom 9.1. 2008: http://en.wikinews.org/wiki/Shimon_Peres_
    discusses_the_future_ of_Israel.

DPhil (Oxon.), geb. 1960; Professorin, Leon Liberman Chair in Modern Israel Studies, Monash University, Melbourne/Australien; Senior Lecturer, Faculty of Law and School of History, University of Haifa, Mount Carmel, Haifa 31905/Israel.
E-Mail: E-Mail Link: salzberg@research.haifa.ac.il