Einleitung
Ohne Zweifel wäre es möglich, in der Kulturgeschichte allgemein und speziell in der Literaturgeschichte etliche Beispiele für jenes überraschende Phänomen der Asynchronität zu finden, das darin besteht, dass sich das schöpferische Hoch einzelner Künstler und Schriftsteller nicht mit den Zeiten deckt, in denen es mehr als sonst möglich wäre, die politische und schöpferische Freiheit zu nutzen. Insbesondere im 20. Jahrhundert, in dem viele Länder von langen, durch Diktaturen beziehungsweise totalitäre Regime geprägten Perioden heimgesucht wurden, abgelöst lediglich durch kurze Zeiten relativer Freiheit, wären für einen solchen Algorithmus zahlreiche Beispiele auszumachen.
Aus dieser Feststellung pauschalisierende Schlussfolgerungen zu ziehen, wäre verfehlt. Gewiss könnten wir viele, vielleicht die meisten Künstler und Dichter nennen, die in Zeiten des Terrors, der Unterdrückung und der Unfreiheit verstummt waren, und zwar aus dem plausiblem Grund, dass sie es gewohnt waren, "im Auftrag" zu arbeiten, Akteure des künstlerischen oder literarischen "Betriebs" zu sein - und damit ihren Lebensunterhalt durch künstlerisches oder literarisches Schaffen mehr schlecht als recht zu verdienen. Unter veränderten Rahmenbedingungen bleibt solchen Autoren dann nichts anderes übrig als zu schweigen oder - im schlechteren Fall - einem "gesellschaftlichen Auftrag" anderer Art zu entsprechen und gegen das eigene Gewissen und die eigene Überzeugung anzufangen, für die ideologische Plattform solcher Regime akzeptable Werke zu schaffen und zu veröffentlichen.
Die Tschechoslowakei der Jahre 1948 bis 1989 scheint, bei oberflächlicher Betrachtung, ein Beispiel für ein totalitäres Regime sowjetischer Art zu sein. Sie erscheint als Staat, in dem im Grunde genommen alles der Kontrolle des staatlich-parteilichen Apparates unterworfen ist, wo die hybride Quasilinksdoktrin des so genannten Marxismus-Leninismus zur staatstragenden Lehre, zu einem neuen quasireligiösen Strengglauben, aufgewertet ist. Offenbar wurden in der Tschechoslowakei jener vier Dekaden grundlegende Voraussetzungen erfüllt, um das politische und gesellschaftliche System als "totalitär" bezeichnen zu können.
Bei genauerer Betrachtung ist die Tatsache nicht zu bestreiten, dass es im Rahmen dieses "Totalitarismus" mal mehr und mal weniger freie Phasen gab und dass sogar ein kurzer Zeitraum (Januar 1968 bis April 1969) existierte, während dessen die Machtmechanismen des totalitären Regimes in der Praxis nicht funktionierten oder zumindest stark gelähmt waren, obwohl sie de nomine nie aufgehört haben zu existieren. Neben dieser bedeutsamsten sind auch weniger auffällige Zäsuren in Betracht zu ziehen, die für das Kulturleben nicht weniger folgenschwer waren, so der Tod Stalins 1953, der XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, die Freilassung der Mehrheit der politischen Häftlinge in der Tschechoslowakei 1960/61, die Gründung der Charta '77 Ende 1976/Anfang 1977 und der Machtantritt Michail Gorbatschows in der UdSSR im Jahr 1985.
In welchen dieser abgrenzbaren Zeiträume sind künstlerische und literarische "Untergrundbestrebungen" auszumachen, die im Tschechischen je nach ihrer speziellen Ausrichtung mit podzemní oder aber mit dem in einer bestimmten Zeit ins Tschechische übernommenen englischen Begriff undergroundové charakterisiert werden?
Mit podzemí werden kulturelle Untergrundbestrebungen beschrieben, die inoffiziell, also nicht amtlich erlaubt, vonstatten gingen, und, obgleich es sich nicht unbedingt um Aktivitäten "subversiver", "staatsfeindlicher" oder "gesellschaftsfeindlicher" Art handelte, gleichwohl eo ipso, also unter Berücksichtigung des Selbstverständnisses eines totalitären Systems, de facto für eben dies gehalten wurden, d.h. für illegal. In der Literatur verfügen diese Aktivitäten über keine andere Möglichkeit als das spontane Verbreiten von Texten ohne amtliche Erlaubnis, für das sich die tschechische Sprache spätestens seit Anfang der 1970er Jahre des russischen Begriffs "Samisdat" bedient.
Mit underground wird ein Ausschnitt der Untergrundaktivitäten charakterisiert, und zwar derjenige der 1970er und 1980er Jahre. Zum Symbol derartig spezifizierten Untergrundkulturgeschehens in der Tschechoslowakei wurde insbesondere die Rockband The Plastic People of the Universe und die sich um diese während der 1970er Jahre herum orientierende Gruppierung. Die Bezeichnung entstand infolge ihrer Ausrichtung insbesondere auf die amerikanische "Undergroundszene" der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, d.h. auf einen bestimmten Teil der amerikanischen "Gegenkultur". Kennzeichnend waren antikommerzielle, oft experimentelle Ambitionen in der Massenkultur, vor allem der Rockmusik. In den verbalen Äußerungen ging es vorwiegend um sozialkritische, enttabuisierende, ironische, literarisch stets relevante Bemühungen (man denke an den Einfluss von Frank Zappa mit seiner Band The Mothers of Invention, an Lou Reed mit The Velvet Underground, an Jim Morrison mit The Doors, an Ed Sanders und Tuli Kupferberg mit ihrer Band The Fugs). Die Undergroundbewegung in der Tschechoslowakei war im Vergleich zu den anderen analogen zeitgenössischen Untergrundaktivitäten vermutlich die radikalste, und somit wird eigentlich nur sie für wahrhaft "untergrundartig" gehalten, während andere nichtoffizielle Bestrebungen als "dissident", "parallel" oder "alternativ" qualifiziert werden.
Zeugnis ablegen
Zu Beginn der 1950er Jahre waren zahlreiche Autoren und Schriftsteller "in den Untergrund" geraten. Nicht vielen gelang es, ihre "Untergrundsituation" zu reflektieren und sie für eine größtmögliche schöpferische Freiheit zu nutzen, d.h. Werke zu schaffen, die keine Rücksicht auf die Zensur nahmen, also paradoxerweise solche Werke, die in mancher Hinsicht freier waren als zum Beispiel diejenigen, die von denselben Autoren während der Jahre 1945/48 hervorgebracht wurden, die unmittelbar dem durch die KPC gelenkten Staatsstreich vorausgingen.
Eine Inspiration für die Bewegung der 1970er und 1980er Jahre waren die Werke des Dichters und Grafikers Jirí Kolár, des Prosaschriftstellers Jan Hanc, des Prosaschriftstellers und Dichters Bohumil Hrabal, des Grafikers und Prosaschriftstellers Vladimír Boudník, des Malers und Gelegenheitsautors Mikulás Medek, am meisten jedoch die des Dichters und Philosophen Egon Bondy, der es geschafft hat, mit seinen lediglich im Samisdat herausgegebenen Schriften seit Anfang der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre Kontinuität zu erreichen. Im Unterschied zu anderen nutzte er als Anlass zur Veröffentlichung nicht die relativ gesehen beachtlich freie Zeit der Jahre 1968/69, geschweige denn die vorhergehenden Jahre.
Bei dieser ersten Phase der tschechischen Untergrundkultur, die bereits mehrmals kritisch beleuchtet worden ist,
Ebenso, wie die drastische Einschränkung der Bürgerrechte, welche die tschechoslowakische Gesellschaft nach 1948 bei der Einführung des stalinistischen politischen Modells erfahren hat, hat sich auch jene Todesstarre, jener nach 1969 eingetretene sittliche Marasmus der Husák'schen "Normalisierung" paradoxerweise als sehr geeignet für einen bestimmten Typus von Autoren zur künstlerischen Umsetzung tieferer, zeitloser Reflexionen herausgestellt. Darüber hinaus haben es die oben erwähnten, 1948 überwiegend noch sehr jungen Autoren geschafft, von jenem neuen Phänomen zu profitieren, nämlich dem totalitären System stalinistischer Art, das sie nicht zum Schweigen bringen konnte, sondern zu einer radikalen Transformation ihrer künstlerischen Ambitionen beigetragen hat.
Zu Beginn der 1950er Jahre entstanden in der Untergrundliteratur Werke, die sich nicht nur ideologischen Anforderungen entzogen, wie sie durch den Kanon des Sozialistischen Realismus formuliert wurden, sondern zumeist auch nicht der Konvention zeitgenössischer "ästhetischer Norm" unterlagen, in die auch die nicht offiziell herausgegebenen Werke, auch gegebenenfalls Exilwerke, einzubeziehen wären.
Ein Beispiel für eine außerordentlich radikale Verschiebung in einer so abgegrenzten Untergrundliteratur ist der litaneiartig-nihilistische, enttabuisierende Abschnitt aus der bereits erwähnten umfangreichen epischen Dichtung von Egon Bondy Zbytky eposu. Beachtenswert sind die in ihr enthaltenen prophetisch-rügenden Motive: "Hovno vláda hovno demokracie a hovno svoboda / hovno skvelá hospodárská prosperita národa / hovno mír a hovno práce / hovno sranda bez legrace / hovno krása hovno umení / hovno peníze bez reformy ci s ní / hovno láska hovno rodina / hovno domovy jimz kouká hypotéka z komína / hovno na ulici / hovno v tramvaji / hovno na nebi / i v pekle skryté potají /(...)/ hovno Marx a hovno papez hovno revoluce / hovno vase víra hovno vase pracovité ruce / hovno nadeje dokonce vsech hoven meta / hovno vlast a hovno vÝvoj sveta / hovno budoucnost vás ceká hovno z pokroku / hovno Kde domov mu°j / a hovno ty armádo otroku°."
Es ist offensichtlich, dass es jener Handvoll in den 1950er Jahren "in den Untergrund" geratener tschechischer Autoren, die sich nicht zum Schweigen bringen und sich nicht bedrängen ließen, vor allem um eine Aussage ging, um das Ablegen von "Zeugnis" in einer Zeit, in der, mit den Worten von Hrabal, "das Unglaubliche zur Tat geworden ist", und zwar auch um den Preis eines bestimmten (nie aber eines totalen) Verzichts auf "poetische Schönheit", auf traditionellere dichterische Ausdrucksmittel, auf die Kultiviertheit der Dichtersprache.
Auf dem Weg ins Jahr 1968
Es ist natürlich, dass mit dem "Niedergang des Totalitarismus", d.h. mit dem sich allmählich verbreiternden Spielraum für ein relativ freies Publizieren, und mit der Wiederherstellung der Meinungs- und Redefreiheit ungefähr in den Jahren 1956 bis 1967 Zwänge verschwanden, welche die nicht zum Kompromiss bereiten Autoren zu ihrem Schaffen "im Untergrund" gezwungen hatten. Es kam die Zeit der Kompromisse, in der für den Preis einer Rückkehr oder des ersten Auftritts in der Öffentlichkeit die meisten in den 1950er Jahren nicht publizierenden Autoren bereit waren, sich anzupassen, sich der in kleinerem oder größerem Ausmaß allerdings damals schwächer werdenden staatlich-ideologischen Aufsicht über die ganze Presse unterzuordnen, auch durch Selbstzensur. Die zu dieser Zeit offiziell herausgegebenen Werke waren oft durch redaktionelle (de facto zensurartige) Eingriffe entstellt.
Das Sagen in diesem Liberalisierungsprozess hatten nicht die Autoren, die in den 1950er Jahren "im Untergrund" gewesen waren, wobei einige von ihnen - am deutlichsten Bohumil Hrabal - daran nicht partizipiert haben, sondern Schriftsteller, überwiegend Mitglieder der KPC, die sich anzupassen vermocht haben, sei es aus eigener Überzeugung, aus Naivität oder aus konjunkturellem Kalkül, und publiziert haben, obwohl sie damals keinesfalls zu dogmatischen stalinistischen "Kulturträgern" gehörten. Zu ihnen gehören etwa Milan Kundera, Ludvík Vaculík, Pavel Kohout, Karel Kosík, Ivan Klíma und Arnost Lustig, um wenigstens diejenigen zu nennen, die später auch im Ausland bekannt wurden. Schwerer haben sich der Partei nicht angehörende Autoren wie Josef SkvoreckÝ, Václav Havel oder Josef Topol durchgesetzt.
In den Kontext der tschechischen Literatur und Kultur sind damals nach und nach Dutzende von älteren Autoren zurückgekehrt, die in den 1950er Jahren auf dem Index standen oder kaum veröffentlicht wurden, beispielsweise Karel Capek, Vladimír Holan, Jaroslav Seifert, Avantgarde- und Surrealismusautoren wie Karel Teige, christliche, katholische Autoren wie Jan Zahradnícek, Jaroslav Durych oder Jakub Deml; einige hatten in den 1950er Jahren im Gefängnis gesessen. Zur Rückkehr der tschechischen Literatur und Kultur in den Weltkontext trug auch die ständig steigende Zahl der Übersetzungen aus Weltsprachen bei, die sowohl in Zeitschriften als auch in Buchform erschienen. Einen immer größer werdenden Spielraum erkämpften sich allmählich auch nicht-marxistische Ideologie- oder Philosophierichtungen.
Die 1960er Jahre waren eine Zeit des zunehmenden Optimismus. Trotz der Ereignisse in Polen und Ungarn im Jahre 1956, trotz des Baus der Berliner Mauer 1961, trotz des Sturzes von Chruschtschow in der UdSSR im Jahre 1964 formierte sich in der Tschechoslowakei eine verhältnismäßig breite Front aus Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern, sowohl aus Mitgliedern der KPC als auch aus Parteilosen, die damit begannen, den Terror der 1950er Jahre als Anomalie wahrzunehmen und eine Liberalisierung der "sozialistischen Gesellschaft" anzustreben. Dabei entging ihnen, dass sich das Wesen des Regimes, in dem nach wie vor die "führende Rolle der kommunistischen Partei" gesetzlich verankert war, im Kern nicht veränderte und stets totalitär blieb.
Die in den 1960er Jahren heranwachsende Generation wurde in diesen Emanzipierungsprozess hineingezogen. Sie hat daran partizipiert, wobei sie sich bei der Schaffung eigener Werte auf das Nachahmen westlicher Modetrends konzentrierte, nicht nur in Bezug auf Unterhaltung und Konsum, sondern auch in Bezug auf die revoltierenden, gegen das politische Establishment gerichteten Trends. Beinahe das gesamte Kulturgeschehen in der Tschechoslowakei der 1960er Jahre spielte sich im Zeichen des "Aufholens", des Wettmachens gegenüber dem Vorsprung des Westens ab. Mit Ausnahme des neuen Films (etwa Werke von Milos Forman, Jirí Menzel, Frantisek Vlácil oder Vera Chytilová) hat die tschechische Kultur dieser Zeit nichts Außergewöhnliches, nichts wirklich Originelles hervorgebracht.
Eine der weiteren, die Regel bestätigenden Ausnahmen war die Tätigkeit des vielseitigen Künstlers Milan Knízák, der schnell zu den neuesten künstlerischen Trends im Westen aufzuschließen vermochte und selbst zu ihnen beitrug.
Milan Knízáks frühen künstlerischen Manifeste sind in einem ähnlich radikalen Ton wie die Texte der Untergrundliteratur der 1950er Jahre geschrieben, jedoch ist ihr Tenor weniger verkrampft, da sie unter deutlich freieren Umständen entstanden sind. Es erübrigt sich hinzufügen, dass auch in den 1960er Jahren Knízák und seine Freunde Texte lediglich als Maschinenschriften, also de facto im Samisdat herausgegeben haben. In Knízáks Manifest der aktuellen Kunst aus dem Jahr 1964 heißt es: "Unseren Ausgangspunkt bildet Engagiertheit, unser Ziel ist Engagiertheit. / TOTALE ENGAGIERTHEIT. / Wir sind uns des in der ungeheuren Menge von Produkten des 20. Jahrhunderts ertrinkenden Menschen bewusst. / Es geht uns um ihn, es geht uns um ihn im Höchstmaß, weil es um UNS geht. / Wir wollen diese oftmals monströs wirkenden Errungenschaften nicht utopisch beseitigen, sondern wir wollen, dass er (der Mensch) sich dessen bewusst wird, dass sie ihm dienen sollen und nicht er ihnen, / DAS WOLLEN WIR!! / Deswegen verkünden wir das Programm / DER AKTUELLEN KUNST. / Ästhetische Normen als Maßstab für Vollkommenheit interessieren uns nicht. Uns interessiert der Mensch. /(...)/ schockieren, faszinieren, die Nerven freilegen / überzeugen, maximal überzeugen. / Weg mit dem angenehmen Kitzel der Kunst!"
Solche Ideen harmonierten zweifelsohne mit der "Neudefinition der Werte", wie sie in derselben Zeit die Jugend im Westen erfahren hat, und hatten nicht mehr viel gemein mit der Reflexion der Hoffnungslosigkeit der Untergrundautoren der 1950er Jahre. Noch weniger harmonierten sie mit den opportunistischen, "demokratisierenden" Ambitionen der meisten damals publizierenden Autoren. Einige Jahre später vermochte Knízák in einem für AKTUAL geschriebenen Text ebenso radikal nihilistische, negativistische Einstellungen zum Ausdruck zu bringen, wie es Bondy bereits 1955 getan hatte: "Zahod'te mozky / zahod'te srdce / zahod'te vsechno / co vás delá clovekem // STANTE SE PRASETEM! // prase si dobre zije / jen zere a pije / a taky mrdá // STANTE SE PRASETEM!"
Das literarische, musikalische sowie allgemein künstlerische Werk Milan Knízáks ist zu einer der bedeutsamsten Inspirationsquellen der Undergroundbewegung geworden, deren Wurzeln in das Ende der 1960er Jahre zurückreichen und an deren Veranstaltungen sich Knízák wenigstens anfangs selbst beteiligte.
Die kurze Zeit der Freiheit
Die Zeit des "Prager Frühlings" 1968, während der sich die tschechoslowakischen Bürger durch spontane Aktivitäten tatsächlich ein hohes Ausmaß an Bürgerrechten erkämpft haben, war in dem antipluralistischen, antidemokratischen System etwas Paradoxes, Absurdes. Es wurden Freiräume für politische, gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten geschaffen, der Eiserne Vorhang war für kurze Zeit fast vollkommen durchlässig. Diese Zeit war kurz, aber sie war mit Ereignissen aller Art aufgeladen. In gewissem Sinne war damals die tschechoslowakische Gesellschaft freier und entspannter, als es zur selben Zeit die Gesellschaften im Westen waren, da breite Massen Vertrauen in den Sinn öffentlicher Aktionen hatten und darauf setzten, dass sie durch ihre Tätigkeit zur Restitution eines tatsächlich humanen Regimes beitragen würden, und zwar ohne Rücksicht auf "Ismen".
Alles war möglich, auch Auseinandersetzungen mit unterschiedlichsten "alternativen" Tendenzen und "Undergroundtrends". Zum Abtauchen "in den Untergrund" hatte niemand mehr Anlass. Auch Knízáks Band AKTUAL trat damals einige Male öffentlich auf, und Bondys Verse aus den 1950er Jahren wurden in der Prager Amateurtheaterszene rezitiert. Die fieberhafte verlegerische Tätigkeit schaffte es innerhalb kurzer Zeit, wenigstens die schmerzhaftesten Lücken zu schließen, die während der Jahre der totalitären Herrschaft entstanden waren. Es kam zu spontanen Aktionen, Meinungs- und Kunstplattformen, die den Menschen später dabei helfen sollten, die Ära der Breschnew-Husák'schen "Normalisierung" zu überleben und später zur Herausbildung eines diesmal bereits selbstbewussten, voll reflektierten "Undergroundghettos" beitrugen.
Jene kurze Zeit der Freiheit hat es den bis dahin voneinander isolierten Gruppen inoffizieller Künstler ermöglicht, sich kennen zu lernen und später eine an Persönlichkeiten aller Art wahrhaft reiche und eine innerlich äußerst tolerante Gemeinschaft zu bilden, jedoch gegenüber der Außenwelt der "sozialistischen Konsumenten" in der Folgezeit immer abgeschotteter und abgegrenzter.
"Normalisierung"
Die Schilderung der Entstehungs- und Entwicklungsstrapazen der tschechischen Undergroundgemeinschaft der 1970er und 1980er Jahre würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es sei nur auf die Arbeiten ihres "geistigen Vaters", des Kunsthistorikers Ivan Martin Jirous, verwiesen,
Die "psychedelische Rockband" Plastic People of the Universe wurde im September 1968 in Prag gegründet - nicht infolge der politischen Ereignisse jener Zeit, die Besetzung des Landes durch die Ostblockarmeen und das gewaltsame Einschreiten gegen die sich spontan entwickelnde Demokratie, sondern als Ausdruck des Freisinns in Kunst und Kultur. Die amerikanischen Undergroundvorbilder machten aus ihr rasch eine sehr populäre Formation, aber erst, nachdem ihre Mitglieder Jirous kennen gelernt hatten, konnte von einem echten Kulturphänomen gesprochen werden. Jirous verband die Welt der "primitiven" Rockmusiker mit der Welt der bildenden Künstler, mit der Welt inoffizieller, einstiger Untergrunddichter, sowie mit der Welt der verfolgten christlichen Geistlichen. Er brachte den Rockmusikern das Kunstgeschehen im Westen nahe. Bald wurde der Einfluss Milan Knízáks spürbar, später auch der des Werks von Egon Bondy.
Diese Gemeinschaft hatte sich formiert, obwohl ihre Aktivitäten durch die Organe staatlicher Willkür verbannt und mit Instrumenten der "Normalisierungs"-Satrapen der sowjetischen Besatzer wieder in den de facto offiziell nicht existierenden "Untergrund" verdrängt wurden. Es entstand eine Parallelwelt in einer Zeit, in der die Mehrheit der Intellektuellen und Schriftsteller, die sich im "Erneuerungsprozess" des Jahres 1968 engagiert hatten, gezwungen wurde, sich aufs Neue erniedrigen zu lassen, im Widerspruch zu ihrem Gewissen eigene Aussagen zu widerrufen und nach Außen hin mit der "brüderlichen Hilfe der Bündnisarmeen gegen die Konterrevolution" einverstanden zu sein. Man begab sich in das tatsächliche, wenigstens aber in das "innere" Exil. Es war eine Parallelwelt eines inoffiziellen, amtlich nicht erlaubten "fröhlichen Ghettos" des Undergrounds mit Konzerten, Festivals, Happenings, Poesielesungen, Ausstellungen und Samisdat-Aktivitäten, eine autonome, innerlich freie Insel im Meer des Normalisierungsgrau und der scheinbaren "Todesstarre".
Jirous beendet seinen Text Zpráva (Bericht) so: "Es ist ein trauriges und häufig anzutreffendes Phänomen im Westen, wo Underground zu Beginn der 60er Jahre theoretisch formuliert und als Bewegung etabliert wurde, dass einige Künstler, die durch ihre Arbeit in dieser Bewegung Ruhm und Hochachtung erworben hatten, Kontakte mit der offiziellen Kultur (wir werden diese für unsere Zwecke erste Kultur nennen) knüpften, diese sie mit Jubel aufgenommen und verschlungen hat, wie sie neue Karosserien von Kraftfahrzeugen, neue Mode oder irgendetwas anderes aufnimmt und verschlingt. Bei uns funktionieren die Dinge grundsätzlich anders, viel besser als im Westen, weil wir in einer Atmosphäre der absoluten Übereinstimmung leben, die erste Kultur will uns nicht haben und wir wollen mit der ersten Kultur nichts zu tun haben. Es entfällt also die Versuchung, die für jeden, auch für den stärksten Künstler, ein Keim des Unheils ist: das Streben nach Anerkennung, nach Erfolg, nach Erlangen von Preisen und Titeln, und nicht zuletzt auch nach einem materiellen Wohlstand, der sich aus all dem ergibt. Während im Westen zahlreiche Menschen, die von ihrer Mentalität her hierzulande vielleicht zu unseren Freunden gehören würden, in eine Verwirrung gerieten, wurden die Dinge bei uns ein für allemal akkurat abgegrenzt."
Ähnliche Stimmungen äußerte auch Egon Bondy in seinem utopischen oder eher "antiutopischen" Roman Invalidní sourozenci (1974), in dem der Ton einer gewissen "zeitlosen" Freude dominiert, und zwar auch in der Konfrontation mit der Wirklichkeit der Isolation, des Vergessens, und in Erwartung des apokalyptischen Endes der menschlichen Zivilisation.
Diese Erben der freien schöpferischen Atmosphäre um das Jahr 1968 herum haben in ihren besten Werken mehr als ihre Vorgänger Anfang der 1950er Jahre erreicht: nicht allein Negativismus, Zeugnisablegen und krampfhaftes Verfluchen, sondern auch die Reflexion einer paradoxen Freude, die sogar zeitlose, transzendente Horizonte erreicht. Bondys Gedicht Magické noci (Die magische Nacht) aus dem Jahr 1974, das in der Darbietung der Plastic People zu einem der populärsten Undergroundsongs überhaupt wurde, ist in dieser Hinsicht vielsagend: "MAGICKÉ NOCI POCAL CAS / Kocha snad z toho vezme d'as / Magické noci pocal cas // My zijeme v Praze to jest tam / kde jednou zjeví se Duch sám / My zijeme v Praze to jest tam."
Wenn es die neototalitäre tschechoslowakische "Normalisierung" nicht gegeben hätte, wäre es nicht möglich gewesen, eine derart heterogene Gemeinschaft zusammenzuhalten. Jenes hohe Ausmaß an gegenseitiger Toleranz, die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten eine Kommunikation miteinander ermöglicht hat, wurde vor allem durch äußeren Zwang hervorgerufen. Jene spezifischen Werte, welche die Undergroundkultur der 1970er und 1980er Jahre mit sich brachte, konnten wohl nur auf jener "Insel der Freiheit", also unter mühsamen, nicht völlig hoffnungslosen, aber extrem ungünstigen Bedingungen entstehen.
Die tschechische Undergroundkultur hatte eine Kontinuität geschaffen, an ihre "Untergrundvorgänger" aus den 1950er Jahren anknüpfend; Egon Bondy wurde zu einem ihrer Protagonisten. Die Undergroundautoren der 1970er Jahre haben sowohl auf intellektueller als auch auf ästhetischer Ebene beachtliche, trotz ihrer Verschiedenartigkeit miteinander eng verbundene Werke geschaffen. Gerade wegen dieser bunten Einheitlichkeit kann man nur sehr schwer Analogien in anderen, vom totalitären Sowjetregime in Mitleidenschaft gezogenen Ländern finden. Ebenso gab es nur vereinzelt Erscheinungsformen einer radikal- bis chiliastisch-utopischen Negation künstlerischer wie menschlicher Kompromissbereitschaft. In gewisser Hinsicht war diese glückliche Konjunktur gerade das Erbe jenes Freiraums, den die Tschechoslowakei im Jahr 1968 geboten hatte.