Einleitung
In Prag an der Moldau waren 1968 unerhörte Ereignisse zu verzeichnen: Eine kommunistische Partei machte sich daran, sich mit dem eigenen Volk über die Ziele der Politik zu verständigen. Alexander Dubcek war die Symbolfigur eines "Sozialismus mit menschlichen Antlitz"; das Volk reagierte mit Enthusiasmus.
Das Misstrauen der anderen Führer des sozialistischen Lagers wurde sofort geweckt. Es wurde ermahnt, gedroht, konspirativ verabredet. Das massivste Zeichen war, dass im Juni mehrtägige Manöver der Warschauer Vertragsstaaten unter der Bezeichnung "Sumava" (Böhmerwald) auf dem Territorium der CSSR stattfanden. Die Verbündeten behaupteten, es gehe darum, die Errungenschaften des Sozialismus vor einer Konterrevolution aus dem Westen zu schützen. Real wurde darin nur die Angst einer abgehobenen Kaste gespiegelt, die das eigene Herrschaftsmonopol bedroht sah. In der Nacht zum 21. August 1968 begann die Besetzung der CSSR durch Flugzeuge, Panzer, Hunderttausende Soldaten und Spezialkräfte der Geheimdienste. Fünf Staaten, auch die DDR, waren beteiligt. Der "Nachtfrost", schrieb einer der tschechoslowakischen Reformer später, der die Pflanze Hoffnung dieses Frühjahrs vernichtete, kam aus Moskau.
Wenn man sich vierzig Jahre danach an den "Prager Frühling" erinnert, rückt fast nur noch der Einmarsch ins Blickfeld, nicht die Zeit davor. Bilder, die man im Internet findet, zeigen vorwiegend Panzer und empörte Tschechen und Slowaken, die sich ihnen mit ihrem bloßen Körper entgegenstellen.
Warum sollten wir uns an die Ereignisse vor dem Einmarsch erinnern? Im Sommer 1998, als ich an der Prager Karlsuniversität arbeitete und die Gedenkveranstaltungen zum 30. Jahrestag erlebte, wurden nur die Gegenargumente benannt: Der "Frühling" sei nichts weiter als ein Kampf zwischen zwei Gruppen von Kommunisten, die beide aus Moskau kamen, um die Macht gewesen. Schließlich sei das Ganze den Siegern des Kampfes aus dem Ruder gelaufen. Dubcek-zrádce!
Dieser Text nennt Argumente zugunsten einer alternativen Erinnerung. Der "Prager Frühling" war das Ergebnis eines langen Lernprozesses zweier Generationen von Kommunisten. Geschichte sollte nicht nur aus einer Perspektive erzählt werden, nicht nur vom Ende her, sondern aus dem Moment des Geschehens heraus. Sie ist immer ein Raum verschiedener Möglichkeiten. Es gibt viele Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Nur so kann ein gültiges Bild der Ereignisse entstehen, das im Übrigen ohnehin von jeder neuen Generation neu geschrieben werden wird.
Der Lernprozess der Reformer sagt etwas aus über die Art von Macht- und Gesellschaftsordnung, die 1989 gescheitert ist, aber doch das 20. Jahrhundert mitgeprägt hat. Sich mit ihm zu beschäftigen ist sinnvoll, einerseits, um den Staatssozialismus sowjetischer Prägung, andererseits, um die Offenheit der neuesten Geschichte insgesamt besser verstehen zu können. Insofern ist der "Prager Frühling" auch ein Lehrstück über die Gestaltbarkeit von Herrschaft durch die Initiativen von sich verändernden Menschen, nicht nur über die Grenzen des Machbaren in diesem Typ Diktatur.
Der "arge Weg der Erkenntnis"
In Feuchtwangers Goya-Roman wird ein unpolitischer Künstler dargestellt, der - oft durch die Umstände gezwungen - lernt, seinen Blick auf die Welt, seinen Umgang mit ihr ändert. Ich habe diesen Roman als Jugendlicher gelesen und dann den Film des Regisseurs Konrad Wolf in den 1970er Jahren in der DDR gesehen.
Die Reformen der 1960er Jahre erwuchsen aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Prozesse und Kräfte - Machtkämpfe in den oberen Etagen des Apparates, aber auch neue Einsichten unter führenden kommunistischen Akteuren flossen mit vielfältigen Reformbestrebungen unter den Parteimitgliedern, vor allem den Parteiintellektuellen, und einem Aufbegehren von Teilen der Bevölkerung zusammen. Die aktivsten Menschen in beiden Schichten der Staatspartei waren einen langen Weg inneren Zweifels und Widerspruchs gegangen, bevor sie den Panzer der Parteidisziplin sprengten und handelten.
In meinen Gesprächen stieß ich auf die Spuren dieses Lernprozesses, als ich Reiman die Frage stellte, wann aus seiner Sicht der "Prager Frühling" begonnen habe. Ich erwartete, er würde ein Ereignis oder eine Auseinandersetzung, Entscheidung oder Jahreszahl nahe an 1968 nennen. Er verblüffte mich mit seiner Antwort: "Für mich persönlich hat der Prager Frühling eindeutig mit dem SlánskÝ-Prozess begonnen", sagte er. Das war 1952, ein Prozess gegen den damaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunisten. Neben dem ehemaligen Parteiführer waren viele weitere Spitzenfunktionäre verurteilt, ein Dutzend hingerichtet worden. Dieses Ereignis lag eine halbe Generationsspanne vor dem "Prager Frühling". Was hatte es mit jenem zu tun?
Anfangs war ich irritiert über dieses Ausholen in eine ferner liegende Vergangenheit. Als ich begann, über die Antwort nachzudenken, wurde mir bewusst, dass Reiman Recht hat. Man kann die Bedeutung der Prager Reformversuche nicht verstehen, wenn man nicht den weiten Weg durchmisst, den die Reformer zurücklegen mussten: von Stalinisten zu Antistalinisten, von Gläubigen zu Zweiflern, von linientreuen Exekutoren zu eigenständig Handelnden.
So habe ich versucht, den Weg zu rekonstruieren, den Michal Reiman gegangen ist. Er wurde 1930 in Moskau geboren, als Sohn des deutsch-jüdischen tschechoslowakischen Kommunisten Pavel Reiman und seiner Frau Alexandra, einer Russin aus Sewastopol. Der Vater war als Delegierter zum VI. Kominternkongress nach Moskau gekommen. Er war Ende der 1920er Jahre Mitglied der Führung der tschechoslowakischen Kommunisten um Klement Gottwald. Reiman verlebte die ersten Jahre seiner Kindheit in Prag, um im Jahr 1939, nach dem Einmarsch der Deutschen, mit seiner Mutter nach Moskau zu emigrieren. Der Vater floh über Krakau nach London, um sich seiner Verhaftung durch die Gestapo zu entziehen. 1945 traf sich die Familie in Prag wieder. Der Vater wurde Mitarbeiter der "Agitprop"-Abteilung des ZK, zuständig für Editionspolitik, also dafür, welche Bücher erscheinen sollten und welche nicht. 1949 begann Reiman ein Studium der Geschichte an der Moskauer Universität. Insgesamt, so könnte man meinen, eine Geschichte, die eine Karriere im System verheißt. Dann aber kam das Jahr 1952 und der SlánskÝ-Prozess. Reiman war in Prag und erlebte, wie sein Vater in das Getriebe der Herrschaftsmaschinerie hineingeriet. Er erzählte mir, dass mit der Verhaftung von SlánskÝ eine Welle von Verhören und Verhaftungen ausgelöst wurde.
Ich fragte ihn, mit welchen Begriffen damals gearbeitet wurde, um die Gegner zu stigmatisieren. Reiman antwortete:
"Man sprach in der damaligen Kampagne von Feinden, imperialistischen Agenten und zionistischen Verschwörern. Schon vor Prozessbeginn wurden in Parteiversammlungen, aber auch bei öffentlichen Beratungen sowie in der Presse Bewertungen abgegeben, die nahelegten, die Verhafteten seien schon schuldig gesprochen, und man müsse jetzt nur noch die Geständnisse erpressen.
D.S.: Dein Vater wurde auch verhört.
M.R.: Ja, er wurde vernommen, sehr hart vernommen, aber letztendlich nicht verhaftet, obwohl die Pläne, einen Prozess gegen die Kulturfunktionäre zu arrangieren, existiert haben. (...) In den Zeitungen schrieb man damals über meinen Vater, er sei die rechte Hand von SlánskÝ, er sei auch durch ihn eingesetzt worden. Die antisemitischen Beleidigungen will ich hier gar nicht wiederholen (...). Hunderte und Tausende verloren ihre Arbeit, mehrere hatte man verhaftet oder gar hingerichtet. Was speziell die Juden anbetrifft - viele hatten sich damals entschieden, bei der ersten Gelegenheit erneut zu emigrieren, und das aus der CSR, wo nicht sehr viele und hauptsächlich assimilierte Juden geblieben waren. (...)
D.S.: Sollte Dein Vater gegen die Angeklagten aussagen (...)?
M.R.: Ich sagte schon, er wurde sehr hart verhört und war dabei Drohungen ausgesetzt (...). Er wusste nicht, dass er im Prozess in den Zeugenstand gerufen wird und nicht auf die Anklagebank. Er war wenige Tage vor dem Prozessbeginn - er selbst erzählte, dass es zwei Tage waren - vorgeladen und bekam den Text seiner Zeugenaussage, die er auswendig lernen sollte. Nun musste er sich entscheiden. Er versuchte sich beim zuständigen ZK-Sekretär darüber zu beschweren. Der sagte ihm an der Türschwelle: Wir wissen davon, was vermutlich bedeuten sollte: Wir haben es ja beschlossen. So sagte er also aus. Ich stand nie in einer solchen Situation und fühle mich nicht berechtigt, über diese Entscheidung zu richten. Aber ich denke, eine wirkliche Alternative gab es nicht. Seine Ablehnung hätte ohne Zweifel seine Verhaftung zur Folge gehabt."
Es war die Erfahrung der Demütigung durch die "eigenen Leute", der Isolierung, der irrationalen Jagd auf Feinde, der Instrumentalisierung der Wahrheit, die bei einigen der Betroffenen einen Erkenntnisprozess in Gang setzte. Der Vater wurde erst Anfang der 1960er Jahre völlig rehabilitiert. Gleich nach dem "Prager Frühling" gehörte er zu jenen, die aus der KPC wegen Unterstützung der Reformen 1968 ausgeschlossen wurden. Pavel Reiman lässt sich exemplarisch für eine nicht kleine Gruppe von führenden tschechoslowakischen Kommunisten sehen: Josef SmrkovskÝ, Josef Pavel und Eduard Goldstücker waren ebenfalls Opfer der Prozesse der 1950er Jahre und wurden in den Sechzigern zu Akteuren der Reformen.
Für Reiman erwuchs aus dem Miterleben der Seelenqualen und Ängste seines Vaters ein Weg des Nachdenkens und der kritischen Reflexion: "Wenn ich von mir als Student sprechen soll: Ich war - ganz bestimmt bis 1952 - stalinistisch in dem Sinne, dass ich Stalin akzeptierte. Der erste ernste Bruch geschah im Zusammenhang mit dem SlánskÝ-Prozess. Da kam es zu Erscheinungen, die ich nicht ignorieren konnte, aber die Irritationen waren für mich nicht so stark, dass ich sie auf das System als Ganzes bezog."
Es ging in diesen Jahren dramatisch zu, und nicht immer in eine Richtung. 1953 kam es nach Stalins Tod zu ersten Erschütterungen, dann folgte die Phase der Re-Stalinisierung unter Nikita Chruschtschow, 1955 dessen Besuch bei Tito in Belgrad und die völlig überraschende Aussöhnung mit ihm, 1956 dann das Geheimreferat auf der letzten Sitzung des 20. Parteitags der KPdSU. Diejenigen, sagte mir Reiman, die diesen Bericht damals vorgetragen bekamen, waren schockiert. Und er ergänzte: "Weißt Du, was Chruschtschow damals nicht richtig durchdacht hat? Dass, wenn er auf Stalin weist, das Regime damit benannt wird. (...) Wer Stalin sagte, der sagte auch die Partei und das sowjetische politische System! Mit dem Antistalinismus also beginnt notwendigerweise der Reformismus."
Reiman betrachtete sich seitdem als "Reformkommunist": "Die Periode des Reformkommunismus fing bei uns ungefähr 1956 an, erhielt einen neuen Impuls um das Jahr 1958, mit der Auseinandersetzung um das jugoslawische Parteiprogramm. Sie erhielt die Färbung eines Revisionismus nach dem 22. Parteitag der KPdSU."
Reiman geriet in Konflikt mit der Linie der Partei, wurde kurzzeitig in "die Praxis" geschickt. Seine "Geschichte der Russischen Revolution 1917", die er in den 1960er Jahren schrieb, wurde von sowjetischer Seite kritisiert, erschien aber trotzdem 1967, in einem kleinen Verlag. In Reimans Umfeld begann man damit, Lenin als zentralen Politiker des sowjetischen Kommunismus kritisch zu sehen. Das Verhältnis zur Sozialdemokratie wurde von alten Schablonen befreit.
Aus dem Wirtshaus in die Parteiversammlung
Das Wirtshaus, hospoda, ist ein wichtiger öffentlicher Ort in Tschechien. Es spielte auch eine Rolle in der Veränderung der Staatspartei vor 1968. "Die Partei", wie sie genannt wurde, hatte sich zu einem Instrument der Diktatur entwickelt. Die fast zwei Millionen Mitglieder der KPC waren in die Parteistrukturen eingebunden und sollten wie ein Treibriemen die Entscheidungen der Parteiführung in die Gesellschaft übertragen. Sie waren einerseits privilegiert (weil ihnen bessere Aufstiegsmöglichkeiten offen standen als Parteilosen), andererseits aber auch stärker der disziplinarischen Gewalt des Parteiapparates unterworfen. Ihnen saß "die Politik" eher im Nacken. Ununterbrochen wurden sie auf Versammlungen mit den Entscheidungen oder auch Nichtentscheidungen der politischen Führung konfrontiert.
Nach der Versammlung, so erzählte Reiman, ging man ins Wirtshaus. Dort beredete man, was man gerade Wichtiges gehört hatte. Hier, unter Freunden, sprach man eher aus, was in der Versammlung schwerer zu benennen war: die Zweifel, die Ablehnung bestimmter Entscheidungen, die andere Ansicht. Was vorher nur im eigenen Nachdenken eine Rolle gespielt hatte, musste sich nun im Gespräch bewähren. So begann ein Diskurs, der Folgen für das Auftreten in der Partei hatte: Auf der nächsten Versammlung wurde dann schon gesagt, was vorher nur jeder für sich zu denken gewagt und dann im Wirtshaus mit Freunden besprochen hatte. Das Rollenverständnis von Parteimitgliedern begann sich bei einigen zu wandeln. Man sollte Rädchen sein im Getriebe der Maschine des "gesellschaftlichen Fortschritts", nun aber begann man, im eigenen Auftrag zu handeln. Es bildete sich die Gewohnheit heraus, für die eigene Ansicht zu kämpfen. Die Partei wurde über den Umweg des Gesprächs unter Freunden demokratisiert.
Im Gespräch mit mir hat Reiman sein Wirken dargestellt: "Wir haben uns in der Zeit des Prager Frühlings aktiv öffentlich und beruflich engagiert. Dazu gehörte es damals, sich unter Umständen auch an der Arbeit verschiedener Kommissionen der Partei und in Beraterstäben zu beteiligen und Initiativen zu entwickeln. Außerdem haben wir versucht, die Spielregeln zu ändern. Da ging es um ein neues Parteistatut, das freie Meinungsäußerung und Beschlussfassung garantieren sollte. (...) Wir versuchten, ein anderes Verhältnis zwischen ZK und den exekutiven Parteiorganen, darunter auch dem Sekretariat und dem Politbüro, zu schaffen und zu verankern. Unsere Ideen waren aber am Ende nicht besonders praktikabel. Wir gingen davon aus, dass das ZK voll erneuert wird, und wir wollten es vom Druck und von der Manipulierung seitens der exekutiven Organe befreien. Dabei haben wir unterschätzt, dass das ZK als Ganzes zu dieser Zeit noch ein konservatives Organ war. Das sollte der 13. Parteitag im September ändern, was aber vom sowjetischen Aufmarsch durchkreuzt wurde. Das neue ZK konnte nicht von den prosowjetischen Parteikonservativen befreit werden, und jene missbrauchten jetzt unseren, noch nicht beschlossenen, Entwurf, um Obstruktionstaktik zu betreiben. So war es für die Reformer sehr schwer, etwas Positives durchzusetzen.
D.S.: Ich kann das gut nachvollziehen, weil wir uns - sehr viel später - in der SED auch mit diesen Fragen beschäftigt haben. Aber das ZK, ohne Erneuerung durch einen Parteitag der Reformer, war ja selbst eine Vertretung des Apparates.
M.R.: Weißt Du, wir waren damals so etwas wie kommunistische Idealisten. Wir wollten eine umfassende Parteidemokratie garantieren und die KP in eine demokratische Organisation umgestalten, was praktisch unrealisierbar war."
In diesem Lernprozess, in dem sich auch Verhaltensweisen und Wertorientierungen veränderten, wandelte sich die Funktionsweise der Institutionen, selbst wenn an deren formellem Gerüst nicht sofort etwas geändert wurde. Der "Prager Frühling" ist sowohl Resultat eines Kampfes zwischen Politikern als auch eines Aufstands der Gesellschaft, der vom Fußvolk der kommunistischen Partei mitgetragen wurde. So musste beides geschehen, sich die Partei sowohl "oben" als auch "unten" bewegen, damit sich die autoritäre Herrschaft zu liberalisieren begann. Erst mit dieser Öffnung entstand der Raum für eine echte Demokratisierung, auch wenn er nicht dauerhaft war.
Ein anderes Modell des Sozialismus
Um zu verstehen, wie groß die Differenz zwischen dem sowjetischen Modell und dem damaligen der Prager Reformer ist, sollen nun die wesentlichen Zielsetzungen und praktischen Schritte des Prager Frühling erwähnt werden.
Der Reformprozess kam mit dem 12. Parteitag der KPC im Dezember 1962 in Fahrt. Zur Überwindung der "Folgen des Personenkults" sollten, erstens, die Opfer der Prozesse politisch rehabilitiert werden. Es ging vor allem um diejenigen, welche die Prozesse überlebt hatten, und unter denen sich Politiker befanden, die in dem beschriebenen Sinne gelernt hatten, etwa Josef SmrkovskÝ. Er wurde einer der konsequentesten Reformer an der Spitze der KP.
Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang war die 1963 durchgeführte Kafka-Konferenz. Generell ging es um die Aufhebung der Isolierung der eigenen Kunst und Kultur von der des Westens, die unter Stalin zum Fundament der Politik gehört hatte. In diesen Jahren schrieb Václav Havel seine ersten Theaterstücke in der Tradition des absurden Theaters, Filmregisseure wie Milos Forman und Vera Chytilová brachten, angeregt durch das cinéma vérité, eine eigene Richtung der Filmkunst, die "Neue Welle", hervor. Unter der Jugend kam es zu einem ähnlichen kulturellen Umbruch wie im Westen zu Beginn der 1960er Jahre. Es gab in jenen Jahren auch eine Öffnung im Alltag: Reisen in den Westen wurden wesentlich erleichtert, bereits 1967 lernten rund 300 000 Menschen die Gesellschaften Westeuropas mit eigenen Augen kennen.
1968 selbst passierte dann gar nicht mehr soviel Neues. Was sich änderte, war die Führung der Staatspartei und somit die Praxis der Ausübung politischer Herrschaft. Auf dem Januarplenum wurde nach längerer Auseinandersetzung Antonín NovotnÝ, lange Jahre dominierender Parteiführer, zum Teil entmachtet: Dubcek wurde als Kompromisskandidat zum Parteiführer, NovotnÝ blieb (bis März) Präsident. Jetzt drängten energische Reformer nach vorn, darunter Josef SmrkovskÝ und Frantisek Kriegel, auch Zdenek Mlynár. SmrkovskÝ gab Anfang Februar die zentrale Losung aus: Es sollte ein "Typ des Sozialismus" errichtet werden, "der auch für die Industriestaaten Europas und ihre fortgeschrittenen revolutionären Arbeiterbewegungen anziehend ist".
Soweit die Änderungen, die im politischen System konzipiert worden waren. Daneben hatte sich die tschechoslowakische Gesellschaft insgesamt in Bewegung gesetzt. Es kam zu einer Demokratisierung des Lebens in der Partei und zu vielfältigen Initiativen vor allem der Parteiintelligenz. Die "Blockparteien" gewannen neue Lebendigkeit. Es gab den Versuch einer Wiedergründung der Sozialdemokratie, daneben bildeten sich weitere nichtkommunistische Organisationen wie K231, eine Vereinigung der ehemaligen politischen Häftlinge, und KAN, der "Klub engagierter Parteiloser", welcher sich für eine gleichberechtigte Behandlung Parteiloser im öffentlichen Leben ebenso einsetzte wie für zukünftige freie Wahlen.
Die Übereinstimmung zwischen Bevölkerung und Reformern prägte die öffentliche Stimmung. Die Staatspartei hatte das Vertrauen eines großen Teils der Bevölkerung errungen. Im April unterstützen 31 Prozent der Nichtparteimitglieder die Politik der KPC "stark", weitere 41 Prozent "eher", somit standen insgesamt über zwei Drittel der Bevölkerung mehr oder weniger hinter der Partei. Mitte Juli hatten 78 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage ihr Vertrauen gegenüber der Führung unter Dubcek ausgedrückt.
Mit dem Begriff eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" waren eine Gesellschaft und eine Machtordnung gekennzeichnet, die sich grundlegend zu wandeln begonnen hatten. Die Losung blieb eine ungeprüfte Utopie, weil sie mit Gewalt in der Nacht zum 21. August 1968 beendet wurde.
Wozu erinnern?
Das öffentliche Geschichtsgedächtnis Tschechiens reduziert heute den "Prager Frühling" auf einen Machtkampf zwischen zwei Fraktionen in der KP und stellt den Einmarsch der Truppen aus fünf Staaten des Warschauer Vertrags in den Vordergrund. Damit werden andere Seiten des Erbes ausgeschlagen und vor allem die Erinnerung an die Reformversuche seit 1963 verdrängt. Diese Verweigerung hat Auswirkungen auf den heutigen politischen Wettbewerb, sie schwächt die linke Seite des politischen Spektrums.
Eine solche einseitige Erinnerungspolitik führt darüber hinaus in Tschechien und in anderen Ländern Ostmitteleuropas, in denen es ein positives reformsozialistisches Erbe gibt, zu spürbaren Verlusten an nationalem Selbstbewusstsein. Man verzichtet ohne Not auf eine Bezugnahme auf würdige Leistungen, die zum Erbe gehören, und ergibt sich stattdessen dem Mythos eines kleinen Volkes, das immer wieder zum Opfer stärkerer feindlicher Nachbarn geworden ist.
In Westeuropa wird in diesem Jahr anderer unerhörter Ereignisse gedacht, der Demonstrationen von Studenten in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem aber der Maiunruhen in Frankreich, verbunden mit Barrikadenkämpfen, Generalstreik und der zeitweiligen Flucht des Staatspräsidenten. Wenn man überlegt, was den "Prager Frühling" und die Ereignisse des Jahres 1968 in Westeuropa ungeachtet ihrer deutlichen Unterschiede miteinander verbindet, so ist das vielleicht die Geburt einer lebendigen Zivilgesellschaft aus dem Innern der Gesellschaften heraus.
Die Akteure des Jahres 1968 sind danach weiter aktiv gewesen. Die westlichen gingen den "Marsch durch die Institutionen" oder aber den Weg der gewaltsamen Aktionen, die des "Prager Frühlings", inzwischen durch die orthodoxen Kommunisten entweder marginalisiert oder ins Exil gedrängt, nahmen an zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der Charta '77 oder an der europäischen Debatte um ein anderes Sozialismusmodell, bekannt geworden als "Eurokommunismus", teil.
Sie waren auch beim demokratischen Neuanfang nach 1989 dabei - nicht immer als Sieger, so wie es Alexander Dubcek ging, der nicht nur im August 1968, sondern ein zweites Mal im Herbst und Winter 1989 mit seiner Politik scheiterte: das erste Mal durch die militärische Übermacht der konservativen Kräfte, das zweite Mal durch den Zeitgeist, der einem reformierten Sozialismus ablehnend gegenüberstand.
Der Sozialismus, wie er in Osteuropa seit 1917 existierte, hat sich durch seine Unfähigkeit zur Selbstkorrektur und seine Opferzahlen selbst diskreditiert. Wird heute nach Alternativen gesucht, kann es nicht darum gehen, das damalige Programm der Reformsozialisten wieder aufzunehmen. Die sozialen und freiheitlichen Utopien der Gegenwart müssen eine andere Gestalt gewinnen, sie können nicht einfach in die Kleider des Jahres 1968 schlüpfen. Aber der "Prager Frühling" bleibt ein Teil der Geschichte Europas; er ist eine wichtige europäische Erfahrung.