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Ein schillerndes Verhältnis - Moral in der französischen Afrikapolitik

Klaus Schlichte

/ 15 Minuten zu lesen

Die Beziehungen Frankreichs zu seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien sind immer noch "besondere", was sich auch in einer hohen Emotionalität der Debatten über diese zeigt.

Einleitung

"Das Drama Afrika ist, dass der afrikanische Mensch nicht genug in die Geschichte eingetreten ist. Der afrikanische Bauer, der seit Jahrtausenden mit den Jahreszeiten lebt, dessen Ideal das Leben in Einklang mit der Natur ist, kennt nur die ewige Wiederkehr der Zeiten, deren Rhythmus die pausenlose Wiederholung der immergleichen Zeichen und Worte ist. In dieser Vorstellung, in der ständig alles von neuem beginnt, gibt es keinen Platz für die Ideen des Fortschritts oder das Abenteuer der Menschheit. In diesem Universum (...) streckt sich der Mensch nicht der Zukunft entgegen. Niemals kommt ihm die Idee, sich diesen Wiederholungen zu entziehen, sich ein Schicksal selbst zu wählen."


Mit diesen Bemerkungen über die vermeintliche Unbeweglichkeit Afrikas und die Erklärung von "Unter-Entwicklung" hat Nicolas Sarkozy Furore gemacht. Seine Rede, die er am 26. Juli 2007 an der Cheick-Anta-Diop Universität in Dakar gehalten hat, sorgte für heftige Reaktionen. Sie hat nicht nur zu massiver Kritik durch afrikanische und französische Intellektuelle geführt. Auch aus dem traditionellen Gaullismus gab es kritische Stimmen, die in ebenso typischer Weise die besonderen Bande zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien betonten: Für den ehemaligen Premierminister Dominique de Villepin hatte Sarkozy den besonderen Sensibilitäten der Beziehungen nicht genug Rechnung getragen. De Villepin grenzte sich von Sarkozy ab, der gegenüber der traditionellen französischen Afrikapolitik einen Bruch vollziehen will, und bekannte sich stattdessen zur klassischen gaullistischen Position: "Wir sind ohne Zweifel das Land, dass heute Afrika am besten versteht und dass es am meisten liebt."

An diesen Reaktionen und ihrer Heftigkeit ist vor allem eines auffällig: die hohe emotionale Beteiligung. Ganz offensichtlich - aber das ist keine neue Erkenntnis - zeichnen sich die Beziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien durch eine besondere Nähe aus. Die Gefühle, die in den Texten und Reden auftauchen, zeigen diese Nähe an.

Wie kann man Moral erklären?

Wo Gefühle eine Rolle spielen, da ist meist auch die Moral nicht weit. Deshalb ist das Feld der Beziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien besonders geeignet, der Frage nach der Bedeutung von Moral in den internationalen Beziehungen, aber auch nach ihrer theoretischen Einordnung in diesem Feld etwas näher zu kommen. Was lässt sich daran erkennen?

Moral ist immer in zwei Richtungen lesbar: als ehrlicher Altruismus, auf geglaubten höheren Prinzipien beruhend oder aber, im Sinne einer rationalistischen Interpretation, als kalkulierte Strategie. Auch vieles von dem, was wir als "moralisch" in der internationalen Politik beobachten, hat dieses Schillernde. So lässt sich der Marshall-Plan der USA im Nachkriegseuropa sowohl als Hilfe für die kriegszerstörten Länder begreifen, als auch als Export eines Kapitalüberschusses zur Schaffung leistungsfähiger Absatzmärkte. Ähnliches gilt für die Entwicklungs- und Katastrophenhilfe. Zwar handelt es sich dabei den Selbstdarstellungen der Gebenden zufolge um selbstlose Gaben. Doch ihr instrumenteller Charakter, der etwa darin besteht, negativ bewertete Konsequenzen für die Gebenden zu vermeiden, wie zum Beispiel Flüchtlingsströme oder Gewaltkonflikte, ist in einigen Fällen durchaus klar erkennbar. Unter Umständen sind große Teile jedenfalls der staatlichen Hilfe auch eher durch ein Theorem erklärbar, dass auf die Akkumulation von Ehre abstellt. Doch warum spielen moralische Figuren und Gefühle in bestimmten Beziehungen und Feldern eine besondere Rolle und in anderen nicht?

Die Antwort auf diese Frage verweist auf die konstitutive Rolle der historischen Verläufe: Die Quelle von Solidarität und "Gemeinschaft" ist immer geteilte Geschichte. Nur über vorgängige Interaktionen kommen Pflichten und moralische Einstellungen zustande. Sie lassen sich weder als instrumentelle "Erfindungen" begreifen, noch sind sie der empirischen Analyse unzugängliche Sentimentalitäten. Das, was wir Moral nennen, ist vielmehr Teil der "legitimen Ordnung", des historisch geronnenen Kanons aus Sitten, Konventionen und Recht.

Die Moral hat also "historische Gründe". Doch wie genau soll man sich diese Kausalitäten vorstellen? Wie lassen sie sich darstellen oder gar überprüfen? Die Antwort auf diese Frage stellt auf Kategorien von Reinhart Koselleck ab: Die Geschichte, die sozial und politisch begründend wirkt, besteht aus Erfahrungsräumen, die über - oft staatliche - Erzählungen von Geschichte zu kollektiven Vorstellungen werden. Über diese Erzählungen formen sich auch die moralischen Ordnungen aus. Im kollektiven und im individuellen Habitus werden sie dann zu den Maßstäben der Bewertung des Wahrgenommenen. Die Geschichte ist also nicht bloß ein "Faktor" oder eine "Variable", sondern der Zusammenhang, der Sinnhorizonte erst aufspannt, der Prozess, der die diskursive Verknüpfung überhaupt erst ermöglicht, der Gesellschaft und ihre legitime Ordnung konstituiert.

Einige Facetten der "Relations Priviligiées"

Durch die Länge und Intensität der Beziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien haben sich in diesem Feld zahlreiche Merkmale ausgeprägt, die sich in dieser Konstellation sicher nur in wenigen anderen Fällen ergeben haben. Die Beziehungen sind zum einen stark institutionalisiert. Frankreich hat seine Kolonien in verschiedenen multilateralen und bilateralen Bindungen gehalten, die für beide Seiten nutzbringend waren.

Lange Zeit hatte es den Anschein, als wären diese Beziehungen für Frankreich vorteilhaft: Mehrere zehntausend Franzosen lebten in den ehemaligen französischen und belgischen Kolonien. In diesen Staaten überwogen auch lange Zeit französische Unternehmen in nahezu allen modernen Sektoren der Wirtschaft. In vielen Märkten - im Hotelgewerbe, im Bankensektor, im Baugewerbe, im Export von Rohstoffen etwa - kontrollierten wenige französische Unternehmen ganze Regionen. Beispielhaft ist hierfür etwa die Hotelgruppe Novitel-Sofitel, die Unternehmensgruppe Bouygues im Baugewerbe, sowie die Holding Bolloré im Transportwesen, die teils über Lieferbindungen der französischen Entwicklungshilfe auf geschützten Märkten expandierten. Diese geschäftlichen Beziehungen sind bis heute einbettet in ein ausdifferenziertes System zwischenstaatlicher Institutionen. So stützt die französische Regierung, und nunmehr die Europäische Union, seit der Unabhängigkeit der französischen Kolonien Westafrikas deren Währung - zunächst über die Kopplung des "Franc-CFA" an den französischen Franc und nun an den Euro.

Enge Beziehungen ergaben sich aber in den ersten Dekaden des postkolonialen Verhältnisses nicht nur durch die Präsenz französischer Unternehmen. Auch in anderen sozialen Bereichen blieben die Beziehungen eng oder vertieften sich sogar noch. Durchschnittlich 10 000 "coopérants", also Entwicklungshelfer in Schulen, Krankenhäusern, in Infrastrukturprojekten, aber auch im Militär wurden bis zu Beginn der 1990er Jahre vom französischen Staat finanziert. Über ungezählte Städtepartnerschaften, Sprach- und Kulturinstitute, wissenschaftliche und kirchliche Kooperationen sind die Beziehungen zwischen Frankreich und dem frankophonen Afrika bis heute weitaus intensiver als etwa die Beziehungen zwischen Frankreich und vielen europäischen Ländern.

Am sichtbarsten wurden über die Jahrzehnte jedoch die direkten politischen Bindungen. Die Stabilisierung afrikanischer Regierungen durch Interventionen Frankreichs seit dem Ende der Kolonialzeit ist sprichwörtlich. Die Rede ist von der "chasse gardée", der geschützten Jagd, dem "pré carré", der quadratischen Weide, dem "champ privilegié", dem bevorzugten Feld. Über ein dutzend Mal hat das französische Militär offen interveniert, wenn mit ihm verbündete Regime bedroht waren, und die Regierungen waren über teils geheime, teils öffentliche Militärbündnisse mit Frankreich als Schutzmacht verbunden. Bis zum heutigen Tage unterhält Frankreich mehrere Militärbasen in Afrika, in denen zeitweilig bis zu 10 000 Soldaten stationiert waren.

Doch vergleicht man den Umfang des französischen Außenhandels mit den frankophonen Staaten Afrikas und die dortigen französischen Direktinvestitionen mit den wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Regionen, so findet sich kein rationales Argument für die hohen Summen, welche die Regierungen der Fünften Republik südlich der Sahara in entwicklungspolitische Projekte und sicherheitspolitische Maßnahmen investiert haben. Andere Regionen, etwa der Mittlere Osten und Lateinamerika, sind für die französische Ökonomie weitaus bedeutender. Die Erklärung für die lange Kontinuität der "privilegierten Beziehungen" wird deshalb von Beobachtern immer in "historischen Bindungen" gesehen.

Das Feld der französisch-afrikanischen Beziehungen ist zudem reich an Skandalen, die bis in die höchsten Staatsämter reichen. Die von der Zeitschrift "Le canard enchainé" aufgedeckte "Diamantenaffäre", die in dem dann eingestandenen Vorwurf mündete, Präsident Valery Giscard d'Estaing habe sich Diamanten im Wert von 14 Millionen US-Dollar vom damaligen selbstgekrönten Kaiser des Zentralafrikanischen Kaiserreichs, Jean Bedel Bokassa, schenken lassen, hatte 1981 schließlich die Wahlniederlage gegen Francois Mitterand zur Folge.

Einige Besonderheiten der französischen politischen Klasse machten sich auch in der Afrikapolitik bemerkbar. So ist etwa die Rolle des ehemals in Staatseigentum befindlichen Ölkonzerns Elf-Aquitaine legendär, der in direkter, häufig krimineller Weise auf die politischen Machtverhältnisse in afrikanischen Staaten Einfluss genommen hat. Bekannt wurden in der Vergangenheit auch verdeckte Finanzierungen französischer Parteien und Wahlkampagnen aus den schwarzen Kassen afrikanischer Präsidenten.

Diese in hohem Maße von Informalität gekennzeichneten Merkmale der Beziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien sind deshalb nicht bloß als "Korrumpierung" moderner staatlicher Politik durch die neopatrimonialen Strukturen afrikanischer Staaten zu verstehen, sondern eher als eine Fusion der informellen Praktiken und Politiken beider Seiten. Jean-François Bayart hat dieses Feld als "postkoloniale Hegemonie" bezeichnet, um mit dieser, an Antonio Gramscis Ideen angelehnten These die Transnationalität dieses politischen Verhältnisses zu betonen.

Der koloniale Erfahrungsraum

In der Literatur, die sich mit dem Feld Françafrique auseinandersetzt, gilt der Verweis auf "historische Gründe" als Standardantwort auf die Frage nach den Gründen für diese über die Jahrzehnte höchst kostenträchtige und skandalreiche Politik. Doch wie Geschichte in Handlungen und öffentlich so skandalträchtige Politik münden kann, bleibt damit unbeantwortet. Die Besonderheit dieser Beziehungen lässt sich nur durch die Fortdauer eines postkolonialen Habitus der politischen Klasse Frankreichs erklären, der die klientelistische Inbesitznahme einer anarchischen Institutionenlandschaft ermöglicht hat.

Die Erregung über die Rede Sarkozys, aber auch die deutlich wahrnehmbare emotionale Dimension dieser Beziehungen bilden jedoch einen Aspekt, der hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Moral in der internationalen Politik aufschlussreich ist. Was sich in der Rede Sarkozys nämlich erhalten hat, ist der Bezug auf die Norm der Freundschaft, der all die Jahrzehnte zuvor auch schon die Reden französischer Präsidenten durchzog. Diese Semantik ist sicher teils rhetorisch. In der Vergangenheit hatte sie aber zu einem großen Teil ihre reale Entsprechung, wie sich in der oben zitierten Stellungnahme De Villepins ausdrückt.

Die moralische Dimension, die sich in dieser Emotionalität zeigt und sich in Pflichten und Rechten auch institutionell ausformt, weist tatsächlich auf eine lange Geschichte der Interaktion hin. Die bis in das 18. Jahrhundert zurückreichende politische Inkorporation von Afrikanern in das politische Gemeinwesen Frankreichs, besonders aber die Phase der gemeinsamen kolonialen Vergangenheit, ist die eigentliche Wurzel dieses Gemeinschaftsbewusstseins. Die Hochphase des Kolonialismus zwischen 1850, dem Beginn der französischen Expansion ins Innere des Kontinents, bis zur offiziellen Dekolonisation 1958, ist der eigentliche Erfahrungsraum, auf den sich die aktuellen Interpretationen beziehen. An Ausschnitten wird die Umstrittenheit dieser Erfahrungsräume deutlich.

Die moralisch stark kodierten Beziehungen, die sich durch die Beteiligung von Afrikanern am französischen Militär ergeben haben, sind ein Beispiel dafür. Solche Inkorporationen reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. In Frankreich wie in Großbritannien haben jeweils Hunderttausende aus den Kolonien in den Kriegen der Kolonialmächte mitgekämpft, von der kolonialen Unterwerfungskriegen im 19. Jahrhundert über die beiden Weltkriege bis in die Phase der Dekolonisationskriege in den 1950er und 1960er Jahren. In "Françafrique", diesem transnationalen Feld, ist der Umgang mit solchen Soldaten, den "Tirailleurs sénégalais", und vor allem die Frage ihrer Pensionen zu einem Dauerthema geworden, an dem sich die Dynamiken der moralischen Bewertung, des Wechselspiels von Solidarität und Entsolidarisierung erkennen lässt. In dieser Moralproduktion spielt der Krieg offenbar immer eine grundlegende Rolle.

Bereits im Jahr 1857 hatte das koloniale Frankreich begonnen, afrikanische Regimenter aufzustellen, die dann für die koloniale Unterwerfung der weiter im Innern des Kontinents gelegenen Teile benutzt wurden. Die Tiralleurs wurden zu einer festen Größe französischer Militärmacht, also eines zentralen Teils des französischen Staates und seiner Geschichte. Im Ersten Weltkrieg allein kämpften ca. 180 000 Tirailleurs auf der Seite Frankreichs, 30 000 verloren dort ihr Leben. Seitdem waren sie in allen Kriegen Frankreichs im Einsatz, in Westafrika, in Marokko, im Libanon und in Anatolien, aber auch in Indochina und Algerien. Sie waren sogar an der Niederschlagung von Unruhen in Frankreich beteiligt, so in Marseille 1938 und in Nizza 1947/48.

Nach ihrer Demobilisierung jedoch blieb die Ungleichbehandlung der Tirailleurs gegenüber französischen Soldaten zunächst bestehen. Über die Kultur militärischer Kameraderie und die Zusammenarbeit der französischen und afrikanischen Veteranenverbände entstand erst der Druck, der die französische Regierung 1950 zur Gleichstellung veranlasste. Diese Entscheidung war wiederum Teil einer größeren Frage. Denn in der Kolonialverwaltung wuchs die Furcht, aus dem Milieu der afrikanischen Veteranen könnten "nationalistische", sprich: antikolonialistische Tendenzen erwachsen. Die rechtliche Gleichstellung und schließlich die Gewährung einer lebenslangen Pension waren deshalb nicht bloß durch ein Gefühl der Verpflichtung erklärbar, sondern konnten ebenso als Taktik in der Reorganisation des Empire und der Wahrung von Herrschaftskontinuitäten interpretiert werden.

Dieser Ausschnitt der französisch-afrikanischen Beziehungen, so könnte man denken, verliert mit dem Ableben der letzten Veteranen an Bedeutung, auch wenn ihre Angehörigen ihrer gedenken mögen und die Historiographie diesen Teil der Geschichte dokumentiert hat. Tatsächlich aber wird der Bezug auf diese Trägergruppe in unterschiedlichen Diskursen häufig hergestellt, sowohl in politischen Reden von Staatsvertretern als auch in den politischen Liedern der afrikanischen populären Musik. Wann immer das Verhältnis zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien in der französischsprachigen Öffentlichkeit diskutiert wird, taucht die Frage der "Blutschuld" wieder auf.

Das Schicksal der "Tirailleurs" zeigt, dass sich die Bindungen, die sich zwischen Kolonialmacht und Kolonisierten ergeben, langsam verschränken, und dies zu einem Grad, dass die Unterscheidung zwischen Staatsgrenzen für den sozialen Zusammenhalt, für die Dichte der Interaktion letztlich unerheblich wird. Der historische Erfahrungsraum, der diesen Politiken vorhergeht, macht dies erst möglich.

Ökonomischer Wandel - sicherheitspolitische Kontinuität

Die Geschichte des Kolonialismus ist also nicht nur die einer einseitigen Dominanz, sondern auch die der Aneignung, der Interpretation durch alle Akteure. Aus diesem Grund bleiben die Interpretationen umstritten. Die Auseinandersetzung über den Kolonialismus ist bis heute nicht abgeschlossen, weil es unterschiedliche Erzählungen gibt. Die schockierende Wirkung, die Nicolas Sarkozys Rede vom Juli 2007 hatte, ist aber auch an jüngere Entwicklungen gebunden. Denn Frankreichs Engagement auf dem afrikanischen Kontinent hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren erheblich gewandelt. So ergibt sich die Konfliktivität der Frage nach der Bewertung des französischen Kolonialismus auch aus den Veränderungen im Feld "Françafrique".

Ökonomisch jedenfalls hat die Bedeutung der afrikanischen Staaten in den vergangenen zwanzig Jahren für Frankreich weiter abgenommen. Gemessen an der Summe der Direktinvestitionen ist Frankreich mit 4,9 Milliarden Euro hinter Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Niederlande auf den vierten Platz zurückgefallen. Im Außenhandel Afrikas steht das Land mit 50 Milliarden US-Dollar zwar immer noch auf dem zweiten Platz hinter den USA (70 Milliarden US-Dollar). Der Anteil der Franc-Zone am französischen Außenhandel beträgt aber nur noch ein Prozent. Seit 1970 ist der Anteil Gesamtafrikas, einschließlich des Maghreb, an den französischen Exporten von 8,7 Prozent auf 5,6 Prozent in 2006 gesunken. Aus diesen Beziehungen hat Frankreich in 2004 einen Außenhandelsüberschuss von 3,2 Milliarden Euro erzielt, von dem 1,8 Milliarden Euro auf das subsaharische Afrika entfielen.

Zugleich hat sich in diesen Beziehungen das Gewicht der Branchen verschoben. Waren in früheren Jahrzehnten vor allem jene Branchen am bedeutsamsten, die über Lieferbindungen von Entwicklungshilfe am meisten profitierten, wie das Bauwesen (Bouygues, Dumez) und die Wasser- und Stromversorgung (Bouygues, Electricité de France, Lyonnaise des Eaux, Vivendi), so stehen jetzt Energie-Unternehmen, vor allem die Ölbranche, im Vordergrund: Die Total-Gruppe ist in Nigeria und Angola engagiert, aus beiden Ländern stammen 20 Prozent der französischen Ölimporte. "Total" ist mit seiner Präsenz in vierzig afrikanischen Ländern auf dem Kontinent Marktführer und unterhält dort sieben Raffinerien. Aus der Sicht der Länder der Franc-Zone sind zudem die französischen Banken "Banque nationale de Paris", "Société générale" und "Crédit Lyonnais" von zentraler Bedeutung, die zusammen über 70 Prozent Marktanteil im frankophonen Afrika haben.

Während die wirtschaftlichen Beziehungen trotz des Wandels in ihrer Bedeutung nachgelassen haben, ist die Präsenz Frankreichs in Afrika im Bereich der Sicherheitspolitik unverändert hoch. Keines der bestehenden Abkommen über militärischen Schutz wurde aufgekündigt, und Frankreich hat sich als "Schutzmacht" im innerstaatlichen Krieg in der Côte d'Ivoire (Elfenbeinküste) stark engagiert, aber dadurch in Afrika viel Kritik auf sich gezogen. Weitere Interventionen von französischer Seite hat es im Tschad seit April 2006 und in der Zentralafrikanischen Republik im November 2006 gegeben. Nach wie vor sind 1 200 Truppen im Tschad stationiert und stützen dort das Regime von Idriss Déby. Über 300 französische Soldaten sind in der Zentralafrikanischen Republik mit der Restrukturierung der dortigen Streitkräfte befasst. Dort unterstützt Frankreich die Regierung des Generals Bozizé, der sich 2003 an die Macht putschte.

Diese Entkopplung von ökonomischer und militärischer Bedeutung ist auch für das Niveau französischer Entwicklungshilfe nicht ohne Konsequenzen geblieben. Die Entwicklungszusammenarbeit Frankreichs mit den ehemaligen Kolonien hat sich massiv verändert. Von den ehemals gut 10 000 Entwicklungshelfern, die Frankreich jährlich bezahlte, sind nur knapp 1 000 übrig geblieben.

Wie "besonders" ist das alles?

Diskurse und reale Austauschprozesse entsprechen sich nicht immer. Während sich ökonomische Beziehungen mittelfristig stark verschieben können, und auch das finanzielle Engagement der ehemaligen Kolonialmacht stark nachgelassen hat, ist die Intensität der politischen Debatte über die Bedeutung der gemeinsamen Geschichte und ihrer Interpretation offenbar so heftig wie nie zuvor. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen stehen Fragen von Schuld, Ehre und Verpflichtung, wie sie im Gefolge von Kriegen und gewaltsamen Eroberungen regelmäßig auftreten. Sie haben durch die Wendung der globalen Diskurse auf den Kanon der Menschenrechte nun aber überall noch einmal enormen Auftrieb erhalten.

Die Erklärung moralischer Phänomene in den internationalen Beziehungen kann sich nur aus der Rekonstruktion geschichtlicher Verläufe und ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung zu dominanten, immer aber umstrittenen Erzählungen ergeben. Überall auf der Welt sind diese Erzählungen mit den Selbsterzählungen von Staaten eng verwoben. Darin zeigt sich ihre fundamentale Rolle für die Aufrechterhaltung von legitimen Ordnungen, die zugleich begründend für die Formen politischer Herrschaft sind.

Die Erzählung des französischen Staates hat sich seit der Revolution immer durch einen Distanzierungsversuch von anderen Staaten ausgezeichnet. Der Bezug auf die Menschenrechte war darin das zentrale Merkmal der herausgestellten historischen Rolle Frankreichs, das als Kollektivsingular auftritt und sich mit anderen als Staaten verdinglichten Kollektiven misst. Dieser humanistische Diskurs stieß sich jedoch immer an der realhistorischen Erfahrung des Kolonialismus, am Faktum der kolonialen Unterwerfung und Gewaltherrschaft im Namen einer überlegenen Zivilisation.

Mit dem Ende des Kolonialismus ist jedoch die Verführungskraft der Idee der "mission civilisatrice" nicht vorüber. Wie sich im eingangs zitierten Ausschnitt aus der Rede Nicolas Sarkozys erkennen lässt, ist die Vorstellung einer modernen Welt, der sich die zurückgebliebenen Afrikaner anzuschließen hätten, nicht ausgestorben, sondern sehr lebendig. Sie findet auch in Deutschland ihre Analogien in den laufenden Diskursen über "Staatszerfall" und "neue Kriege". Dieser Diskurs setzt sich um in Interventionen, um eine neue Ordnung einzuführen, von deren moralischer Überlegenheit man bei allen Schwierigkeiten der Implementierung gleichwohl überzeugt ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nicolas Sarkozy, Allocution de M. Nicolas Sarkozy, Président de la République, prononcée à l'Université de Dakar, in: http://www.elysee.fr/elysee/root/bank/print/
    79184.htm, (13.9. 2007).

  2. Vgl. etwa die Reaktionen von Jean-François Bayart:, Y a pas rupture, patron!, in: Le Quotidien (Dakar) vom 9. 8. 2007, oder des senegalesischen Oppositionspolitikers El Hadj Hamidou Diallo: Nico la gaffe, Sarko l'immigré, in: Wal Fadjiri (Dakar) vom 28. 7. 2007 sowie der senegalesischen Historikerin Ibrahima Thioub, A Monsieur Nicolas Sarkozy, www.ldh- toulon.net/spip.php?article2193, (10.8. 2007).

  3. Maral Amiri, Discours de Sarkozy à Dakar: Bockel défend, De Villepin déplore. L'allucation du Président français est toujours l'objet de polémiques, www.afrik.com/article12411.html, (12.9. 2007).

  4. Vgl. Katrin Radtke/Klaus Schlichte, Bewaffnete Gruppen und die moralische Ökonomie der Diaspora, in: Jens Beckert et al. (Hrsg,), Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen, Frankfurt/M. 2004, S. 181 - 194.

  5. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 19855, S. 32.

  6. Vgl. Reinhardt Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten, Frankfurt/M. 1979.

  7. Über das Feld der französisch-afrikanischen Beziehungen liegen eine Reihe von guten Monographien vor, allerdings keine über die jüngste Geschichte. Vgl. Toni Chafer, End of Empire in French West Africa, London 2002; Stefan Brüne, Die französische Afrikapolitik. Hegemonialinteressen und Entwicklungsanspruch, Baden-Baden 1995.

  8. Vgl. hierzu die Berichte der NGO "Agir-Survie", Dossiers Noirs de la politique africaine de la France n° 1 - 5, Paris 1996; Steven Smith/Antoine Glaser, Ces Messieurs Afrique: le Paris-village du continent noir, Paris 1992.

  9. Jean-François Bayart, Les chemins de traversse de l'hégémonie coloniale en Afrique de l'Ouest francophone: anciens esclaves, anciens combattants, nouveaux Musulmans, in: Politique africaine, (2007) 105, S. 201 - 240.

  10. Vgl. Klaus Schlichte, La Françafrique. Postkolonialer Habitus und Klientelismus in der französischen Afrikapolitik, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 5 (1998) 2, S. 309 - 342.

  11. Vgl. Gregory Mann, Native Sons. West African Veterans and France in the Twentieth Century, Durham 2006.

  12. Vgl. Philippe Hugon, La politique économique de la France en Afrique. La fin des rentes coloniales?, in: Politique africaine, (2007) 105, 54 - 69.

  13. Vgl. ebd., S. 66.

  14. Vgl. Roland Marchal, Chad/Darfur: How two crises merge, in: Review of African Political Economy, (2006) 109, S. 467 - 482.

  15. Vgl. Julien Meimon, Que reste-t-il de la coopération français?, in: Politique africaine, (2007) 105, S. 27 - 53.

  16. Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Françoise Vergès, La République coloniale. Essai sur une utopie, Paris 2003.

Dr. phil., geb. 1963; Professor für Politikwissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Universitätsplatz 2, 39106 Magedburg.
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