2019 ließ sich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine fast ausschließlich von Ostdeutschen ausgetragene Kontroverse über den Anteil der DDR-Bevölkerung an der Friedlichen Revolution verfolgen. Während der Soziologe Detlef Pollack von einem "Aufstand der Normalbürger" sprach,
Bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 16,8 Millionen erscheint die Zahl der von der Staatssicherheit erfassten aktiven Oppositionellen gegenüber den zuletzt 2,3 Millionen SED-Mitgliedern, zu denen noch etwa 470.000 Mitglieder der vier "Blockparteien" kamen, mit wenigen Hundert als verschwindend gering. Der sich daraus ergebende Schluss auf ein hohes Maß an Systemanpassung in der Bevölkerung lässt sich bei näherer Betrachtung in dieser Verallgemeinerung jedoch nicht aufrechterhalten. Die Bundesrepublik war für viele Menschen aus der DDR die "Beziehungsgesellschaft" (M. Rainer Lepsius). Befragungen von Bürgern aus der DDR, die in der Bundesrepublik zu Besuch waren, erbrachten zwischen 1968 und 1990 unter anderem, dass 90 Prozent der DDR-Bürger über Jahrzehnte hinweg die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik für besser hielten als die im eigenen Land. Außerdem "wollten bereits Ende der 70er Jahre zwei Drittel der DDR-Bevölkerung lieber in der Bundesrepublik leben".
Wahrnehmungsblockaden
Wer die Gesellschaftsgeschichte der DDR analysiert, kann sich nicht an der pauschalierenden Gegenüberstellung von Systemnähe und Opposition orientieren, sondern muss vor allem das in der Bevölkerung überwiegende Distanzverhalten differenziert in den Blick nehmen, das besonders in der jungen Generation seit Mitte der 1970er Jahre stark angewachsen war.
Der Bürgerrechtler und Verleger Klaus Wolfram stellt die "schlechten Umgangsformen der Denkzettel-Demokratie" in einen direkten Zusammenhang mit den heutigen Wahlerfolgen der AfD.
Die gegenwärtige ostdeutsche Gesellschaft ist in ihren Mentalitätsstrukturen nicht allein aus ihrer DDR-Geschichtstradition zu erklären, sondern auch als Reflex auf die abwertende Einordnung durch eine westdeutsche Sichtweise, die als gesellschaftsspezifische Wahrnehmungsverzerrung charakterisiert werden kann. Der fehlende Respekt, den viele Ostdeutsche – zumal in den älteren Generationen – gegenüber ihren individuellen Lebensleistungen vermissen und empfinden, ist für die Distanzierung von westdeutschen Wahrnehmungsmustern ein entscheidender Grund. Um diesem Umstand zu begegnen, wäre es erforderlich, die Beiträge der Ostdeutschen zu einer gesamtdeutschen Geschichte angemessen zu würdigen und entsprechende politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Da die DDR als politische Diktatur auch ökonomisch gescheitert ist, rückt die Kultur in den Mittelpunkt einer solchen Betrachtung. In Zeiten der staatlichen Teilung Deutschlands wurde die "Einheit der deutschen Kultur" als nationales Bindeglied verstanden. Diese gemeinsame Wahrnehmung wurde nach der Friedlichen Revolution bereits ab 1990 durch den "Literaturstreit" sowie einen "Bilderstreit" maßgeblich beeinträchtigt. Während der Literaturstreit vornehmlich um Christa Wolfs frühe, wenig belastbare Mitarbeit für die Staatssicherheit geführt wurde,
Bilderstreit
Bereits kurz nach dem Mauerfall brach im Windschatten der Wiedervereinigungseuphorie ein Streit um den Stellenwert der unter den Bedingungen eines diktatorischen Regimes entstandenen Kunst aus. Der Künstler Georg Baselitz konstatierte im Juni 1990, dass auch im Westen bekannte, 1977 auf der Documenta 6 prominent präsentierte Künstler aus der DDR wie Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer überhaupt keine Künstler seien. "Keiner von denen hat je ein Bild gemalt. Die haben an Wiederherstellungen gearbeitet, an Rekonstruktionen, aber nichts erfunden."
Im Herbst 1990 markierte die Ausstellung "Bilder aus Deutschland" in Köln, die ausschließlich der Sammlung Ludwig zugehörige Kunst aus der DDR präsentierte, mit einer Auswahl von 27 Künstlerinnen und Künstlern eine erste Gegenposition. Denn sie wies jenseits von politisch-moralischen Frontstellungen auch auf die zerfließenden "Grenzen zwischen Ost und West" in den Werken der jüngeren Generation hin.
In der Rezeption von Kunst aus der DDR wurde häufig scharf zwischen einer staatsaffirmativen, von rückwärtsgewandtem Historismus getragenen Figuration und einer nonkonformistischen Abstraktion mit Anschlussbemühungen an die verdrängte Moderne unterschieden – eine Polarisierung, in der die spezifischen Lebenswelten von ostdeutschen Künstlern nach dem Mauerbau ebenso ausgeblendet wurden wie ihre sinnstiftende Rezeption in der DDR-Gesellschaft. Wie im Kalten Krieg blieben Abstraktion und Realismus in der westdeutschen Bewertung von ostdeutscher Kunst konfrontative Sprachformen, obwohl diese sich im Stilrepertoire der 1980er Jahre mit größter Selbstverständlichkeit ineinander verwoben hatten und eine auf subjektive Expressivität ausgerichtete Ästhetik hervorbrachten.
Als die Neue Nationalgalerie in Berlin im Rahmen einer Neuhängung ihrer Bestände 1993 Kunstwerke von Malern aus der DDR einbezog, die über den Staatlichen Kunsthandel der DDR in ihren Besitz gelangt waren, wurden wechselseitige Ressentiments offenkundig. Zu den Ausschlussforderungen westdeutscher Kritiker gesellten sich nun auch Vorbehalte aus der jüngeren ostdeutschen Kunstszene, die den Bildern von sogenannten Staatskünstlern wie Willi Sitte und Bernhard Heisig ein Qualitätspotenzial absprachen und gleichzeitig die Ausgrenzung von unangepassten Künstlern der jüngeren Generation monierten.
Solche Tendenzen setzten sich fort, als 1998 der ostdeutsche Ausstellungsmacher Christoph Tannert zusammen mit 58 Personen aus der inoffiziellen Kunst- und Dissidentenszene offene Kritik an der Einbeziehung von Bernhard Heisig in die künstlerische Ausgestaltung der Parlamentsgebäude im Berliner Reichstag übte. Eine Gegeninitiative des Malers Hartwig Ebersbach, Heisig-Schüler und wesentlicher Akteur innerhalb der nonkonformistischen Kunstszene, führte zu einer öffentlichen Austragung des Bilderstreits und lenkte den Konflikt über den Fall Heisig hinausgehend auf die eklatante Unterrepräsentanz ostdeutscher Künstler an diesem staatsrepräsentativen Projekt der "Kunst im Deutschen Bundestag".
Die Abwertung von Kunst aus der DDR kulminierte 1999 in der Weimarer Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne". Während die klassische Moderne in den Räumen des Schlosses inszeniert wurde, platzierten die westdeutschen Ausstellungsmacher mit eklatantem Dilettantismus die sogenannte Antimoderne in Gestalt von Nazikunst aus Hitlers nachgelassenen Beständen und Kunst aus der DDR unter dem gemeinsamen Dach einer ehemals zum Gauforum gehörenden Mehrzweckhalle. Auftragsarbeiten aus DDR-Staatsdepots mischten sich hier mit einzelnen Werken inoffizieller Provenienz in willkürlich dichter Hängung auf mit Packpapier bezogenen Wänden.
Jenseits solcher polemischen Auswüchse verlagerten sich die Kunstdebatten zunehmend auf die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft in der DDR sowie auf historische Kontexte, die ost- und westdeutsche Kunst im Gefolge des Zivilisationsbruchs von Auschwitz gleichermaßen durchlebt hatten.
Bildersuche contra Ausgrenzung
Impulse gingen dazu 1997 von zwei Berliner Ausstellungen aus. Im Martin-Gropius-Bau unternahm die Berliner Ausstellung "Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land" unter der Regie von Eckhart Gillen erstmals die Sondierung von gemeinsamen Konflikthorizonten bei ost- und westdeutschen Künstlern vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zwischen nationalsozialistischer Machtergreifung und Blockbildung im Kalten Krieg.
2003 kam die Neue Nationalgalerie vornehmlich den Erwartungen in den ostdeutschen Bundesländern entgegen. Ihre umfassende Retrospektive "Kunst in der DDR" zielte darauf, das inzwischen vielfach abgewertete künstlerische Erbe der DDR zu rehabilitieren. Die Kuratoren Roland März und Eugen Blume trugen rund 400 Exponate von 145 Künstlern aus allen Regionen und Zeitspannen zwischen 1946 und 1990 zusammen, darunter viele Werke, die in der DDR unter Verschluss gehalten worden waren. Ihre Intention richtete sich darauf, die ausgewählte Kunst den Niederungen politischer Instrumentalisierung zu entziehen und – angelehnt an die Sichtweise der Moderne – einen Kanon zu bilden. Die Ausstellung fand in Berlin große Resonanz, während das Gastspiel in Bonn deutlich geringeren Anklang fand. Diffuse Ressentiments, die ihre Wurzeln in den wirtschaftlichen Problemen und mentalen Differenzen des Vereinigungsprozesses hatten, behinderten im Westen eine vorurteilsfreie Rezeption von Kunst aus der DDR.
Diese Tendenz schlug sich auch in der rückläufigen Wertschätzung von staatlich approbierter Kunst aus der DDR nieder, die das Aachener Sammlerehepaar Ludwig seit 1977 nach der Documenta 6, an der auch sechs von der DDR bestimmte ostdeutsche Künstler teilgenommen hatten, über den Staatlichen Kunsthandel in erheblichem Umfang erworben und seinen Vertragsmuseen eingegliedert hatte. Die 1983 zum Zentrum der Kunstbestände aus der DDR avancierte Ludwig Galerie Schloss Oberhausen blieb in der westdeutschen Kunstlandschaft ein Fremdkörper. Ihr Versuch, 2006 mit einer Ausstellung aus der Sammlung Ludwig ost- und westdeutsche Kunst "gleichberechtigt auf einer Augenhöhe" aus ihren künstlerischen Traditionen zu legitimieren,
Wie sehr die Kunst aus der DDR in der westdeutschen Wahrnehmung ins Abseits geraten war, zeigte sich in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 30. April 2009 eröffneten und staatlich mitfinanzierten Ausstellung "60 Jahre 60 Werke Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009", die ostdeutsche Kunst grundsätzlich ausklammerte. Aus naheliegenden Gründen sollte der Staat DDR in diesem bundesdeutschen Jubiläumsjahr nicht in Erscheinung treten. Aber auch die aus der DDR-Gesellschaft hervorgegangene Kunst, die sich nicht mit dem SED-Regime identifizierte, blieb von dieser Ausstellung ausgeschlossen.
Neue Impulse
Im Unterschied zum westdeutschen Desinteresse an der Kunst aus der DDR holten ostdeutsche Museen zunehmend ihre Bestände aus den Depots und unterzogen die Offizialkunst gleichermaßen wie die regionalen Gegen- und Nischenkulturen einer diskursiven Sichtung.
Der jahrelange Stillstand im deutsch-deutschen Verständigungsprozess über die Kunst aus der DDR erhielt erst durch die vielstimmigen Analysen eines Forschungsprojekts an der Technischen Universität Dresden innovative Impulse. In einer von dem Soziologen Karl-Siegbert Rehberg und dem Kulturwissenschaftler Paul Kaiser 2013 herausgegebenen Publikation zeichnet sich der Blick auf die sozialen Implikationen von Utopie, Irritation, Resignation, Rückzug und Ausbruch hinter den Werken als Voraussetzung eines genuinen Verstehens ab. Der Bilderstreit erweist sich hier in seinen Missverständnissen und Verwerfungen als Reflex auf die Probleme der Wiedervereinigung.
2019 suchten 30 Jahre nach dem Mauerfall eine ost- und eine westdeutsche Ausstellung nach Neubewertungen von Kunst aus der DDR. Die Ausstellungen "Utopie und Untergang" im Kunstpalast Düsseldorf und "Point of No Return" im Museum der bildenden Künste Leipzig hatten zwar unterschiedliche Auswahlkriterien für ostdeutsche Kunst, trafen sich aber in der Intention, die ausgestellten Werke aus politischen Polarisierungen zu lösen sowie ihre ästhetischen Qualitäten und Besonderheiten hervorzuheben.
Die wesentlich weiter dimensionierte Leipziger Ausstellung überraschte ihr Publikum mit zahlreichen unbekannten Exponaten, die jeweils mit individueller Sprachgestik sehr viel über individuelle Befindlichkeiten vor und nach der revolutionären Wende auszusagen vermochten. Die Kuratoren Paul Kaiser und Christoph Tannert trugen im Leipziger Bildermuseum ein breites Spektrum an gegenkulturellen und inoffiziellen Positionen zusammen. Sie machten damit ablesbar, dass deren Gesamtheit den Boden bereitete, auf dem sich dann im Umfeld der "Wende" politische Initiativen, Programme der Selbstbehauptung und Aufbrüche differenzierten. Sie hätte auch den Westdeutschen neue Perspektiven auf ostdeutsche Mentalitäten "jenseits der Staatskultur"
Schluss
Kaum ein Bild hat die mentale Disposition vieler Menschen, die in der DDR lebten, so anschaulich ausgedrückt wie Evelyn Richters Foto, das vor Wolfgang Mattheuers Werk "Die Ausgezeichnete" (1973) im Albertinum 1975 entstand (Abbildung). Schon Mattheuer hatte das sozialistische Wettbewerbspathos in Melancholie zurückverwandelt und damit das utopische Potenzial des SED-Staates entscheidend relativiert. Evelyn Richters Museumsbesucherin hat dem Gemälde den Rücken gekehrt – eine signifikante Abwendung mit dem subtilen Mittel einer Fotografie. Es wurde in der DDR nur wenige Male öffentlich gezeigt, erlangte aber eine sinnbildliche Erzählkraft, in der sich ein vielschichtiges Bild von der ostdeutschen Lebenswirklichkeit verdichtet hat.