Beobachtet man den Markt der öffentlichen Debatten und Aufmerksamkeit, dann ist das Thema "Ostdeutschland" in all seinen Facetten wieder zu einer wichtigen Größe geworden. Nach den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst 2019 und ganz besonders nach dem politischen Debakel im Thüringer Landtag im Frühjahr 2020, als der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich unter anderem mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, blickte die ganze Republik auf Ostdeutschland als Problemfall. Wenig später löste das Virus SARS-CoV-2 eine Pandemie aus, und als Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) im Zusammenhang mit den Eindämmungsmaßnahmen vor allem an die "besonderen Fähigkeiten" der Ostdeutschen appellierte, verschob sich der Fokus der Aufmerksamkeit. Ostdeutsche wüssten mit Krisen umzugehen und hielten sich besonders vorbildlich, weil diszipliniert, an die Restriktionen.
Meist werden Ostdeutsche als kollektive Gruppe aufgerufen,
Letztere zeigten in den vergangenen Monaten öffentlichkeitswirksame Bestrebungen der Identitätsfindung und des politischen Aktivismus als Ostdeutsche. So gründete sich nach der Europawahl 2019 die Initiative #wirsindderosten, die besonders erfolgreiche junge Ostdeutsche vorstellen wollte, die sich eindeutig gegen rechtsextremes Gedankengut stellen, sowie das linke Kollektiv "Aufbruch Ost", das unter anderem eine Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand fordert.
Solche Initiativen sind nicht neu. Es ist zu beobachten, dass ostdeutsche Generationenselbstbeschreibungen in einer Art Fünfjahresintervallen auftreten. 2002 beschrieb Jana Hensel mit ihrem Buch "Zonenkinder" erstmalig die Generation der jungen Ostdeutschen, die als Kinder noch die DDR erlebten und im vereinten Deutschland groß wurden. Fünf Jahre später folgte Robert Ide mit seinem Buch "Geteilte Träume". 2012 formierte sich, gefolgt von weiteren Selbstportraits,
Generationen-Transfer
Valerie Schönian, die 1990 geboren wurde, beschreibt in ihrem Buch "Ostbewusstsein", wie ihr journalistisches Interesse an ihrer eigenen ostdeutschen Identität bei ihren Verwandten auf Irritation stößt. Was haben die jungen Menschen denn noch mit Ost und West zu tun? Interessant ist dabei, woran Ostdeutsch- und Westdeutschsein festgemacht wird. Wenn ein Leben in der DDR nötig ist, um ostdeutsch sein zu können, dann haben "Nachwendekinder" keine ostdeutsche Identität mehr. Wenn aber der Raum Ostdeutschland nur als historisch-politischer (DDR) und geografischer Raum (neue Bundesländer) wahrgenommen wird, dann greift die Analyse zu kurz. Vielmehr ist Ostdeutschland ein diskursiver Raum, in dem gesellschaftliche Neuaushandlungen stattfinden.
Die Annahme, dass Fragen der Identität in den späteren Generationen immer weniger relevant werden, ist ambivalent zu betrachten. Eine quantitative Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur Nachwendegeneration zeigt, dass zwar nur 20 Prozent der jungen Ostdeutschen sich selbst als "Ostdeutsche" bezeichnen, aber knapp 65 Prozent der Meinung sind, dass Herkunft aus Ostdeutschland weiterhin eine Rolle im Alltag spielt.
Die Ost-West-Differenz bleibt auch für die Nachwendegeborenen eine Strukturkategorie, und sie wird es voraussichtlich noch einige Jahrzehnte bleiben. Empirisch ist nachweisbar, dass die ostdeutschen Bundesländer in so gut wie allen relevanten sozialstrukturellen Kennzahlen (Vermögen, Einkommen, Spitzenpositionen, Infrastruktur, Hauptsitz von DAX-Unternehmen) den westdeutschen Bundesländern noch immer unterlegen sind. Transformationsforscher*innen gehen davon aus, dass eine gesellschaftliche Transformation ungefähr 30 bis 50 Jahre andauert.
In meiner Dissertation habe ich die Alterskohorte der zwischen 1990 und 1995 Geborenen unter Berücksichtigung von Vertreter*innen aus den alten Bundesländern hinsichtlich ihrer Identität und Identifikation als junge Ost- beziehungsweise Westdeutsche mithilfe von Imitation Games und Gruppendiskussionen beforscht.
Ambivalente Solidarität mit der Elterngeneration
Bei den Ostdeutschen der Nachwendegeneration wird eine ostdeutsche Identität unter anderem über die eigenen Eltern beziehungsweise die Elterngeneration und die Aushandlung mit ihr und ihrer Identität hergestellt.
Für die Westdeutschen der Nachwendegeneration ist die Westsozialisation durch ihre Eltern nahezu irrelevant. Eine Teilnehmerin berichtet zwar von den Migrationserfahrungen ihrer Eltern und Fragen von Anpassung, Integration und Diskriminierung aufgrund von religiösen Symbolen in der Schule, die sie beschäftigt haben. Aber dass sich Eltern um 1990 einheitsbedingt neu einrichten mussten, ist keine allgemein geteilte Familienerfahrung der Westdeutschen, sodass sie auch keine Position dazu einnehmen müssen.
Abwertungserfahrungen als Katalysator der Identifikation
Junge Ostdeutsche reagieren stark auf Abwertungen und Pauschalisierungen von Ostdeutschland und Ostdeutschen. Angesprochen werden dabei die Darstellung der Ostdeutschen als rechtsextrem, eine einseitige mediale Berichterstattung sowie Witze über Ostdeutsche. Auch die schulische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit wird kritisch diskutiert. Der Geschichtsunterricht ist demnach geprägt von Stasi, SED und Diktatur,
In den Gruppendiskussionen findet bei den jungen Ostdeutschen eine Zugehörigkeit zum Ostdeutschsein spätestens in dem Diskurs über Abwertungen Zustimmung. Als Beispiel ist die Aussage einer Teilnehmerin der Gruppendiskussion in einer nordostdeutschen Großstadt zu nennen: "Ich weiß nicht, ich identifizier mich quasi nicht aktiv. Also ich sag nicht aktiv, hej ich bin aus dem Osten, aber quasi wenn es woanders kommt und wenn wer anderes sagt, das ist total scheiße. Dann denke ich mir schon, na ich bin ja schon von hier und ich weiß es ist anders. (…) Ich bin aus dem Osten und ich muss meine Heimat jetzt verteidigen (…)."
Der Osten als das "Andere", der Westen als die "Norm"
Auffällig in der Nachwendegeneration ist, dass die ostdeutsche Identität sehr schnell in den Aussagen der jungen Ostdeutschen sichtbar wird. So haben einige der Teilnehmer*innen in den ostdeutschen Gruppendiskussionen teilweise gleich zu Beginn nach der allgemeinen Frage zu "Identität" Ostdeutschsein als einen wichtigen Aspekt der eigenen Identität angesprochen. In den westdeutschen Gruppendiskussionen hingegen wurde westdeutsche Identität über die gesamte Dauer als Selbstzuschreibung überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen konnte nur über das eigene Westdeutschsein nachgedacht werden, in dem über die "Anderen", die Ostdeutschen, gesprochen wurde. Während einerseits eine westdeutsche Identität abgelehnt wurde, gab es durchaus Aussagen und Zuschreibungen zu Ostdeutschen. Das Muster lautete meist, dass es eigentlich keine relevanten Unterschiede mehr in der Nachwendegeneration gebe, aber die Ostdeutschen hier und da ja schon besonders seien.
Diese Ungleichheit in der Benennung der Kategorien führe ich auf das "Othering" von Ostdeutschen zurück, das sich daraus ergibt, dass "westdeutsch" als hegemoniale Norm angenommen wird und somit in den Zuschreibungen unsichtbar bleibt, während alle "Anderen" immer wieder als soziale Gruppe thematisiert werden und somit auch sichtbar gemacht und bewertet werden können. Othering entstammt als Konzept der postkolonialen Theorie
Durch die westdeutsche Dominanz im Diskurs über Differenz ergeben sich auch Analogien zu Gruppen, die im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ebenfalls als "Andere" markiert sind. So scheint etwa bei der Verbindung von Aspekten der Identitäts- und Diskursforschung über Ostdeutschland mit der vielfältigen Forschung zu Migration und Integration
So zeigt sich, dass für junge Ostdeutsche das Ostdeutschsein nicht nur deshalb relevant wird, weil sich sozioökonomische Unterschiede auch durch die regionale Herkunft erklären lassen und durch die Erwerbsbiografien und das Übertragen von Kapitalien der Eltern aus der DDR auf ihre Kinder,
Fazit
Im Zuge des 30-jährigen Jubiläums von Friedlicher Revolution, Mauerfall und Beitritt der neuen Bundesländer wird die Debatte um die Ost-West-Differenzen wieder neu geführt. Viele alte Aspekte spielen dabei weiterhin eine Rolle, aber neue Stimmen sind hinzugekommen. In der Bundesrepublik als plurale Gesellschaft 60 Jahre nach dem Wirtschaftswunder, 55 Jahre nach den Anfängen der Einwanderungsgesellschaft, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, fünf Jahre nach dem "Sommer der Migration" und zu Zeiten einer grassierenden Pandemie ist es wohl angebracht, die Vielschichtigkeit der Gesellschaft anzuerkennen und alte Pfade, in denen nach kultureller Einheit gesucht wird, zu verlassen.