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Zum Ende der "alten" Bundesrepublik - Essay | Deutsche Einheit | bpb.de

Deutsche Einheit Editorial Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand Der Osten als Problemzone? Eine Skizze zur ostdeutschen Soziopolitik Zum Ende der "alten" Bundesrepublik Integrationsbeitrag und Verteilungskonflikt. Geschichte und Perspektiven des Solidaritätszuschlags Vietdeutschland und die Realität der Migration im vereinten Deutschland Deutsch-deutsche Identitäten in der Nachwendegeneration Bilderstörung. Fehlwahrnehmungen im deutschen Verständigungsprozess am Beispiel der Kunst

Zum Ende der "alten" Bundesrepublik - Essay

Edgar Wolfrum

/ 10 Minuten zu lesen

Mit der Wiedervereinigung erhielt Deutschland, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Welt seinen negativen Stempel aufgedrückt hatte, eine zweite Chance, wie sie selten vorkommt. Die Bundesrepublik hat sich seither erheblich verändert. Das Land ist territorial größer und bevölkerungsreicher geworden, und die Berliner Republik ist in die Rolle einer kontinentalen Großmacht mit weltpolitischem Gewicht geschlüpft. 1990 löste sich ein europäisches Jahrhundertproblem, die deutsche Frage, denn drei Dimensionen wurden geklärt: erstens, wo Deutschland lag und wo seine Grenzen verliefen, zweitens, ob Freiheit oder Einheit der Vorrang gebührte, denn nun gab es eine Vereinigung in Frieden und Freiheit, und drittens war Deutschland kein Problem der europäischen Sicherheit mehr, es war in die Europäische Union, die Nato und viele andere Organisationen supranational eingebunden.

Deutschland stieg nach 1990 in die erste Liga der Staatengemeinschaft auf. Wirtschaftswunderland war die "alte" Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre gewesen, der Slogan "Wohlstand für alle" ihr Gründungsmythos. Infolge der Deutschen Einheit kam zur Wirtschaftsmacht ein politischer Aufstieg hinzu, im Zuge einer Karriere sondergleichen, den das Land erst akzeptieren musste. Viele hatten es sich bequem gemacht und sich in einer Art "Superschweiz" eingehaust. Die Erwartungen von außen waren enorm, vor allem die USA wünschten sich Deutschland als Juniorpartner in der Welt. Dass viele Wünsche sich nicht erfüllten, lag auch am deutschen Selbstzweifel sowie an inneren, gesellschaftlichen und vergangenheitspolitischen Beschränkungen.

Diese hatten sich in einer langen Periode ausgebildet, in der sich die Westdeutschen im Generationenwechsel mit der Demokratie versöhnten. Die Bundesrepublik war und ist eine Wohlstandsgesellschaft mit hoher Reformfähigkeit. Die deutsche Demokratie hat sich seit 1949 immer gewandelt, mal allmählich und still, mal rasch und ungestüm, sodass sich mit der Zeit ein Konsens der Demokraten entwickeln konnte. Zur lernenden Demokratie kam nach der Friedlichen Revolution der Ostdeutschen 1989 die eroberte Freiheit, und alles bündelte sich in der erwachsen gewordenen, europäisch eingebetteten Berliner Republik. Das war ein aufregender Prozess, der noch nicht an sein Ende gelangt ist. Und er verlangte den Ostdeutschen einen radikalen Umbruch ab, während die Westdeutschen scheinbar von der Wiedervereinigung kaum betroffen waren und fast alles so blieb, wie es war. Dies ist ein Trugschluss. Das ganze Land trat in eine Phase tief greifender Veränderungen ein.

Provisorium Bonn?

Im Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung war es – rückblickend betrachtet: paradoxerweise – zu einer Selbstanerkennung der "alten" Bundesrepublik gekommen. Fast 40 Jahre lang hatten sich dieser Staat und die westdeutsche Gesellschaft konfliktreich Identitätsfragen gestellt, nun verabschiedete man sich vom Provisorium. Die Bundesrepublik war offensichtlich zu einem Definitivum geworden, zu einem ganz normalen Staat mit eigenständiger Staatsräson und einem angesehenen Platz im westlichen Bündnis. Atlantikpakt, (west)europäische Integration und Entspannung durch Ostpolitik – das war die außen- und deutschlandpolitische Trias, die die deutsche Gesamtnation als Ordnungsrahmen gar nicht mehr benötigte. Die Wiedervereinigung sei, so verlautete es immer wieder, zur Lebenslüge geworden.

Im Inneren zeugte die Geschichtspolitik davon, wie man auf dem Weg zu einer "normalen" Nation Bundesrepublik war: Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sollte Identität stiften und die Hauptstadtarchitektur krönen. Wer zweifelte noch daran, dass Bonn, die Stadt im Westen, die so sehr für (West-)Europa stand, zur dauerhaften Hauptstadt geworden war? Durch Aus- und Versöhnungsfeierlichkeiten sollten die Deutschen mit ihrer Geschichte ins Reine kommen: François Mitterrand und Helmut Kohl standen 1984 vor den Soldatengräbern von Verdun symbolträchtig Hand in Hand. Richard von Weizsäcker würdigte 1985 in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa den 8. Mai als einen "Tag der Befreiung", und das Identitätskonzept eines "Verfassungspatriotismus" entfaltete eine gewisse Strahlkraft. In einem mühsamen und langen Prozess, der im Historikerstreit von 1986 kulminierte, wurde der Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus konstitutiv für den bundesdeutschen Rechtsstaat und dessen Westbindung. All das stiftete den Westdeutschen "nationale" Identität und öffnete ihnen zugleich das Tor zum universellen Wertekosmos.

Am Vorabend der "unverhofften Einheit" schien es vielen, als habe sich die Bundesrepublik Deutschland nach 40 Jahren selbst anerkannt. Dann stand plötzlich die Chance der Wiedervereinigung vor der Tür. Wie ein erratischer Block ragte die Rückkehr der Nation in die allgemeine Entwicklungstendenz dieser Zeit hinein. Denn seit den 1970er Jahren hatte sich die Bedeutung von Territorialität und Nationalstaat zugunsten von regionalen, europäischen und globalen Tendenzen reduziert. Die Selbstzufriedenheit und Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wurde ab 1990 zum Problem: Man hatte gedacht, die Deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen und im Handumdrehen "blühende Landschaften" schaffen zu können.

Der Trennungsschmerz vom Alten zeigte sich ganz offensichtlich bei der knappen Entscheidung vom 20. Juni 1991: In einer Kampfabstimmung entschied der Bundestag, von Bonn Abschied zu nehmen und Berlin zur Hauptstadt zu küren. Erfolg und Jubel für die einen, Niederlage und blankes Entsetzen für die anderen: 338 Abgeordnete stimmten für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland, 320 votierten für Bonn, darunter die Mehrheit der Parlamentarier aus der "alten" Bundesrepublik. In Bonn sei doch alles gut gewesen, der kleine Regierungssitz stehe für Modernität, westliches Demokratiemodell und europäische Einbindung. Außerdem sei der Umzug teuer. Aber Berlin? War das nicht das "böse" Deutschland? Die Kapitale des militaristischen Preußens, wilhelminisch durchsäuert und vor allem Hitlers Reichshauptstadt? Viele priesen nun das kleine, verschlafene und brave Bonn und schienen zu vergessen, was sie während der 40-jährigen Teilung Deutschlands immer beschworen hatten: dass Berlin natürlich die Hauptstadt eines dereinst wiedervereinigten Landes sei. Bonn gegen Berlin, was wurde da nicht alles hochstilisiert: Bundestaat gegen angeblichen Zentralstaat, "altehrwürdige" Länder gegen neue Länder, Rheinland gegen Preußen, Westbindung gegen Ostdrift, christliches Abendland gegen entchristlichter Osten. Ein Lichtblick war, dass die meisten prominenten Politiker von Willy Brandt bis Richard von Weizsäcker sich für Berlin einsetzten. Die Abgeordneten aus dem Osten taten das ohnehin, denn das neue Deutschland dürfe doch keine "vergrößerte alte Bundesrepublik" sein, empörten sie sich. So begann die "Berliner Republik" im Streit, und die Hälfte der Volksvertreter wollte sie gar nicht. Hat sich damit Deutschland verändert?

Mythos Mitte

Im Inneren ist die "neue" Bundesrepublik viel heterogener, als es die "alte" je war. Niemals zuvor in der deutschen Geschichte hatte es einen Staat gegeben, der in seiner Struktur so homogen, so ausgeglichen war wie die "alte" Bundesrepublik. Das betraf die großen politischen Lager, das betraf die Konfessionen mit einem fast ausgeglichenen Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten, das betraf die föderale Gliederung und die Regionen mit je eigenen "Hauptstädten" ohne zentralstaatliche Dominanz: Wo es kein Zentrum gab, gab es auch keine Peripherie.

Maß und Mitte wurden geradezu mystifiziert. Auf die gesellschaftliche Mitte war lange Zeit Verlass gewesen. Nach der Hyper-Emotionalisierung durch den Nationalsozialismus waren die Deutschen nach 1945 zur Ruhe gekommen, zuerst aus Erschöpfung, dann aus Einsicht. Sie haben seither auch in schwierigen Zeiten ihre Fassung und Ausgewogenheit bewahrt. Eine "Politik des mittleren Weges" war charakteristisch für die "alte" Bundesrepublik und unterschied sie von anderen Industriestaaten. Diese lag zwischen zwei Polen: dem nordeuropäischen Wohlfahrtskapitalismus und dem nordamerikanischen marktorientierten Kapitalismus. In die bundesdeutschen Normen und Institutionen war dies eingeschrieben: Die soziale Marktwirtschaft, die Sozialpartnerschaft und die Verflechtung von Industrie, Banken sowie ihren Aufsichtsräten mitsamt ihren Vertretern der Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberseite galten als Markenzeichen eines "Modells Deutschland"; der Sozialstaat von der dynamischen Rente und dem Lastenausgleich seit den 1950er Jahren bis zum Wohlfahrtsstaat mit Pflegeversicherung 30 Jahre später war die alles umspannende gesellschaftliche Integrationsklammer; die D-Mark als harte "Weltwährung" war nationales Identitätssymbol, und die Menschen glaubten, in einer zwar nicht besonders innovationsfreudigen, aber soliden "Fahrstuhlgesellschaft" zu leben, in der es immer nach oben ging.

Ende alter Gewissheiten

Doch das bundesdeutsche Sozialstaatsmodell, das 1990 auf Ostdeutschland übertragen wurde, war in die Jahre gekommen. Längst fällige Reformen wurden gestoppt und unter dem Diktat der Zeit nicht mit dem Prozess der Deutschen Einheit verknüpft. Erst als die Rahmenbedingungen sich erheblich verschlechtert hatten, schellten die Alarmglocken. Mit der Agenda 2010 endete die politische Logik der westdeutschen Nachkriegszeit, die von einem stetigen Ausbau der Wohlfahrtsstaatlichkeit ausging und kaum mehr haltbare Sozialstaatsgarantien kontinuierlich weiter versprach. Die "alte" Bundesrepublik hatte in den 1980er Jahren Rekordstände der Massenarbeitslosigkeit und eine Spaltung zwischen wohlhabenden Beschäftigten und Arbeitslosen erlebt. Doch nun trieb der Niedriglohnsektor die soziale Ungleichheit voran – immer mehr "arbeitende Arme" kamen hinzu. So erwiesen sich die 1990er und frühen 2000er Jahre als "doppelter Umbruch", denn es folgten Wandlungen nicht nur im Osten. Entscheidend war: Der neoliberale Umbau der sozialistischen Gesellschaften führte mit Verzögerungen zu analogen "Ko-Transformationen" im Westen.

Die Fixierung auf die "innere Einheit" ließ alte, aber nicht gelöste Konflikte in den Hintergrund treten. In der "alten" Bundesrepublik gab es seit den 1960er Jahren ein Süd-Nord-Gefälle; es besteht bis heute. Der Länderfinanzausgleich ist deshalb erfunden worden. Blickt man nur auf die durchschnittlich verfügbaren Einkommen der Privathaushalte in den gegenwärtigen 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten, war der wohlhabendste Landkreis 2019 Starnberg bei München, wohingegen Gelsenkirchen das Schlusslicht bildete. Halle an der Saale hatte den niedrigsten Durchschnitt im Osten, rangierte jedoch noch deutlich vor Duisburg im Westen. Teile des Ruhrgebietes, des Saarlandes und Niedersachsens lagen weit zurück, also nicht allein Ostdeutschland, wo es neben ärmeren Kreisen auch reichere gibt.

Kaum eine andere Demokratie verfügte über ein beständigeres Parteiensystem und stabilere Koalitionsregierungen als die "alte" Bundesrepublik, was sich auch in dem am Ende der 1950er Jahre viel zitierten Satz "Bonn ist nicht Weimar" spiegelte. Dieser Zustand war spätestens um die Jahrtausendwende einem unübersichtlicheren Parteiensystem gewichen, das die Erosion der alten Volksparteien SPD und CDU/CSU mit sich brachte. Die Gesellschaft war vielfältiger, individualistischer und streitlustiger geworden. Dies warf die Frage auf, wo die Schnittmengen zwischen den einzelnen Lagern und Parteien zu suchen waren. Das bundesdeutsche Parteiensystem hatte seit 1949 mehrere Phasen durchlaufen: Der Neuformierungsphase nach dem Krieg war eine Konsolidierungsphase in den 1950er Jahren gefolgt. Schließlich hatte sich auf Bundesebene das Dreiparteiensystem von Union, SPD und FDP herausgebildet, auf dessen Höhepunkt in den 1970er Jahren den beiden Volksparteien Union und SPD 91 Prozent der Wählerstimmen zukommen sollten. Mit Beginn der 1980er Jahre hatte eine kleine Pluralisierung eingesetzt, als die Grünen hinzukamen, die CSU mit der Unions-Fraktionsgemeinschaft haderte und sich am rechten Rand verschiedene Gruppen formierten. Einen Fragmentierungsschub hatten die Neugründungen während der Friedlichen Revolution bewirkt, und ein Jahrzehnt später konnte sich die Linke als gesamtdeutsche Partei etablieren. Die Bundestagswahl im September 2017 stellte als Summe aller Wandlungen in der Berliner Republik das traditionelle politische System der "alten" Bundesrepublik endgültig auf den Kopf. Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 hatten sowohl die Union als auch die SPD so schlechte Ergebnisse erzielt. Hingegen zog die rechtspopulistische AfD als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag ein – das Tabu, das die Geschichte scheinbar auferlegt hatte, war gebrochen.

Alte Gewissheiten verschwanden auch auf außenpolitischem Gebiet. Die Geschichte, so ließen sich 1989/90 viele einreden, sei an ihr Ende gelangt, der liberale Kapitalismus habe weltweit gesiegt, und es würde sich eine lange friedliche Ära, ein neues goldenes Zeitalter fortwährender Glückseligkeit ausbreiten. Stattdessen begannen militärische Konflikte, zunächst in Südosteuropa, dann auf der ganzen Welt, und in diesem Zeitalter der "neuen Kriege" wandelte sich die außenpolitische Stellung und militärische Rolle Deutschlands fundamental. Deutschland wurde wieder zu einer Krieg führenden Nation. Das für die "alte" Bundesrepublik so zentrale Credo "Nie wieder Krieg" veränderte sich, und der kategorische Imperativ hieß von nun an "Nie wieder Auschwitz". Krieg müsse geführt werden, um Schlimmeres zu verhindern: Völkermord.

Beim Zweiten Golfkrieg, der im Januar 1991 begann, hatte sich Deutschland in einer Art und Weise beteiligt, wie bis dahin die "alte" Bundesrepublik immer: Es zahlte die Rechnungen. Diese "Scheckbuchdiplomatie" war sprichwörtlich geworden. Im Irak-Krieg gegen Saddam Hussein ab 2003, den die USA mit einer "Koalition der Willigen" führte, verweigerte Deutschland die Gefolgschaft. Dass sich die Bundesrepublik solchermaßen von der einstigen Schutzmacht emanzipierte, war Ausdruck eines neuen deutschen Selbstbewusstseins und bedeutete einen ungeheuerlichen Vorgang. Es handelte sich nicht um die erste Krise im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Seit Ende der 1950er Jahre war es immer wieder zu Spannungen gekommen, sei es während der Berlin-Krise von 1958 bis 1961, der Ostpolitik Willy Brandts oder der Nachrüstungsdebatte in den frühen 1980er Jahren. Doch in Zeiten des Kalten Krieges und der Semisouveränität der "alten" Bundesrepublik waren die Kräfte der Einigung und die des Nachgebens stark. Das, was 2003 geschah, war ein Bruch mit der außenpolitischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland.

Der Irak-Krieg spaltete Europa. Während sich die großen (west)europäischen Gründungsstaaten Frankreich und Deutschland verweigerten, stellten sich die osteuropäischen Länder an die Seite der USA. Dabei war für viele Osteuropäer traditionell Berlin eine Hoffnung. Besonders Politiker aus Polen und Ungarn wiesen gern auf die Schlüsselrolle der deutschen Hauptstadt hin. Einem gängigen Bonmot zufolge war Berlin der einzige Ort, an dem man den Westen erleben konnte, ohne den Osten ganz zu verlassen. Manche Westeuropäer betrachteten das deutsche Faible für den Osten durchaus skeptisch, nicht selten kam Argwohn auf, wie schon bei der Neuen Ostpolitik. Vom traditionellen, ja Jahrhunderte alten "Ostdrang" der Deutschen war die Rede – und das Ergebnis würde Deutschlands Stellung als Zentralmacht Europas stärken. War Deutschland ein ehrlicher Makler und eine sanfte Führungsmacht, der es vor allem darum ging, den Konsens unter den europäischen Partnern herzustellen?

Neues Selbstverständnis

Die "alte" Bundesrepublik stand in der moralisch-politischen Pflicht gegenüber Ost- und Ostmitteleuropa, wo sich seit Ende der 1970er Jahre Freiheitsbewegungen formierten. Mit solchen Bewegungen in ihrer eigenen Geschichte taten sich die Deutschen lange schwer. Wer in Aufständischen und Freiheitskämpfern seit den Bauernkriegen nur meuternde Rotten zu erblicken vermochte, hatte ein Problem damit. Die freudigen Menschenmassen bei der Maueröffnung am 9. November 1989 konnten daran etwas ändern, endlich eine Revolution von unten. Bis 1990 bezog sich das westdeutsche Geschichtsbewusstsein hauptsächlich auf eine negative Erinnerung an den Nationalsozialismus, die Kontrastfolie war für die "geglückte Demokratie". Nun kamen positive Bezugsereignisse hinzu, vor allem 1918 und 1989 – zwei deutsche Revolutionen. Deutschland ist nicht mehr das Land der ausgebliebenen oder gescheiterten Revolutionen. Die Bundesrepublik vermag ihre Identität nicht zu denken, ohne die Katastrophe zweier Weltkriege, ohne das "Dritte Reich", ohne das Menschheitsverbrechen der Shoah. Aber zwischen den Nationalsozialismus und der Berliner Republik hat sich wie ein Puffer die Erfolgsgeschichte der "alten" Bundesrepublik gelegt, und zusammen mit der Friedlichen Revolution von 1989 veränderte dies nicht nur das Geschichtsbild, sondern auch das Selbstverständnis.

ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur deutschen und europäischen Geschichte. edgar.wolfrum@zegk.uni-heidelberg.de