Manche Historiker, die in langen historischen Bahnen des zu sich selbst gekommenen Westens denken, haben die DDR zur "Fußnote" in der Entwicklung der Bundesrepublik erklärt.
Das erstaunt vor allem deshalb, weil es sich bei der Wiedervereinigung um ein soziologisches Experimentierfeld par excellence handelt: Was kann für Soziologen spannender sein als das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher, antipodischer, politisch-militärisch sogar verfeindeter Gesellschaften mit dem Ziel der Vereinigung? Ein besseres soziologisches Labor kann man sich nicht vorstellen, zumal damit die Gelegenheit verbunden war, die gesellschaftliche Entwicklung von Anbeginn mit dem gesamten Instrumentarium der Sozialforschung zu begleiten. Allerdings gelang es weder im Fachdiskurs noch in den internationalen Debatten, die spezifische ostdeutsche Transformationsgeschichte so aufzubereiten, dass sie als Brennglas für eine verallgemeinerbare Erfahrung hätte dienen können. Viele Analysen, so verdienstvoll sie im Einzelnen auch sein mögen, waren eher kleines Karo statt großer Wurf.
Was lässt sich nunmehr – nach 30 Jahren – zu Ostdeutschland sagen? Was bietet die Nachbetrachtung mit zeitlichem Abstand mehr als eine Fußnotenkorrektur und den unentwegten Kampf um Deutungshoheit darüber, was die DDR gewesen ist und was nicht, und welche der heute erkennbaren Frakturen Ostdeutschlands als Erbe der DDR gelten dürfen und welche als Brüche der Transformationszeit? Zunächst einmal muss es um eine selbstbewusste und differenzierte Aneignung der Geschichte gehen, jenseits von Verteufelung oder Verherrlichung der DDR. Ähnliches kann man auch in den Anforderungskatalog der Analyse des Vereinigungsprozesses hineinschreiben. Wer den Weg in die Einheit und den ostdeutschen Transformationspfad verstehen will, muss sich gegenüber dem politisch Wünschbaren weitgehend immunisieren. Immerhin handelt es sich um ein politisch umkämpftes Deutungsfeld, wo stets die Vereinnahmung oder Abwehr von Erkenntnissen droht. Jürgen Habermas hat jüngst in einem Interview angemahnt, es hätte "seit Langem informierte und anhaltende Debatten über die Fehler beider Seiten beim Modus der Wiedervereinigung geben sollen".
Dies vorangestellt, werde ich im Folgenden einige Thesen zum Vereinigungsprozess skizzieren, die die soziopolitische Verfasstheit der ostdeutschen Teilgesellschaft ins Zentrum stellen. Mit dem Begriff der "Soziopolitik" ziele ich auf die spezifischen Übertragungsverhältnisse gesellschaftlicher Strukturen, Mentalitäten und Lebensweisen in die politische Arena. Dabei interessiert mich nicht Parteipolitik im engeren Sinne, ich möchte vielmehr auf Politisierungsformen, also Haltungen, Ansprüche und Artikulationsweisen hinaus. In diesem Zusammenhang fokussiere ich mich vor allem auf jene strukturellen Brüche und Fehlstellungen, die auf die politische Kultur einwirken.
Schwierige Demokratisierung
Die DDR war ein gängelnder und kontrollierender Staat, der seinen Bürgern wesentliche Mitwirkungsmöglichkeiten an politischen Entscheidungen versagte. Daher konnte sich auch kein gelebtes Repertoire an demokratischer Beteiligung ausbilden. Erst in der Phase seines Ablebens emanzipierten sich die Bürger von der Bevormundung und forderten auf der Straße Meinungsfreiheit und Demokratisierung ein. Dies mündete in die erste und letzte freie Wahl der Volkskammer der DDR am 18. März 1990. Die Wahlerfolge der "Allianz für Deutschland" statteten die letzte Regierung der DDR mit einem starken Handlungsmandat dafür aus, die Weichen in Richtung Wiedervereinigung zu stellen. Allerdings führten die eklatanten ökonomischen und politischen Schwächen der dem Untergang geweihten DDR dazu, dass ihre Repräsentanten als Sachwalter der Interessen der DDR-Bevölkerung nur wenig Einfluss auf die weitere Entwicklung haben konnten. Es stellte sich zwischen Ost und West ein erhebliches Machtgefälle ein. Auch stand das von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung unterstützte Ziel der schnellen Einheit einer Vereinigung auf Augenhöhe entgegen.
Man kann den Übergang von der Friedlichen Revolution zur Deutschen Einheit als "ausgebremste Demokratisierung"
So weitete sich die Bundesrepublik in der Fläche aus und inkorporierte die DDR ohne weitergehende Berücksichtigung der Strukturen und Mentalitäten vor Ort. Manche sprechen recht drastisch von einer "Übernahme",
Im Zuge der Wiedervereinigung blieb das mit der Friedlichen Revolution verbundene Potenzial an demokratischer Mobilisierung vielfach ungenutzt. Viel zu wenig dachte man daran, dass man den demokratischen Einsatz und das Erleben von Selbstwirksamkeit der Ostdeutschen selbst brauchte, um die Demokratie mit Leben zu füllen. Durch den Mangel an Beteiligung entstand ein bis heute fortwirkender antiinstitutioneller Affekt. Die vor allem auf Flächenextension setzenden "Westparteien" waren zwar im Osten durchaus erfolgreich, blieben aber mit Blick auf mitgliedschaftliche Struktur und Breite der gesellschaftlichen Trägerschaft schwach. Hinzu kommt, dass der vorpolitische Raum im Osten bis heute anders ausgestaltet ist als im Westen, wo es einen dichten Kranz an zivilgesellschaftlichen Initiativen, pfadfinderischer Jugendarbeit, gewerkschaftlicher Initiative und kirchlichem Engagement gibt. In der DDR hatten die staatlichen Instanzen und die volkseigenen Betriebe eine große Rolle gespielt. Nach der Wende entstanden hier Leerstellen, in die rechte politische Akteure hineindrängen konnten. Etliche von ihnen kamen aus Westdeutschland in den Osten, weil sie dort mehr "Beinfreiheit" für nationalistische und völkische Programmatiken fanden. Außerdem konnten sie an auch in der DDR ausgeprägte nationalistische und rassistische Sentiments anknüpfen. Die Pulverisierung des alten ideologischen Überbaus, die dadurch hervorgerufene ideelle Orientierungslosigkeit und die im Einigungsprozess forcierte Aufwallung nationaler Gemeinschaftsgefühle taten ihr Übriges.
Imitation und Nachbau West
Nicht nur in Ostdeutschland, auch in vielen anderen Ländern Osteuropas zeigt sich heute ein gehöriges Maß an Skepsis gegenüber liberalen Institutionen und Prinzipien. Die Fieberkurve des Demokratiebewusstseins erscheint als kritisch, das Vertrauen in die politischen Eliten ist gering, Systemkritik macht sich lautstark bemerkbar. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer war die Erwartung eine andere. Das Motto lautete: Im Westen ankommen und die Basisinstitutionen Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft möglichst schnell übernehmen. Die Politologen Ivan Krastev und Stephen Holmes haben 2019 in ihrem Buch "Das Licht, das erlosch" der These breiten Raum gegeben, dass es dieser Nachahmungsimperativ im Post-1989-Osteuropa war, der langfristig einen Widerwillen gegen ebenjenes Modell hat wachsen lassen. Mit dem erlöschenden Licht ist die schwindende Strahlkraft des liberalen Gesellschaftsmodells gemeint, das in Osteuropa auf immer mehr Vorbehalte treffe, die bis hin zu Forderungen nach der Errichtung einer "illiberalen Demokratie" wie in Ungarn oder der politisch offen propagierten gesellschaftlichen Marginalisierung von Minderheiten reichen. Sie führen den Populismus in Osteuropa unter anderem darauf zurück, dass in der Nachahmung immer auch ein Verlust an eigenen Gestaltungsoptionen liegt. Zugleich sind Nachahmer, sofern sie die Vorbilder nicht souverän überholen können, stets dem Risiko eines anhaltenden Insuffizienzgefühls ausgesetzt. In Mitteleuropa sei hinzugekommen, dass "die Nachahmer glaubten, zum selben Kulturraum zu gehören wie die Nachgeahmten, und zudem davon ausgingen, dass sie eingeladen waren, der ‚freien Welt‘ auf Augenhöhe mit ihren europäischen Nachbarn beizutreten".
Auf Ostdeutschland übertragen, lässt sich ein solches Argument zuspitzen: Mit dem Institutionen- und Normentransfer von West nach Ost galt als ausgemacht, dass sich im Osten alles und im Westen nichts verändern sollte. Das Aufgeben der DDR-geprägten Lebensweise und die schnelle Umgewöhnung und Anpassung, auch das Abschwören, wurden als zentral für die erfolgreiche Vereinigung angesehen. Jürgen Habermas’ einschlägige Diagnose von der "nachholenden Revolution" war der intellektuelle Wegweiser der damaligen Zeit.
Die Nachahmung trat im Osten nicht nur im Sinne eines normativen Leitmodells auf, sondern wurde auch durch Transfereliten personifiziert. Da die Ostdeutschen als Anfänger in Sachen Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Demokratie galten, übernahmen häufig Westdeutsche das Ruder. In den 1990er Jahren gingen mehrere Zehntausend Personen von West nach Ost, um Leitungspositionen zu füllen und ihre Expertise einzubringen. Je höher und einflussreicher eine Position in Ostdeutschland, desto wahrscheinlicher war sie mit einem Westdeutschen besetzt. Das hatte zur Folge, dass Probleme der Umstrukturierung auf dieses Spitzenpersonal projiziert werden konnten und viele Veränderungen eher passiv hingenommen denn aktiv angeschoben wurden. Der Modus der "Übernahme" wesentlicher Funktionen durch Westeliten nahm der ostdeutschen Gesellschaft die Möglichkeit, "eigene Fehler zu machen und aus diesen Fehlern zu lernen".
Damit öffneten sich auch Einfallstore für populistische Kritik. Das DDR-Erbe ist ohne Zweifel ein misstrauisches Verhältnis zum Staat, aber der Vertrauensverlust gegenüber den demokratischen Institutionen lässt sich auch darauf zurückführen, dass dem Osten vieles übergestülpt oder als übergestülpt empfunden wurde. Manche der im Osten zu beobachtenden politischen Artikulationsformen nehmen dann auch Formen der konfrontativen und vorurteilsgetragenen "Erregungsdemokratie" an,
Unterschichtung/Überschichtung
Wie bei den Mentalitäten wurde auch für die Sozialstruktur angenommen, dass es im Osten einen sukzessiven Umbau der Gesellschaft in Richtung der Strukturmuster der Bundesrepublik geben sollte.
Die DDR der 1980er Jahre war insgesamt eine mobilitätsblockierte Gesellschaft, die oberen Positionen in Politik und Wirtschaft waren durch eine überalterte und überwiegend männliche Führungsriege besetzt, in den Betrieben traten viele auf der Stelle, Loyalität zu Staat und Partei waren beim sozialen Aufstieg wichtiger als fachliche Kompetenz, und die Möglichkeiten des Hochschulzugangs schrumpften. So lässt sich die Abkehr der jüngeren und mittleren Generationen von Land und System sowohl mit dem Mangel an Demokratie und Freiheit als auch mit der sozialstrukturellen Erstarrung des Systems begründen.
Hinzu trat die Überschichtung des Ostens durch westdeutsche Eliten. Wenige Ostdeutsche schafften es bis in die oberen Ränge von Wirtschaft, Verwaltung, Hochschulen, Medien und Organisationen, sodass es ein nur schmales Band zwischen den gesellschaftlichen Eliten und der Bevölkerung gibt. Aus funktionaler Perspektive mag es nicht wesentlich erscheinen, dass Ostdeutsche in den Eliten unterrepräsentiert sind. In sozialer und politischer Hinsicht bedeutet eine derartige "Elitenschwäche", dass bestimmte Perspektiven und Interessen wenig repräsentiert werden und sich die Bevölkerung nur unvollständig in den Eliten spiegeln kann.
Beschleunigung und Veränderungserschöpfung
Schließlich besteht eine Besonderheit der ostdeutschen Gesellschaft darin, dass sie in den vergangenen drei Jahrzehnten einen Transformationsgalopp durchlebt hat, der zumindest in einigen Segmenten der Bevölkerung eine Veränderungserschöpfung erkennen lässt. Außerhalb der urbanen Zentren und der größeren Universitätsstädte begegnet einem eine Gesellschaft, in der Bewahren und Festhalten zu einem wesentlichen Grundmotiv sozialer Orientierung geworden ist, das sich durchaus zu einer offenen Veränderungsaversion steigern kann. Durch die erhebliche Geschwindigkeit sozialer Veränderungen bis in alle gesellschaftlichen Bestände hinein gab es nur wenig Gelegenheit, zur Ruhe und in die Balance zu kommen. Dies gilt, obwohl es in Ostdeutschland zugleich ein wachsendes Maß an Lebenszufriedenheit, deutlich geringere Arbeitslosigkeitsraten als noch in den 1990er Jahren und wirtschaftliche Aufholprozesse gibt.
Man kann dabei für Ostdeutschland eine mehrfache Beschleunigung ausmachen. Die erste Stufe war die Systemtransformation vom planwirtschaftlichen Staatssozialismus zu einer marktwirtschaftlich organisierten Demokratie. Damit waren sowohl Freiheitsgewinne als auch Sicherheitsverluste verbunden, denn nicht zuletzt garantierte die DDR ihren Werktätigen auch ein hohes Maß an sozialer Sicherheit. Mit dem Übergang in die Marktwirtschaft zerbrachen nicht nur diese Garanten eines bescheidenen und risikoarmen Lebenskomforts, die Ostdeutschen traf die Marktwirtschaft zugleich mit großer Härte: als strammes neoliberales Privatisierungsprogramm, das zur Deindustrialisierung in der Fläche führte. Der Historiker Philipp Ther hat eindrucksvoll dargelegt, dass es in ganz Osteuropa in den 1990er Jahren zu einer neoliberalen Drift kam, die später auch auf den Westen durchschlug.
Die jüngste Transformationswelle besteht aus unterschiedlichen Elementen, die hier nur kurz angerissen werden können. Die Einzelprozesse dieser gegenwärtigen Entwicklungen sind die Digitalisierung, gesellschaftliche Heterogenisierung und der ökologische Umbau. Sie alle bringen massive Veränderungszumutungen für den gesellschaftlichen Status quo mit sich, fordern uns alle auf, Gewohnheiten hinter uns zu lassen und neue Wagnisse einzugehen. Die Digitalisierung bedeutet eine fundamentale Veränderung von Kommunikation, Öffentlichkeit und Arbeitswelt. Migrationsbewegungen und der Diversitätsdiskurs irritieren jene Milieus und gesellschaftlichen Segmente, denen Homogenität und Eindeutigkeit als die Leitplanken von Vertrautheit und lieb gewonnenen Privilegien gelten, treffen aber auch auf chauvinistische und rassistische Einstellungen. Schließlich stellt die ökologische Frage das industriegesellschaftliche "Weiter so" zur Disposition und erfordert von allen gesellschaftlichen Akteuren eine Neuausrichtung ihres Handelns, vom Konsum über den Lebensstil bis hin zur Mobilität. Es ist nicht überraschend, dass die ostdeutsche Gesellschaft auf manche dieser Veränderungsaufforderungen mit Reserve oder gar offener Ablehnung reagiert. Die Zurückhaltung, mit der zum Beispiel in der Lausitz zuweilen auf die Begriffe "Transformation" und "Strukturwandel" reagiert wird, ist möglicherweise symptomatisch für eine veränderungserschöpfte Gesellschaft.
Fazit
Diese kritische Betrachtung der Deutschen Einheit soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wiedervereinigung und die ostdeutsche Transformation auch als Erfolgsgeschichte verstanden werden können. Der Vereinigungsoptimismus, getragen von Aufhol- und Angleichungserwartungen im Osten und einem übergroßen Selbstbewusstsein des Sich-nicht-verändern-Müssens im Westen, hat sich jedoch als Trugschluss herausgestellt. Deutlicher als je zuvor wird nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit, dass sich die Ost-West-Unterschiede nicht ausschleichen, sondern als kontrastreiche Strukturunterschiede der politischen Kultur, der Mentalitäten und der Sozialstrukturen erhalten bleiben. Diese nicht zu verleugnen und mit Einheitslametta zu überhängen, ist eine Aufgabe der Sozialwissenschaften, aber auch des öffentlichen Diskurses.
Manche, die heute vom "weinerlichen" Ostdeutschen genervt sind, verweisen darauf, dass die Geschichte vergangen ist. Sie haben Recht, dass ein ewiges Lamento über Vergangenes und Nicht-Rückholbares wenig ertragreich ist. Ebenso gilt, dass die Ostdeutschen keine Opfer sind, sondern auch Handelnde des Prozesses waren und sind, viele dabei sogar sehr erfolgreich. Dennoch braucht es ein Erkennen und Benennen der Fehlstellungen, mit denen wir heute umgehen müssen. Es geht nicht um das Zurückspulen der Geschichte, sondern um deren Aneignung und ihren Bezug zur Gegenwart. Ob Frakturen der Sozialstruktur, die demografischen Unwuchten in Ostdeutschland, die Probleme der politischen Kultur – all dies sind gesellschaftliche Tatsachen, die der Angleichung entgegenstehen. Wir brauchen Vorstellungen und Begriffe davon, was die Entfremdung und das Ressentiment im Osten Deutschlands antreibt, welche politischen Bewusstseinsformen sich ausgebildet haben. Dazu gehört, dass der Osten unverstanden bleibt, wenn man ihn nur im Hohlspiegel des Westens analysiert, nicht im Eigensinn der Kultur und Mentalitäten vor Ort. Es scheint eine Erkenntnis der jüngeren Entwicklung zu sein: Das Erbe der DDR und die sozialen Schattenseiten der Transformation lassen sich nicht einfach so abschütteln. Nur wer diese Brüche versteht, kann politische Handlungsfähigkeit gewinnen. Dazu gehört auch, dass die ostdeutsche Gesellschaft selbst Konflikte um die eigene politische Kultur offen austragen muss, die in den drei Jahrzehnten der Einheit zu oft von politischer Schönrednerei weggeredet wurden.