Nach einem klar definierten Forschungsbereich zum vereinten Deutschland sucht man auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit in der Geschichtswissenschaft vergeblich. Erstens ist es schlichtweg zu früh, denn die Zeitgeschichtsforschung hängt den Ereignissen prinzipiell hinterher. Es bedarf eines zeitlichen Abstands, um mit geschichtswissenschaftlichen Methoden die Vergangenheit zu betrachten. Viel früher haben sich die Sozialwissenschaften als gegenwartsnahe Disziplin diesem Untersuchungsfeld gewidmet. Aus ihren Studien und Daten, aber auch Erfolgen und Problemen können Zeithistoriker/innen Erkenntnisse und Quellen für eigene Analysen gewinnen. Zweitens waren in der Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren eher globalgeschichtliche Themen in Mode. Sich mit Ostdeutschland zu beschäftigen, haftete etwas Rückschrittliches oder gar Kleingeistiges an. Trotzdem gab es drittens jenseits der wissenschaftlichen Trends ein lebensgeschichtliches, gesellschaftliches und politisches Bedürfnis, sich mit dem vereinten Deutschland und somit auch mit Ostdeutschland zu beschäftigen. Daraus sind – plakativ formuliert – zum einen politikgeschichtliche Meistererzählungen, also große sinnstiftende Geschichten entstanden, die mit offiziellen Positionen eine gewisse Symbiose eingingen, wie sie etwa beim Reden und Feiern "der" Wiedervereinigung und "der" Deutschen Einheit deutlich werden. Zentral ist in diesen Erzählungen der alles in allem positiv gewertete Übergang von der Diktatur zur Demokratie und von der Plan- zur Marktwirtschaft. Zum anderen sind aus verschiedenen persönlichen und politischen Richtungen identitätsstiftende ostdeutsche Gegenerzählungen entstanden, und "der Groll bei den tatsächlichen und vermeintlichen Verlierern"
Innovative zeitgeschichtliche Forschung zu 1989 findet derweil anderswo statt. Dazu hat sich ein lebendiges internationales Forschungsfeld entwickelt, in dem (Ost-)Deutschland aber der Sonderfall bleibt. Denn Ostdeutschland nimmt in den zeithistorischen Forschungen eine eigentümliche Sandwich-Position ein: nicht östlich genug für die Forschungen zu Ostmitteleuropa und nicht westlich genug für die Forschungen zur alten Bundesrepublik. Und jenseits der Forschung vergleichen sich auch viele Ostdeutsche weniger mit polnischen oder tschechischen Nachbar/innen als mit bayerischen und hessischen. Das Politische der Zeitgeschichte könnte sichtbarer kaum sein.
Ereignisse begleitend: sozialwissenschaftliche Forschung
Von einem "forschungspragmatischen Glücksfall, der vor unseren Augen ein ‚natürliches Experiment‘ von Dimensionen ablaufen läßt, die unter ‚Laborbedingungen‘ auch nicht annähernd zu reproduzieren wären," schwärmte der Soziologe Claus Offe 1991.
Inhaltlich standen ost- und westdeutsche Sozialforscher/innen vor ähnlichen Problemen: Weder hier noch dort war man in der Lage gewesen, den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ostmitteleuropa vorauszusagen. Es existierte weder ein passender Begriff noch eine Theorie zur Transformation, die nach 1989 halfen, das Phänomen zu erklären.
Verbindet man diese Bewertung mit den vier Phasen sozialwissenschaftlicher Erforschung des vereinten Deutschland, die der Soziologe Raj Kollmorgen gut zehn Jahre später herausgearbeitet hat, so wird deutlich, wie stark wissenschaftliche Neugier, (politische) Forschungsförderung und der Umbau der ostdeutschen Institutionen die Forschung beeinflusst haben. Nach einer kurzen unkonventionellen gemeinsamen Aufbruchsphase von 1989 bis 1991 folgte bis 1996 eine Phase des systematischen institutionellen Aufbaus der sogenannten Ostdeutschland- und Vereinigungsforschung. Hier ist besonders die Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) erwähnenswert, die zwischen 1991 und 1996 eine Vielzahl von Daten sammelte und Forschung förderte. Kennzeichnend für diese zweite Phase war die Orientierung an altbekannten ("westlichen") Theorien in inhaltlicher und theoretischer Hinsicht bei gleichzeitigem Umbau der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft. Da die Vereinigung in dieser Zeit zu dem gegenwartsdiagnostischen Forschungsthema wurde, standen hier besonders viele Drittmittel zur Verfügung.
Die folgenden Jahre von 1996 bis 2001 bezeichnet Kollmorgen als Phase der Normalisierung, in der alle großen Förderprogramme ausliefen und sich viele Forschende wieder anderen Themen widmeten. Gleichzeitig entstanden neue öffentlich finanzierte Forschungsinstitute. Von den freien ostdeutschen Instituten konnte sich langfristig das im März 1990 gegründete Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien halten.
Die vierte Phase ab etwa 2000, die Kollmorgen als institutionelles Rearrangement bezeichnet und über den Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Aufsatzes 2011 hinausgeht, war vor allem durch den in Halle und Jena angesiedelten Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch – Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung" geprägt. Während dort zunächst davon ausgegangen worden war, dass es zu einer schnellen Angleichung der Verhältnisse durch eine nachholende Modernisierung kommen würde, wurde der Blick in der späten Förderphase stärker auf eigenständige Entwicklungen in Ostdeutschland gelenkt. In dieser Hinsicht war auch ein von 2007 bis 2011 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderter Projektverbund bemerkenswert, der im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Alltag das Überleben im Umbruch am Beispiel der brandenburgischen Stadt Wittenberge untersuchte.
Etwa zur gleichen Zeit begann eine jüngere Generation von Sozialwissenschaftler/innen die Bedeutung ihrer Alterskohorte zu betonen. In ihren Veröffentlichungen zeigt sich die Nähe zur "3ten Generation Ostdeutschland", einem Netzwerk sogenannter Wendekinder, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren wurden. Als Anlass für die Gründung dieses Netzwerks wird unter anderem auf die Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung verwiesen, bei denen sie sich durch die "betagte[n] westdeutsche[n] Herren" und ihre Interpretationen der Geschichte nicht oder falsch vertreten sahen.
Um die Transformationszeit erklären zu können, müssen die Makro- und die Mikroebene enger miteinander verbunden werden – das ist ein Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Forschungen, die aufgrund ihrer gegenwartsnahen Forschungsgegenstände viel stärker als die Geschichtswissenschaft mit theoretischen Konstrukten arbeitet. Das zweite wichtige Produkt ist der immense Umfang an Forschungsdaten, den die sozialwissenschaftliche Forschung erhoben hat.
Rückblicke: Meistererzählungen und Identitätsdiskurse
Zeithistoriker/innen waren in den 1990er Jahren zunächst weniger mit dem vereinten Deutschland als mit der Erklärung der DDR beschäftigt. Eine Fülle an Akten, die durch das Ende der DDR viel früher als bei den üblichen Archivsperrfristen zur Verfügung standen, schufen auch hier ein Forschungsparadies. Diskussionen darüber, mit welchen Ansätzen man die DDR untersuchen könne und ob es Grenzen der Diktatur gab, prägten die 1990er Jahre.
Aus diesen Publikationen, auch wenn sie kritische Perspektiven bieten, ist alles in allem der Eindruck einer politischen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte entstanden; die Geschichte einer Nation, die den Weg von der Diktatur in die Demokratie und von der Plan- in die Marktwirtschaft geschafft hat. Dieser Eindruck hat sich auch deshalb verfestigt, weil die politischen Akteure der Berliner Republik selbst, etwa bei Jahrestagen, auf positive Erzählungen Bezug nehmen oder einzelne Historiker/innen sich selbst klar in parteipolitischer Richtung positionieren. Die bisher genannten Titel sind besonders stark in der Öffentlichkeit präsent, von Verlagen beworben und im Feuilleton besprochen. Das ist vermutlich auch deshalb der Fall, weil sie dem Bedürfnis nach großen Narrativen, nach Meistererzählungen entgegenkommen. Diese sollen Sinn stiften und im Fall des vereinten Deutschland auch eine gesamtdeutsche Erzählung bieten.
Die deutlichste Gegenerzählung hat bisher Ilko-Sascha Kowalczuk geschrieben. Er bietet, gerahmt durch seine persönliche Geschichte, das Motiv der Übernahme des Ostens durch den Westen als Gegennarrativ an. Andere ostdeutsche Akteure nehmen die bereits in den 1990er Jahren verbreitete These von der "Kolonisierung Ostdeutschlands" wieder auf.
Dass Machtstrukturen und das (west)deutsche Wissenschaftssystem eine eigene Rolle spielen, lässt sich auch an Philipp Thers "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" illustrieren. Der 2014 erschienene Band ist ebenfalls ein Überblickswerk, eine Geschichte von oben, die aber einen anderen Referenzrahmen für Ostdeutschland bietet, nämlich die ostmitteleuropäischen Länder und ihren Weg in den Neoliberalismus. Dieses Buch hat weitere Forschungen angeregt und ordnet sich in eine lebendige ostmitteleuropäische Forschung ein, bei der Ostdeutschland eine Randposition einnimmt: einerseits aufgrund der Sonderrolle durch die Wiedervereinigung, andererseits weil Lehrstühle in Deutschland klaren Strukturen folgen und die osteuropäische Geschichte in dieser Ordnung nicht zur deutschen Geschichte gehört. Die Situation scheint verfahren, aber ist nicht aussichtslos. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, dass die als westdeutsch gelabelten Erfolgsgeschichten für viele Ostdeutsche kein Dach bieten. Die ostdeutsche Wirklichkeit verlangt ein genaues Hinsehen und Differenzieren.
Der Sozialwissenschaftler und Publizist Thomas Ahbe kam 2019 zu einem ähnlichen Resultat, indem er auf jene drei Viertel der DDR-Bevölkerung verwies, "die nicht zu den entschiedenen Gegner/-innen des DDR-Systems zählten (…), sich eben nicht einfach als Opfer eines Unrechtsregimes fühlten" und für die die Großerzählungen deshalb nicht passen.
Transformationsgeschichten: Erfahrungen, Perspektiven, Räume und Akteure
Ein eigenes Forschungsfeld, das sich dezidiert der Geschichte des vereinten Deutschlands widmet, wird es vermutlich auch in Zukunft nicht geben. Denn was einerseits der Nachteil der Zeitgeschichte ist, ist andererseits ihr Vorteil: Sie kann mit größerem zeitlichen Abstand die bisherigen Entwicklungen beobachten und daraus Forschungsbedarfe formulieren. Das größte Problem stellt derzeit auch hier die Unverbundenheit von Makro- und der Mikroperspektive dar, also die widersprüchlichen Erzählungen von oben und von unten. In dieser Hinsicht ordnet sich Ostdeutschland nahtlos in andere ostmitteleuropäische Länder ein, die ebenfalls ein Auseinanderfallen von öffentlichen Meistererzählungen und persönlichen Erfahrungen verzeichnet haben.
Das Ergründen des Auseinanderfallens der Geschichten verlangt zudem eine Perspektiverweiterung im Hinblick auf die historischen Akteure. Während in den Geschichten von oben vor allem die politischen Protagonist/innen im Vordergrund standen und für die Perspektive von unten in diesen Erzählungen meist nur auf Meinungsumfragen Bezug genommen wurde, ist das für eine Geschichte, die die verschiedenen Akteure und ihre Erfahrungen ergründen und darstellen will, nicht ausreichend. Meinungsumfragen haben in dieser Hinsicht eine begrenzte Aussagekraft, weil sie Antworten auf vorformulierte Fragen geben: Wenn Umfrageinstitute beziehungsweise ihre Auftraggeber sich für Ost-West-Unterschiede interessieren, dann bekommen sie dazu auch Antworten, unabhängig davon, ob die Befragten das von sich aus thematisiert hätten. Außerdem haben erste wissensgeschichtliche Tiefenbohrungen gezeigt, dass Anfang der 1990er Jahre die Methoden sehr stark von westdeutschen Gegebenheiten ausgingen, die nur begrenzt auf die ostdeutsche Situation zutrafen.
Die so angelegten Untersuchungen bieten ein breites Dach für Themen, Vergleiche, Perspektiverweiterungen und Erklärungen. Drei Beispiele seien hier herausgegriffen: Aus zeithistorischer Perspektive wissen wir bisher etwa – abseits der grundsätzlichen Regelungen – relativ wenig über den konkreten Ablauf des Ab- oder Umbaus ostdeutscher Institutionen, also über Personalzusammensetzungen, Arbeitsverträge, Fluktuationen und Arbeitsabläufe. Das gilt einmal mehr in föderativer Hinsicht, denn die neuen Bundesländer wurden erst Anfang der 1990er Jahre eingeführt und unterscheiden sich auch in der administrativen und praktischen Umsetzung der Gesetze, die im Zuge des Beitritts erlassen wurden.
Geschichten zu Institutionen beginnen oft 1990, aber erst aus der Zusammenschau der Zeitabschnitte vor, während und nach 1989/90 lassen sich die Lebensgeschichten mit ihren Gewinn- und Verlusterzählungen verstehen.
Freiheit, Demokratie, Kapitalismus und die Orientierung an der EU folgten in der einen oder anderen Form in allen ostmitteleuropäischen Ländern, vor allem aber erlebten diese Länder in der konkreten Zeit des Umbruchs und danach eine besondere Betonung des Nationalen. "Aufgrund seiner Vielschichtigkeit und symbolischen Aufladung eignet sich das Symboljahr 1989 besonders gut zur politischen Instrumentalisierung."
Sonderfall (Ost-)Deutschland
Nun könnte der Eindruck entstanden sein, dass es zwar spannende zeithistorische Forschung zur Transformationsgeschichte gibt, diese aber im Elfenbeinturm verbleibt, sie also in gewisser Weise den Meistererzählungen und Identitätspolitiken – und der Aufarbeitungslandschaft – den Platz in den gesellschaftlichen Diskussionen überlässt. Die Situation kann auch anders beschrieben werden: Allen wissenschaftlichen Bemühungen zum Trotz, Ostdeutschland als Teil dieser verschiedenen Transformationsgeschichten zu analysieren, kreisen die Diskussionen in Deutschland vielfach um sich selbst. Wahrscheinlich sind auch deswegen die bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichten und die ostdeutschen Gegenerzählungen so präsent und viel beachtet. Ostmitteleuropäische Länder dienen im Alltag nicht als Referenz für die eigenen ostdeutschen Erfahrungen und Perspektiven. Angebotene positive ostdeutsche Narrative wie die von der besonderen "Umbruchkompetenz"