Einleitung
Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 verwüstete eine riesige Flutwelle die Küstenregionen Thailands, Indonesiens und Sri Lankas. Dem Tsunami fielen tausende Menschen zum Opfer. Ganze Städte und weite Landstriche wurden durch die Wassermassen dem Erdboden gleich gemacht. Die meisten Opfer stammten aus der einheimischen Bevölkerung, doch es starben auch viele Touristen: Die betroffene Region war mit ihren paradiesischen Stränden ein beliebtes Urlaubsziel.
Der Rest der Welt reagierte mit großer Betroffenheit. Die weltweite Anteilnahme an der Not dieser Region fand ihren Ausdruck in einem nie da gewesenen Ausmaß von Spenden. Die Spendenwelle erfasste nahezu die ganze Gesellschaft: Fußballclubs leerten die Mannschaftskasse für den guten Zweck, Schausteller ließen Kinder für eine Spende Karussell fahren und Fernsehsender wetteiferten mit Spendengalas. Bis zu 20 000 Wohlfahrtsorganisationen sammelten allein in Deutschland Gelder für die Katastrophenopfer. Es kam zu einem regelrechten Wettkampf um die höchsten Spendeneinnahmen.
Gleichzeitig erschienen in den Medien erste Deutungsversuche des Spendenverhaltens. Warum konnten Rekordergebnisse verzeichnet werden? Der Tsunami hatte in der Weihnachtszeit stattgefunden, einer Zeit, in der viele Menschen das Geschehen am Fernseher live verfolgen konnten. Außerdem handelte es sich um eine außerordentlich große Katastrophe, die nicht ein Land, sondern gleich zwölf Länder und zwei Kontinente traf. Nicht zu vergessen war natürlich auch die Tatsache, dass vielen der Spender die von der Katastrophe heimgesuchten Länder von früheren Urlauben bekannt waren und zahlreiche Touristen betroffen waren. Die Identifikation der Geber mit den Opfern wurde dadurch möglicherweise erleichtert. War die Spendenwelle anlässlich des Tsunami also eine Ausnahme? Oder konnte sie als Anzeichen für ein wachsendes Verantwortungsgefühl gegenüber Menschen in weit entfernten Ländern, als Teil eines Trends zu transnationaler Solidarität gedeutet werden?
Von Sozialwissenschaftlern ist die Zukunft der Solidarität seit Ferdinand Tönnies pessimistischer Prognose in "Gemeinschaft und Gesellschaft" immer wieder als Zerfallsprozess thematisiert worden.
Allerdings gibt es auch Autoren, die der Behauptung einer Zunahme von transnationaler Solidarität kritisch gegenüberstehen. Claus Offe etwa erwartet, "dass sich nach dem Ende des Nationalstaats die supranationalen Interdependenzen erweitern, sich gleichzeitig aber die operativen Solidaritätspotentiale auf immer engere (regionale, sektorale, subnationale, sprachliche, kulturelle, aus ihrer historischen Erfahrung definierte usw.) Schutz- und Verpflichtungsgemeinschaften zusammenziehen".
Die Brisanz dieser Diskussion ergibt sich aus der Zentralität von Solidarität für die Integration von Gesellschaften und damit aus der Frage nach der Entstehung einer normativen politischen Ordnung jenseits des Nationalstaates. Lässt sich im Zuge der "gesellschaftlichen Denationalisierung"
Ziel dieses Artikels ist es, vor dem Hintergrund dieser Fragen die These einer zunehmenden transnationalen Solidarität empirisch am Beispiel des Spendenaufkommens in der Not- und Entwicklungshilfe zu überprüfen. Dafür wird zunächst eine Definition von Solidarität eingeführt und erläutert, warum die Untersuchung des Spendenaufkommens Hinweise auf die Entwicklung von transnationaler Solidarität geben kann. Daran anschließend werden die Spendeneinnahmen von 16 Organisationen analysiert, die in der Not- und Entwicklungshilfe tätig sind. Diese Daten werden mit Umfrageergebnissen zum Spendenverhalten in Deutschland abgeglichen. Die Analyse zeigt dabei zwar einen Trend zu mehr transnationaler Solidarität, jedoch wird auch deutlich, dass dieser Trend von tiefen Brüchen gekennzeichnet ist.
Transnationale Solidarität - Annäherung an einen Begriff
Unter den Kategorien des moralischen und politischen Denkens ist der Begriff der Solidarität einer der jüngsten. Zwar reichen seine Wurzeln bis ins römische Recht, wo unter "obligatio solidum" eine Form der Schuldnerhaftung verstanden wurde, bei der jedes Mitglied einer Gemeinschaft für die Begleichung der insgesamt bestehenden Schulden herangezogen werden konnte und die Gemeinschaft für die Schulden jedes einzelnen Mitglieds haftete. Eine Übertragung des Begriffs auf das Gebiet der Politik, Gesellschaft und Moral fand jedoch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts statt. Im nachrevolutionären Frankreich ersetzte der Terminus der Solidarität zunehmend jenen der "Brüderlichkeit" und wurde vor allem im Umfeld der frühen französischen Sozialisten Claude-Henri Saint-Simon und Charles Fourier in den politischen Sprachgebrauch eingeführt.
Erst im Rahmen des Solidarismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann der Terminus der Solidarität den Stellenwert eines politisch-sozialen Grundbegriffs und näherte sich an seine Rezeption des Begriffs in der neu entstehenden Soziologie um Pierre Leroux, Auguste Comte und später Emile Durkheim an. Während Leroux Solidarität als "humanitäre Doktrin" verstand,
Was also ist Solidarität? Der kurze Überblick über die Geschichte des Begriffs kristallisiert als gemeinsamen Kern der Verwendungsweisen die Vorstellung einer wechselseitigen Verbundenheit zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen heraus. Wie lässt sich Solidarität beobachten?
Schon Durkheim hatte festgestellt, dass "die soziale Solidarität (...) als ein durch und durch moralisches Phänomen der unvermittelten, exakten Beobachtung nicht zugänglich (ist), vor allem nicht der Messung. Um es also klassifizieren wie vergleichen zu können, muss man die innere Tatsache, die sich uns entzieht, durch eine äußere Tatsache ersetzen, die sie symbolisiert, und die erste vermittels der zweiten erforscht". Als sichtbares Symbol wählte Durkheim das Recht. Denn "je solidarischer die Mitglieder einer Gesellschaft sind", so Durkheim, "umso mehr unterhalten sie verschiedene Beziehungen entweder nur miteinander oder zur Gruppe als Kollektiv (...) Andererseits ist die Anzahl der Beziehungen notwendigerweise der Zahl der Rechtsregeln, die sie bestimmen, proportional."
Eine andere Möglichkeit der Beobachtung von Solidarität, die auch in diesem Artikel verfolgt werden soll, besteht in der Untersuchung von solidarischem Verhalten. In Anlehnung an Hans Braun wird unter Solidarität hier daher ein "Handeln in Verbundenheit" verstanden.
Transnationale Solidarität lässt sich in Anlehnung an Thomas Risses Definition transnationaler Beziehungen nun definieren als ein grenzüberschreitendes Handeln in Verbundenheit zwischen Gruppen oder Individuen, von denen mindestens ein Mitglied ein nichtstaatlicher Akteur sein muss.
Spenden in der Not- und Entwicklungshilfe
Es ist bereits deutlich geworden, dass transnationale Solidarität, verstanden als ein transnationales "Handeln in Verbundenheit", in verschiedenen Formen auftritt. Der folgende Abschnitt widmet sich der empirischen Analyse eines bestimmten Ausdrucks der transnationalen Solidarität, der Spende für Menschen in anderen Ländern, die von akuter Not betroffen sind.
Zwei Möglichkeiten für die Messung des ausgewählten Indikators werden in diesem Artikel untersucht: erstens die Spendeneinnahmen von Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe und zweitens die Gewichtung der Spendenzwecke in Deutschland. Die These der Zunahme der transnationalen Solidarität wird demnach gestützt, wenn die Spendeneinnahmen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe ansteigen oder wenn der relative Anteil der Spenden für diesen Bereich an allen Spenden wächst.
Im Folgenden werden zunächst die Spendeneinnahmen der NROs analysiert.
Spendeneinnahmen
Wie haben sich die Spendeneinnahmen von NROs im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe verändert? Lässt sich ein Anstieg ihres Einkommens beobachten, der einen Trend zu mehr transnationaler Solidarität bestätigen würde? Zur Beantwortung dieser Frage wurden die Spendeneinnahmen von 16 der größten Organisationen, die im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe in Deutschland tätig sind, ausgewertet.
Die Auswertung der Angaben der 16 Organisationen zeigt eine deutliche Zunahme der Spendeneinnahmen (Abbildung 1). Dabei weist die Spendenkurve allerdings große Schwankungen auf. Besonders in den Jahren zwischen 1995 und 1998 ist ein verhältnismäßig niedriges Spendeneinkommen der Organisationen zu verzeichnen. In den Jahren 1992, 1999, 2002 und 2005 sind Spendenhöhepunkte erkennbar. Betrachtet man diese für sich, so ist ebenfalls eine beinahe kontinuierliche Steigerung der Spendenhöhepunkte augenfällig.
Deutlich wurde im Verlauf der Untersuchung, dass sich die Entwicklung der Spendeneinnahmen, je nach Schwerpunktsetzung der Organisation erheblich unterscheiden. Während die Spendeneinnahmen der Organisationen, die sich schwerpunktmäßig auf Entwicklungshilfe und damit längerfristige Ziele konzentrieren in den meisten Fällen eine kontinuierliche Spendenentwicklung aufweisen, sind die Spendeneinnahmen der auf humanitäre Hilfe und Nothilfe
Spendenzwecke
Wird dieses Ergebnis auch durch die Analyse der Zwecke, für die gespendet wird, bestätigt? Haben Spenden für die Entwicklungs- und Nothilfe gegenüber anderen Spendenzwecken in den letzten Jahren zugenommen? Hinweise auf die Beantwortung dieser Fragen liefert eine jährlich durchgeführte Umfrage vom Markt-, Media- und Meinungsforschungsinstitut tns infratest, die im Rahmen des so genannten Deutschen Spendenmonitors veröffentlicht wird.
Den Ergebnissen der Umfrage zufolge lag der Anteil der Not- und Entwicklungshilfe 1996 noch bei etwa 14 Prozent. Im Jahr 2005 wurden schon beinahe 37 Prozent gemessen. Weitere Höhepunkte konnten in den Jahren 1999 (ca. 31 Prozent) und 2002 (ca. 37 Prozent) verzeichnet werden. In allen übrigen Jahren lag der Anteil der Spenden für die Not- und Entwicklungshilfe kontinuierlich über 20 Prozent. In fast allen anderen Spendenkategorien hingegen lässt sich ein deutlicher (relativer) Abwärtstrend erkennen. Ähnlich wie bei den Spendeneinnahmen steigt die Kurve nicht gleichmäßig an, sondern ist durch erhebliche Schwankungen gekennzeichnet (Abbildung 2).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass beide Indikatoren ähnliche Dynamiken aufweisen. So lässt sich zwar insgesamt ein Anstieg der Spenden für die Entwicklungs- und Nothilfe feststellen, sowohl im Hinblick auf den relativen Anteil der Spenden für diesen Zweck gegenüber allen anderen Spendenzwecken als auch im Hinblick auf die Spendeneinnahmen der ausgewählten Organisationen. Allerdings ist diese Entwicklung durch erhebliche Brüche gekennzeichnet. Insbesondere die Spendeneinnahmen jener Organisationen, die auf die Bearbeitung von humanitären Katastrophen durch Nothilfe spezialisiert sind, weisen hohe Schwankungen auf, die eng im Zusammenhang mit bestimmten Katastrophen stehen.
Diskussion und Fazit
Welche Bedeutung haben diese Ergebnisse nun für die eingangs gestellte Frage nach den Entwicklungslinien der transnationalen Solidarität? Der Spendentrend, der sich aus den Einnahmen der befragten Organisationen ergibt, scheint die These der Zunahme von transnationaler Solidarität zunächst zu bestätigen. Allerdings lässt sich auf dieser Basis keine Aussage über die spezifische Zunahme von transnationaler Solidarität treffen. Die Daten lassen durchaus die Möglichkeit eines Gesamtanstiegs der Spenden in Deutschland - etwa aufgrund eines höheren Bruttonationaleinkommens - zu. Um diesem Einwand vorzubeugen, wurden einerseits die Daten inflationsbereinigt, andererseits setzt aber auch der zweite Indikator, die relative Gewichtung der einzelnen Spendenzwecke, die Daten in einen Kontext. An den Spendenzwecken wird deutlich, dass transnationale Solidarität auch im Verhältnis zu jener Solidarität steigt, die sich auf Ziele innerhalb eines Nationalstaates richtet.
Dennoch können die erhobenen Daten nur als erster Hinweis auf die Beantwortung der Fragestellung dienen. Der erhobene Spendentrend macht deutlich, dass die transnationale Solidarität in hohem Maße an herausragende Ereignisse gekoppelt ist. Diese Tatsache ist nicht unbedingt verwunderlich, denn folgt man Durkheim, so ist die Solidarität in modernen Gesellschaften in doppelter Hinsicht frei gewählt: Die Individuen können sich sowohl entscheiden, ob sie Solidaritätsbeziehungen eingehen wollen, als auch welche. Insbesondere ist sie aber dadurch gekennzeichnet, dass sie zeitlich begrenzt und punktuell ist und daher weder lebenslang noch die "ganze" Person bindet.
Die Koppelung an bestimmte Ereignisse erschwert allerdings auch Aussagen über Entwicklungslinien der Solidarität. Aufgrund der erheblichen Schwankungen des Spendenaufkommens im Zusammenhang mit einzelnen Katastrophen lässt sich kein statistisch signifikanter Trend errechnen. Als wichtige Anhaltspunkte können dennoch die Spendenhöhepunkte gewertet werden. Die transnationale Solidarität angesichts bestimmter Ereignisse ist offenbar nicht nur von Ereignis zu Ereignis größer, diejenigen Ereignisse, die es tatsächlich in die Öffentliche Aufmerksamkeit schaffen und damit die Solidarität der Spender herausfordern, scheinen auch in immer kürzeren Abständen aufzutreten.
Trotz der Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf die weitere Untersuchung von transnationaler Solidarität auftun dürften, erscheint eine Beschäftigung mit den Entwicklungslinien der transnationalen Solidarität lohnenswert. Bestätigen sich die Ergebnisse dieser Analyse auch in der weiteren Forschung, so sind die Implikationen auch für die internationalen Beziehungen beträchtlich. Denn mit einem wachsenden Gefühl der transnationalen Verbundenheit und Verantwortung verändern sich auch die Bezugspunkte für Politik. Ihre Legitimitäts- und Annerkennungsbedingungen lassen sich nicht mehr notwendigerweise auf nationale Gesellschaften zurückführen. Vielmehr kann sie auch auf neue sozialmoralische Ressourcen vertrauen, die sich im Zuge der transnationalen Vergesellschaftung ergeben.