Einleitung
Solidarität wird seit langem ganz selbstverständlich als wichtige soziomoralische Ressource demokratischer Gesellschaften angesehen. Daher erstaunt es, dass der Solidaritätsgedanke bislang in der Politik- und Gesellschaftstheorie die Rolle eines "Stiefkindes" gespielt hat.
Man könnte vermuten, dass sich die Bereitschaft, Solidarität zu zeigen, mit zunehmender räumlicher Distanz zwischen Individuen und Gruppen verringert und letztlich verliert. Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen: Jenseits des Nationalstaates hat sich ein über spontane Hilfsbereitschaft hinausgehendes institutionelles Beziehungsgeflecht herausgebildet, das Staaten und ihre Bürger als Träger von solidarischen Rechten und Pflichten in zwischenstaatlichen Zusammenhängen ausweist.
Traditionell jedoch gilt Entwicklungshilfe vor allem als Instrument außenpolitischer Strategien der Allianzbildung oder zur Gewinnung neuer Absatzmärkte.
Auch wir gehen davon aus, dass sich die europäische Entwicklungspolitik kaum alleine interessengeleitet erklären lässt. Wenn dies der Fall wäre, gäbe es keine plausible Erklärung für den Anstieg der Entwicklungshilfe für Afrika nach 1989: Geostrategisch und wirtschaftlich hat der Kontinent seither insgesamt an Bedeutung verloren.
Solidarität als Faktor in der Außenpolitik
Als wichtigste Ziele von Außenpolitik werden gemeinhin die Bewahrung der Sicherheit eines Staates bzw. seiner Bevölkerung und deren (wirtschaftliches) Wohlergehen angesehen. Entsprechend sind alle Bemühungen, anderen Staaten zu helfen, ohne dabei derartige Interessen zu verfolgen, zunächst sekundär. Autoren neuerer konstruktivistischer Außenpolitikanalysen halten dieser Sichtweise aber entgegen, dass sowohl normative und geschichtliche Kontexte als auch intersubjektiv geteilte Wirklichkeitskonstruktionen wesentliche Bedeutung dafür haben, welche Interessen Staaten wahrnehmen und wie sie diese verfolgen. Normen und Werte, Ideen und Identitäten - und damit auch Solidarität - können sich deshalb ebenfalls außenpolitisch auswirken.
Was ist Solidarität? Obwohl die konstruktivistische Wende inzwischen Einzug in die Außenpolitikforschung gehalten hat, ist Solidarität bis heute ein vernachlässigter Faktor geblieben.
Während Durkheim als sichtbares Symbol das Recht wählt, untersuchen wir in diesem Beitrag internationale Solidarität über Handlungsprinzipien.
Die Besonderheit solidarischer Bindekraft besteht nun darin, dass solidarisches Handeln sich der Dichotomie von Eigennutz versus Altruismus entzieht. Eigennütziges kooperatives Handeln kann deshalb nicht als Solidarität verstanden werden, weil interessengeleitete Kooperation zur Bedingung hat, dass auf ein Entgegenkommen der einen Seite eine direkte Gegenleistung der anderen erfolgt. Im Sinne der Theorie der Gabe, die sowohl freiwillig als auch verpflichtend ist, sprechen wir von Solidarität als "erweiterte Reziprozität".
Zur solidarischen Struktur in der Entwicklungspolitik: Während sich Solidaritätszusammenhänge ursprünglich auf den Mikrobereich der Familie oder der dörflichen Gemeinschaft bezogen haben, hat auf kollektiver Ebene der moderne Wohlfahrtsstaat die Organisation von Solidarität übernommen. Wohlfahrtsstaaten normieren auf spezifische Weise moralische Solidaritätsrechte und -pflichten für die nationale Solidargemeinschaft, die auf dem Grundsatz beruhen, dass Menschen in sozialen Problemlagen geholfen werden sollte.
Gesellschaftlich verankerte solidarische Überzeugungen übersetzen sich nicht unmittelbar in außenpolitisches Regierungshandeln. Vielmehr werden unterschiedliche Forderungen an das politische Entscheidungssystem gerichtet, so dass Solidarität mit Forderungen nach Sicherheit oder Herrschaft konkurriert. Ist Solidarität schon innerhalb von Nationalstaaten schwierig einzufordern, so trifft dies umso mehr jenseits des Nationalstaats zu. Internationale Solidarleistungen sind nämlich nicht geschuldete Rechtspflichten, sondern vielmehr freiwillig und gegenüber den Steuerzahlern rechtfertigungsbedürftig. Welchen Stellenwert Regierungen Solidaritätspflichten gegenüber Dritten einräumen und wie sie diese erfüllen, hängt letztlich von der jeweiligen Argumentations- bzw. Diskursstruktur ab, mit der Solidarität vertreten wird. Drei unterscheidbare Handlungsmotive bestimmen dabei vor allem die Verteilung von moralischen Rechten und Pflichten in der jeweiligen Solidargemeinschaft: Bedürftigkeit, Bindung und Eigenanstrengung.
Nach dem ersten Handlungsprinzip ist Solidarität abhängig von der Bedürftigkeit der Hilfsempfänger. So erhalten insbesondere solche Individuen, Gruppen oder Staaten finanzielle Hilfe und politische Unterstützung, deren Armut und Not am größten ist. Je größer die Bedürftigkeit der Empfänger, umso größer ist der solidarische Handlungsdruck auf die Geberländer, diesen zu helfen.
Nach dem zweiten Handlungsprinzip sind es die besonderen Bindungen zwischen Geber und Empfänger, welche solidarisches Handeln begründen. Moralische Bindungen können aufgrund einer gemeinsamen Geschichte, kulturellen Nähe oder aus einer Verbindung im "Geiste" (z.B. Glaubensgemeinschaften) resultieren. Je stärker diese Bindungseffekte ausgeprägt sind, umso größer ist der solidarische Handlungsdruck.
Solidarität wird aber auch abhängig gemacht vom Prinzip der Eigenanstrengung. Die Bereitschaft zu Solidarität gegenüber Bedürftigen kann dann leiden, wenn letztere Hilfeleistungen nicht entsprechend der vereinbarten Zielsetzungen einsetzen. Die Eigenanstrengung bestimmt dann in diesem Kontext letztlich, wer aus solidarischen Gründen Hilfsansprüche geltend machen kann und so Solidarität "verdient".
Die EU-Sonderbeziehungen zu den AKP-Staaten
Mit dem Abkommen von Cotonou vom 23. Juni 2000 wurde die bis zu den Römischen Verträgen zurückreichende, privilegierte Entwicklungspartnerschaft der EU mit inzwischen 78 AKP-Staaten bis 2020 erneuert und verlängert.
Erstens: Die EU-AKP-Sonderbeziehungen schließen Länder ohne historische Bindungen an die EU-Mitgliedstaaten aus, darunter einige der ärmsten Länder der Welt.
Zweitens: Neben der Gewährung einseitiger Handelspräferenzen erhalten die AKP-Staaten über den EEF Finanzhilfen. Der neunte EEF wurde für den Zeitraum 2000 - 2007 mit 13,2 Mrd. Euro dotiert. Zusätzlich standen zum Zeitpunkt des Abschlusses von Cotonou 9,9 Mrd. Euro an nicht abgeflossenen Mittel aus vorangegangenen Laufzeiten zur Verfügung. Während Deutschland und Schweden sich für das Einfrieren des EEF aussprachen, war es vor allem Frankreich, das sich für eine großzügige Dotation des EEF einsetzte.
Drittens: Mit Cotonou wurde die politische Dimension gestärkt. Das Abkommen von Cotonou erlaubt der EU bei Verstößen gegen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie schwerer Korruption einseitige Maßnahmen bis hin zur Einstellung der eigentlich vertraglich zugesicherten Hilfe zu ergreifen. Aufgrund massiver Gegenwehr der AKP-Staaten wurden die Sanktionierungsmöglichkeiten in Hinblick auf das Prinzip der "verantwortungsvollen Regierungsführung" jedoch stark eingeschränkt.
Frankreichs "familiäre" Beziehungen zu den AKP-Staaten: Die besondere Bindung Frankreichs an seine ehemaligen Kolonien bzw. an den afrikanischen Kontinent insgesamt wird in der Forschung einstimmig als zentrales Merkmal französischer Entwicklungszusammenarbeit angesehen.
Die Dominanz des Bindungsprinzips zeigt sich auch im Einsatz Frankreichs für eine gute finanzielle Ausstattung des EEF. Frankreich zahlt seit den 1990er Jahren einen überproportionalen Anteil (24,3 gegenüber 17 Prozent am EU-Haushalt) in diesen Fonds ein, um dessen Gesamthöhe abzusichern. Dies zeigte sich auch in den Verhandlungen zum neunten EEF, in denen die französische Regierung ihre ursprüngliche Forderung nach einer Senkung des eigenen Beitrags fallen ließ, um die Höhe des Fonds nicht zu gefährden.
Auch das Anstrengungsprinzip spielte in der französischen Debatte eine Rolle. Zwar sprach sich die französische Regierung entsprechend der Reformen in ihrer bilateralen Entwicklungspolitik für eine politische Konditionalisierung von AKP-Hilfen aus.
Deutschland und die "Normalisierung" der AKP-Politik: Das Bindungsprinzip zeigte sich in der deutschen Cotonou-Debatte dagegen wenig erklärungsmächtig. Insgesamt stand Deutschland den europäischen Sonderbeziehungen mit den AKP-Staaten eher skeptisch gegenüber.
Das geringe Interesse an einer privilegierten EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft wird auch daran deutlich, dass Deutschland stets bestrebt war, den eigenen Beitrag zum EEF gering zu halten. So gehörte Deutschland auch bei den Verhandlungen des Finanzprotokolls von Cotonou zu den Ländern, die sich gegen eine Erhöhung des EEF aussprachen.
Schwedens skeptische AKP-Politik: In der schwedischen Entwicklungsdebatte nimmt das Bedürftigkeitsprinzip eine herausragende Stellung ein. So hat sich die schwedische Regierung wiederholt für eine Auflösung der AKP-Gruppe und für eine Überführung dieser Politik in eine einheitliche europäische Hilfspolitik für alle Entwicklungsländer ausgesprochen: "We wish the separate system of preferences for the ACP countries to be discontinued."
Nach der Bedürftigkeit war das politische Anstrengungsprinzip prägend in der schwedischen AKP-Debatte. Schweden trat sehr für die Einführung einer politischen Dimension in das Cotonou-Abkommen sowie für die Anwendung von Sanktionsklauseln ein, wenn gegen vereinbarte politische Grundsätze verstoßen wird.
Im Gegensatz zu den ehemaligen europäischen Kolonialmächten und als eher junges EU-Mitglied verfügt Schweden über keine historisch motivierten Bindungen zu den AKP-Staaten. AKP-Politik wird nicht als Priorität schwedischer Entwicklungspolitik, sondern als Instrument angesehen, das der Armutsbekämpfung in afrikanischen LDCs dienen sollte.
Zusammenfassung und Fazit
Der Vergleich der Präferenzen Frankreichs, Deutschlands und Schwedens in der Cotonou-Debatte hat gezeigt, dass Solidarität mit den AKP-Staaten in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Weise zum Tragen kommt. Während sich im Falle Frankreichs das - positiv konstruierte - Bindungsprinzip aus der engen historisch-kulturellen Verbundenheit zu den afrikanischen Staaten speist, wird in der deutschen, aber auch in der schwedischen Entwicklungsdebatte die privilegierte EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft eher negativ als Restbestand der europäischen Kolonialvergangenheit gesehen. Deutschland und Schweden betonen das Anstrengungs- und - vor allem Schweden - das Bedürftigkeitsprinzip. Dabei erscheint das Prinzip der Anstrengung invers mit dem Bindungsprinzip verknüpft: Je stärker das Bindungsprinzip in den jeweiligen Solidaritätsstrukturen ausgeprägt ist, desto geringer ist die Bereitschaft, die AKP-Hilfe an Kriterien der Anstrengung zu knüpfen. Die unterschiedliche Gewichtung bei den solidarischen Handlungsprinzipien erklärt, warum Frankreich sich politisch und finanziell stark für den Fortbestand der exklusiven EU-AKP-Zusammenarbeit engagiert. Die Wahrnehmung wechselseitiger Verbundenheit zwischen Frankreich und seinen Ex-Kolonien führt zu solidarischer Nähe, die sich in privilegierter Unterstützung ausdrückt, während Deutschland und Schweden für die Normalisierung der Beziehungen eintreten. Die Kehrseite von internationaler Solidarität ist freilich, dass andere Staaten von Hilfebeziehungen machtvoll ausgeschlossen sind.
Unbestritten bleibt dabei, dass die EU-AKP-Politik auch ambivalent zu beurteilen ist. Das führen nicht nur die mageren Ergebnisse der Lomé-Phase vor Augen. Es wird hier keineswegs in Abrede gestellt, dass die AKP-Politik auch mit strategischen oder wirtschaftlichen Zielsetzungen einhergehen kann. Aber sie lässt sich auch nicht gänzlich auf diese Motive reduzieren. Vielmehr bildet der Solidaritätszusammenhang der EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft (wie vermutlich auch andere derartige Zusammenhänge in den internationalen Beziehungen) eine eigene, auf spezifischen Solidaritätskonstruktionen beruhende Handlungslogik aus.