Einleitung
Solidarität bezeichnet einen Zusammenhang zwischen Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, der sich durch eine besondere Form von Verbundenheit und wechselseitiger Verpflichtung auszeichnet.
In der Diskussion um die Perspektiven der Europäisierung ist häufig von der Notwendigkeit europäischer Solidarität die Rede. Politische und wirtschaftliche Integrationsbestrebungen, also Formen der "kalten Integration", reichen in den Augen vieler Beobachter nicht aus, um der Europäischen Gemeinschaft Sinn und Legitimität zu verleihen. Wenn Zugehörigkeit, Kollektivität und solidarische Verpflichtung nationalstaatlich organisiert sind, ist supranationale Solidarität aber keine Selbstverständlichkeit. So unterschiedliche Autoren wie Lepsius
Welche Solidarität?
Bevor man die Frage nach den Integrationsperspektiven im Lichte dieser skeptischen Sicht auf die europäischen Solidaritätsressourcen abschließend beantwortet, lohnt es sich, das Konzept der Solidarität weiter zu differenzieren und über die aufs Gemeinschaftliche reduzierte Fassung zu erweitern. Wir möchten daher verschiedene Solidaritätstypen unterscheiden, nämlich Eigennutzsolidarität, Verbundenheitssolidarität, Bürgersolidarität, Bewegungssolidarität und Mitgefühlssolidarität. In den folgenden Abschnitten werden diese unterschiedlichen Solidaritätstypen genauer beschrieben und es wird gefragt, inwiefern sich Solidarität des jeweiligen Typus auf der europäischen Ebene verorten lässt.
Eigennutzsolidarität
Der Begriff der Eigennutzsolidarität erscheint zunächst als ein Paradox, bricht er doch mit der zuvor angedeuteten Verbindung von Solidarität und Gemeinwohl. Ein Teil der Literatur zur sozialen Solidarität schlägt in der Tat vor, Solidarität als besondere Form sozialer Kooperation zu verstehen, die aus der Interdependenz von Interessen entsteht.
Übertragen auf die Europäische Union bedeutet dies, dass ein größerer Grad an Verflechtung und die Verdichtung von Austauschbeziehungen die Interdependenz von Interessen erhöht und damit auch Formen von eigeninteressierter Solidarität möglich machen. So kann die Interdependenz zwischen den wohlhabenden und den ärmeren Mitgliedsstaaten dergestalt sein, dass die reicheren Teilnehmer befürchten müssen, dass die relative Armut anderer Mitglieder negative Externalitäten freisetzt, die auch sie betreffen. Wenn beispielsweise starke Wohlstandsgefälle Probleme für die wohlhabende Seite mit sich bringen, ist es im Sinne 'eigennütziger Hilfe' durchaus rational, durch Transfers und Investitionen für Prosperität und Wohlstand in den ärmeren Regionen zu sorgen.
Innerhalb der EU gibt es umfangreiche Umverteilungen zwischen armen und reichen Ländern und Regionen im Rahmen der Struktur- und Regionalpolitik, die genau auf solche interessenpolitische Argumente zurückgeführt werden können. Diese machen immerhin ein Drittel des EU-Haushalts und rund 308 Milliarden Euro für die Finanzperiode 2007 - 2013 aus.
Verbundenheitssolidarität
Die zweite Konzeption von Solidarität betont die Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen den Mitgliedern sozialer Gruppen, die Solidarität nach sich ziehen können. Gefühle sozialer und emotionaler Nähe und Sympathie bilden hier "die entscheidenden Grundlagen für das solidarische Verhalten der einzelnen Mitglieder untereinander und für den Zusammenhalt der Gruppe".
Auch hier lässt sich wieder fragen, ob die Europäische Union für diese Art der Solidarität in Frage kommt. In den meisten kritischen Stellungnahmen zum Mangel der Solidaritätsressourcen wird vor allem auf diese Gemeinschaftssolidarität abgehoben.
Ganz zentral für die EU-Unterstützung ist deshalb, dass die Menschen sich kognitiv und emotional mit Europa verbunden fühlen. Es gibt allerdings eine große Skepsis, was das Vorhandensein einer kollektiven Identität der Europäer angeht. Dies vor allem deshalb, weil die Nationalstaaten in der Vergangenheit eine große normative Integrationsdichte entwickelt haben und im Laufe der Jahrhunderte ein exklusives Bindungsverhältnis mit "ihren" Bürgern aufbauen konnten. Deshalb ist es schwierig, sich eine europäische Identität vorzustellen, welche die nationale Identität einfach ablöst. Daten des Eurobarometers zur europäischen Identität weisen darauf hin, dass für eine Mehrheit der in den Mitgliedsländern Befragten der europäische Bezug eine Rolle spielt, sich aber nur eine Minderheit ausschließlich mit Europa identifiziert. In der Regel tritt Europa als zusätzliche Identifikationsebene hinzu und ersetzt die nationale nicht. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch europäische Verbundenheitssolidarität entstehen kann, allerdings ist diese weitaus weniger belastbar als die nationale Solidarität. Dass das Glas eher halb voll als halb leer ist, zeigt sich aber daran, dass die europäische Identität mit der Dauer der Mitgliedschaft ansteigt und dass das transnationale Vertrauen über die Zeit wächst.
Auch bei der zwischenstaatlichen politischen Kooperation spielen Identitätsfragen oder Fragen der Verbundenheit eine Rolle. Die konstruktivistische Theorie internationaler Beziehungen stellt heraus, dass Ideen, Werte und Zugehörigkeiten einen eigenständigen Einfluss auf das Verhalten von Staaten in internationalen Kooperationsbeziehungen haben.
Bürgersolidarität
Ein dritter Typus lässt sich als (Staats)Bürgersolidarität kennzeichnen. Ihm liegt zugrunde, dass moderne Solidarität sich nicht nur auf spezifische Formen der Verbundenheit und Kooperation zurückführen lässt, sondern auf ein republikanisches Modell, welches eine Staatsbürgerrolle begründet. Für moderne Gesellschaften gilt generell, dass die in ihnen vorherrschenden Solidaritätsbeziehungen weitgehend verrechtlicht und entpersonalisiert sind. Statt unmittelbare Interessen und Gefühle sind es über die Staatsbürgerrolle institutionell vermittelte Rechte und Pflichten, die das Handeln anleiten. Parsons verstand den gemeinsamen Status als Grundlage für eine neue Form von Solidarität, die durch wechselseitige Anerkennung geprägt ist.
Auf der EU-Ebene hat sich mit der Unionsbürgerschaft eine neue Form sozialer und politischer Inkorporation herausgebildet, die durch den herkömmlichen Begriff der nationalen Bürgerschaft nicht mehr gedeckt ist. Die damit verbundenen Rechte sind Freizügigkeitsrechte, die den Aufenthalt und die freie Mobilität in den EU-Mitgliedsstaaten zusichern, politische Rechte wie das Recht, bei Kommunal- und Europawahlen zu wählen und gewählt zu werden, und das Recht auf diplomatischen und konsularischen Beistand. Die Unionsbürgerschaft verstärkt die Dissoziation von Nationalstaatlichkeit und Bürgerschaft, ersetzt aber die nationale Staatsbürgerschaft nicht, so dass man von einer Koexistenz nationaler und supranationaler Bürgerschaft ausgehen muss.
Für unser spezifisches Thema der europäischen Solidarität sind natürlich die sozialen Rechte von besonderer Bedeutung. In vielen Bereichen wie z.B. bei Antidiskriminierung, Gleichstellungsfragen und im Arbeitsrecht hat die europäische Rechtssprechung dafür gesorgt, dass einheitliche Standards europaweit gelten und einklagbar sind. Die Organisation und Finanzierung der kollektiven Sicherungssysteme ist aber immer noch die Domäne des Nationalstaates. Unter den Bedingungen ungehinderter Mobilität und des Nicht-Diskriminierungsgebotes zwischen EU-Bürgern gilt aber, dass die Leistungsanrechte des Wohlfahrtsstaates allen EU-Mitbürgern, sofern sie auf dem Territorium leben oder sich dort aufhalten, offen stehen. Damit wird das Solidaritätskollektiv weniger über nationale Zugehörigkeiten bestimmt als vielmehr über den Aufenthalt innerhalb eines bestimmten Territoriums. Selbst wenn diese Veränderungen quantitativ noch unbedeutsam bleiben, so implizieren sie doch eine im Sinne zunehmender Europäisierung zu interpretierende Öffnung des Solidaritätshorizontes.
Bewegungssolidarität
Der Begriff der Solidarität ist weiterhin mit Formen der sozialen Mobilisierung und des Protests verbunden. Die von Marx hervorgehobene Unterscheidung von Klasse an sich und Klasse für sich hebt darauf ab, dass sich ein solidarischer Zusammenschluss zwischen Angehörigen einer Klasse nicht automatisch ergibt, sondern dieser erst konstituiert werden muss. Klassensolidarität ist eine spezifische Form des kollektiven Handelns, bei der Formen der Verbundenheit und des Zusammenstehens aus dem Erkennen gleicher Interessenlagen heraus entstehen. Schon früh ist auch in diesem Kontext die Frage aufgekommen, ob diese Art der Solidarität nicht eine internationale sein und nationale Grenzen überwinden müsse, besonders eindringlich ausgedrückt im "Proletarier aller Länder vereinigt Euch" des Kommunistischen Manifests.
Mit Blick auf traditionelle Kollektivakteure wie Gewerkschaften zeigt sich, dass diese sich schwer tun, einen gemeinsamen europäischen Ansatz zu entwickeln, weil unterschiedliche Politiken sehr unterschiedliche Auswirkungen auf ihr spezifisches nationales Klientel haben können.
Mitgefühlssolidarität
Wir haben bisher Solidaritätsformen diskutiert, die aus einem realen oder unterstellten sozialen Zusammenhang resultieren. Analytisch davon zu trennen ist die "Solidarität unter Fremden",
Diese Art von Solidarität kann ausgelöst werden, wenn man sich beispielsweise in die Notlage von anderen Personen oder Gruppen hineinversetzt. Im Unterschied zu den sozialen Nahverhältnissen mit ihren naturwüchsigen Solidarverhältnissen bedarf es im Falle des solidarischen Engagements für soziale und räumlich distanzierte Gruppen einer freien Entscheidung, die sich auf Gründe beruft.
Für diese Art der Solidarität lässt sich nicht so ohne weiteres eine europäische Spezifik ableiten. Trotz großer Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern gehört Europa immer noch zu den Wohlstandsinseln in einer globalisierten Welt. Die großen humanitären Katastrophen spielen sich jenseits der Grenzen der Europäischen Union ab. Sobald es aber Notsituationen innerhalb Europas gibt, wird auch Hilfe und Unterstützung gegeben - privat, durch Hilfsorganisationen, durch die Regierungen oder die EU selbst. Oft kommen Argumente der humanitär und der gemeinschaftlich motivierten Solidarität gleichzeitig in Anwendung, so bei der EU-Hilfe für Griechenland bei der Bekämpfung der verheerenden Waldbrände im Sommer 2007.
Solidarität, die sich auf konkrete Notlagen bezieht, wird in Europa aber nicht nur spontan organisiert, sondern ist auch Basis institutioneller Hilfesysteme. Im Dezember 2006 hat die EU mit dem Globalisierungsfonds, der immerhin mit 500 Millionen Euro ausgestattet ist, ein neues Instrument geschaffen, welches "Opfern der Globalisierung" in den Mitgliedsländern helfen soll. Dieser beinhaltet eine einmalige und spezifische Unterstützung für Maßnahmen der Wiedereingliederung bei über 1000 Entlassungen innerhalb eines kürzeren Zeitraums. Aufgelegt wurde er vor allem, um demonstrieren zu können, dass die EU nicht nur die wirtschaftliche Integration vorantreibt, sondern auch bei sichtbaren negativen Folgen der Globalisierung solidarische Hilfe gewährt. Hier wird auf Notsituationen ausgerichtete Solidarität vor allem dafür eingesetzt, um Legitimität zu gewinnen und das Image der EU zu verbessern.
Man kann die Sicht auf humanitär orientierte Solidarität aber noch erweitern, wenn man nicht nur auf interne Solidarität zwischen den Mitgliedsländern und Bürgern der EU abhebt, sondern auch auf europäische Solidarität "mit dem Rest der Welt".
Potentiale und Grenzen der paneuropäischen Solidarität
Diese Differenzierung des Konzepts der Solidarität war ein Versuch, die so häufig geführte Klage über einen Mangel an europäischer Solidarität gegen den Strich zu lesen. Unrecht haben diejenigen, die europäische Solidarität für ausgeschlossen und unwahrscheinlich halten, aber ebenso diejenigen, die einfach von einer am nationalstaatlichen Vorbild ausgerichteten Herausbildung europäischer Solidarität ausgehen. In jeder Hinsicht, in sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller, aber eben auch im Hinblick auf Solidarität ist und bleibt Europa ein Gebilde sui generis. Was die zukünftige Entwicklung von Solidarität angeht, so ist es nicht einfach, eine empirisch gesättigte Prognose abzugeben. Generell gilt, dass Institutionen und politische Praktiken Motivationen transformieren und identitätsstiftend wirken können, aber auch, dass die Möglichkeiten der politischen Erzeugung und Manipulation von Solidaritätsorientierungen begrenzt sind, da diese in recht langfristigen und komplexen Prozessen generiert werden. Der politische Vorgriff auf zu erwartende Solidaritätszuwächse ist ein Balanceakt, bei dem immer das Risiko der Überforderung der Solidaritätsbereitschaft besteht. Aber ohne diesen Vorgriff ist eine Selbstbindung an den politischen Status quo vorprogrammiert.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es eine grundlegende Spannung zwischen nationaler Solidarität und europäischer Solidarität dergestalt geben kann, dass die dichte Form nationaler Vergemeinschaftung die Erweiterung des Solidaritätshorizontes auf Europa erschwert. Claus Offe hat davor gewarnt, dass die Entgrenzung von Solidaritätspflichten dazu führen kann, dass sich die Teilnehmer der Integration überfordert fühlen und sich größere Akzeptanzprobleme ergeben.