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Demokratische Solidarität in der Weltgesellschaft

Hauke Brunkhorst

/ 17 Minuten zu lesen

Demokratische Solidarität hat in den vergangenen Jahrzehnten die Grenzen des Nationalstaats überschritten und ist zu einem globalen Imperativ geworden. Trotz großer Fortschritte ist es um die Weltgesellschaft nicht gut bestellt.

Einleitung

Klassiker der Soziologie wie Emile Durkheim oder Talcott Parsons haben Solidarität als "Maß" für die "noch zusammenhaltbare Verschiedenheit" der Gesellschaft verstanden. Moderne Gesellschaften sind hoch differenziert, in hoch spezialisierte Funktionsbereiche, Wertsphären und Kulturen zerfallen, die einander fremd und unverständlich bleiben. Die moderne Gesellschaft könnte als das definiert werden, was sie nach Auffassung der politischen Mehrheit des Bundestags nicht sein soll, aber doch unverrückbar ist: eine riesige Ansammlung von Parallelgesellschaften. Kaum war der Begriff in den Abendnachrichten des Fernsehens, konnte es jeder sofort sehen: Nicht nur die Türken, auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und die politische Klasse, die sich bei jedem Fernsehinterview selbst drinnen in der Stadt lokalisiert, um zu den Menschen draußen im Lande zu reden, ist Angehöriger einer Parallelgesellschaft; die Menschen bilden ganz offensichtlich eine andere, und der Vorstandschef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, und die Gesellschaft des internationalen Finanzkapital eine weitere Parallelgesellschaft.



Das Erstaunliche an der modernen Gesellschaft ist aber nicht die Tatsache, dass sie in zahllose Parallelgesellschaften zerfällt, sondern dass sie dabei trotzdem zusammenhält und auch noch viel leistungsfähiger und funktionstüchtiger ist als alle früheren Gesellschaften zusammengenommen. Auch diese Gesellschaften kannten zwar schon lange Parallelgesellschaften (Adel und Volk, Bürger und Fremde, Stadt und Land), aber sie haben sich zumindest in einem übergreifenden Weltbild (Religion, Mythos) selbst als Einheit dargestellt, und sie waren auch tatsächlich, vergleicht man sie mit der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, relativ homogen. Dafür waren sie aber nicht nur weit weniger leistungsfähig, auch ihr Zusammenhalt war trotz der größeren Homogenität der Gesellschaft nicht stärker, sondern schwächer. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hat einer der Gründungsväter der modernen Soziologie, Herbert Spencer, diese Beobachtung zu einem Gesetz generalisiert, das wahrscheinlich das einzige unangefochtene Naturgesetz ist, das die Soziologie in ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte je entdeckt hat: Die funktionale Stabilität einer Gesellschaft steigt mit wachsender Heterogenität, und sie fällt mit wachsender Homogenität. Je mehr Parallelgesellschaften sie hat, umso stabiler ist die Gesellschaft, und wer politische Programme entwickelt, um Parallelgesellschaften zu "integrieren", wie der deutsche Innenminister, gefährdet, was er bewahren möchte: ihre Stabilität und Leistungsfähigkeit. In der Demokratie - und das ist ein wesentlicher Aspekt demokratischer Solidarität, die nicht nur dem Verfassungsfreund, sondern auch dem Verfassungsfeind gilt - darf er das natürlich, sollte es aber wissen.

Die Überlegungen Spencers und Durkheims, die Parsons und Luhmann weiterentwickelt haben, beruhen auf einer einfachen Analogie: Die Organe des menschlichen Körpers könnten verschiedener nicht sein, und doch halten sie den Körper zusammen: Tausende von Parallelorganen. Dasselbe gilt für die Organe der modernen Gesellschaft, ihre Funktionssystemen und Spezialeinrichtungen, und deshalb spricht Durkheim ganz unromantisch von organischer Solidarität.

Romantischer inspirierte Autoren wie Karl Marx oder Hannah Arendt hingegen sind, obwohl beide von der Richtigkeit des Spencer-Durkheimschen Gesetzes vollkommen überzeugt sind, an einem ganz andern Begriff praktischer Solidarität interessiert, die beide gerne am Beispiel revolutionärer Solidarität erläutern. Diese Form der Solidarität entsteht überhaupt erst in Reaktion auf Zustände empörenden Unrechts. Aber auch in diesem Fall sind nicht Einheit und Perfektion die Quellen der Solidarität, sondern politischer Widerspruch und sozialer Konflikt.

Demokratische Solidarität kann nun als komplexe Verbindung der organischen mit der praktischen Solidarität verstanden werden. Sie bemisst sich an der Fähigkeit einer Rechtsgenossenschaft, die revolutionäre Solidarität der pouvoir constituant, der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes durch eine institutionelle Differenzierung des Rechtserzeugungs- und Umsetzungsprozesses (Organisationsverfassung, Gewaltenteilung) zu erhalten und zu erneuern. Während die organische Solidarität also ihr Maß an noch zusammenhaltbarer Verschiedenheit hat, ist das Maß praktisch-revolutionärer Solidarität die Aufhebung unerträglicher und unzumutbarer Unterschiede und Ungleichbehandlungen, und demokratische Solidarität verbindet durch ein "Recht, das demokratische Politik ermöglicht", das eine mit dem anderen, die Gleichheit mit der Verschiedenheit, oder anders formuliert: den Kampf gegen die Ungleichheit mit der Anerkennung der Verschiedenheit.

Überall, wo der konstitutionelle Zusammenhang zwischen praktischer und organischer Solidarität, zwischen Gleichheit und Verschiedenheit zerreißt, kommt es zu Legitimationkrisen. Sie entstehen immer dann, wenn die funktionsnotwendige Solidarität im Zusammenhalt der Spezialeinrichtungen die Entstehung normativ unerträglicher Unterschiede in der sozialen Lebenswelt nicht verhindern kann oder gar zur Folge hat. Die Geschichte der modernen Gesellschaft Europas hat schon viele Legitimationskrisen erlebt. Sie haben viel mit dem zu tun, was Marx die Entfesselung aller Produktivkräfte durch die bürgerliche Gesellschaft genannt hat. Seit dem 16. Jahrhundert sind aber nicht nur die materiellen Produktivkräfte explodiert, sondern auch alle kommunikativen Energien fundamentalistischer Religionen (Protestantismus), öffentlichen Administrativmacht (Staatsräson) und der freien Arbeits-, Geld und Immobilienmärkte (moderner Kapitalismus) entbunden worden. Das hat regelmäßig zu nicht mehr kontrollierbaren Ausbrüchen von Gewalt und Unterdrückung geführt und eine Serie blutiger Revolutionen und Aufstände zur Folge gehabt. Es bedurfte der historisch einzigartigen Machtkonzentration des republikanischen Nationalstaats, der in den Stürmen dieser Revolutionen entstanden ist, um die Explosion der Energien funktionaler Differenzierung in kontrollierte Kettenreaktionen (und damit unkalkulierbare Krisen in kalkulierbare Risiken) zu überführen. Dem Nationalstaat ist es erst im Zuge seiner demokratischen Konstitutionalisierung gelungen,

1. die Freiheit der Religion zusammen mit der Freiheit von der Religion zu institutionalisieren und damit Aufklärung und Religion gleichermaßen als Solidaritätsquellen zu erschließen;
2. die Freiheit von der öffentlichen Gewalt mit der Freiheit des öffentlichen Lebens ins Gleichgewicht zu bringen und den Staatsapparat der demokratischen Solidarität der Bürgergesellschaft zu unterwerfen, und schließlich
3. die Freiheit der Märkte zusammen mit der Freiheit von den negativen Externalitäten des Kapitalismus zu gewährleisten.

Die Leistung demokratischer Solidarität bestand in der Exklusion von Ungleichheit (Rudolf Stichweh). Vom frühen 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war der moderne Staat jedoch auf die Regionalgesellschaften Europas, Amerikas und Japans beschränkt, und der Imperialismus war dem souveränen Nationalstaat keineswegs fremd, gehörte vielmehr zu dessen innerstem Wesen. Das hat sich freilich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs grundlegend geändert. Seit 1945 haben sich die Gewichte in einem breiter werdenden Segment der Staatenwelt immer weiter zugunsten der Demokratie verschoben, um deren Existenz schließlich zwei Weltkriege geführt wurden, und fast überall haben sich die Normtexte von Verfassungen durchgesetzt, die zumindest auf dem Papier gebieten, bestehende Herrschaft nicht mehr nur zu begrenzen, sondern als Herrschaft Beherrschter demokratisch neu zu begründen. Demokratische Solidarität ist, so scheint es, on the road zu einem universellen Völkerrechtsprinzip.

Normativ integrierte Weltgesellschaft

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestand die dunkle Kehrseite der regional und auf die rechtliche Gleichheit der eigenen Staatsangehörigen beschränkten, nationalstaatlichen Exklusion von Ungleichheit in der auch rechtlich zementierten Ungleichheit für diejenigen Individuen, Organisationen und politischen Regimes, die nicht der nordwestlich zentrierten Staatenwelt angehörten. Einen juristisch zwingenden Anspruch auf den globalen Ausschluss von Ungleichheiten gab es nicht.

Das hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch geändert. Zwar sind massive Menschenrechtsverletzungen, sind die soziale Exklusion ganzer Weltregionen und empörende Ungleichbehandlungen nicht verschwunden. Aber jetzt erst werden Menschenrechtsverletzungen, Rechtlosigkeit und politische und soziale Ungleichheit als unser eigenes Problem verstanden, das jeden Akteur der Weltgesellschaft betrifft, und erst jetzt gibt es ernsthafte und rechtlich bindende Ansprüche auf die globale Exklusion von Ungleichheit. Jetzt erst kann die durch wachsende Verschiedenheit erzeugte Ungleichheit als rechtlich unzumutbar bezeichnet und als Rechtsverletzung, die "überall gespürt wird" (Kant), erfahren werden. Insofern kann man mit Jürgen Habermas und Stichweh heute von einer normativ integrierten Weltgesellschaft sprechen.

Die ursprünglich nur für den westlichen Nationalstaat konstitutive Exklusion von Ungleichheit ist heute zur gemeinsamen öffentlichen Angelegenheit aller Völkerrechtssubjekte, der Staaten, der internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, der Völker und individuellen Weltbürger geworden. Diese werden damit zu einem globalen politischen Publikum, zu einer Weltöffentlichkeit, zu einer Weltrepublik ohne Weltstaat. Die alten Völkerrechtsordnungen des Augsburger Religionsfriedens, der Pax Westfalia und des Wiener Kongresses, die im staatswillenspositivistisch gesonnenen 19. und frühen 20. Jahrhundert ihr staatsrechtliches Credo noch im "logischen Imperialismus" (Hans Kelsen) souveräner Einzelstaaten hatten und deshalb wechselseitig den egozentrischen Anspruch erheben konnten, jeweils Herren allen Rechts zu sein, ist der civitas maxima einer Weltrechtsgemeinschaft gewichen, die normativ über den heute nicht einmal mehr verfassungsautonomen Staaten steht. Es gibt heute ein hoch differenziertes globales System der Gewaltengliederung, in dem die Staaten und ihre transnational stärker oder schwächer vernetzten Organgewalten ihren Part neben und unter den übrigen Organen der Fortbildung, Anwendung und Durchsetzung des Völkerrechts übernommen haben. Mit dieser Entwicklung reagiert die internationale Gemeinschaft bereits auf den wachsenden, strukturellen Solidaritätsbedarf der funktional differenzierten und normativ integrierten Weltgesellschaft.

Annahme einer konstitutiven Weltkultur

Die Weltgesellschaft ist nicht nur ein Produkt des europäisch-nordwestlichen Imperialismus, sondern verdankt sich ebenso autochthonen zivilisatorischen Parallelentwicklungen anderer Weltregionen. Die regionalen Gesellschaften sind heute alle gleich weit von allen vormodernen Gesellschaften entfernt und alle gleichermaßen modern. Damit bricht die ideologisch immer geläufige Identifikation von Verwestlichung und Modernisierung wissenschaftlich in sich zusammen.

Heute sind ausnahmslos alle menschlichen Individuen von Schul- und Markterfolg abhängig. Alle sozialen, kulturellen, politischen und regionalen Unterschiede, die unsere Lebenschancen sehr ungleich verteilen, ändern nichts daran, dass das Lebensschicksal einer und eines jeden, spätestens seit Vernichtung der letzten Hauswirtschaften, überall der hohen Selektivität dieser beiden Systeme unterworfen ist. Die Basis, die Gesellschaftsstruktur funktionaler Differenzierung ist überall dieselbe, und die Zwangsmitgliedschaft in Schulen und Unternehmen erzeugt zusammen mit den anderen Diskursmächten der modernen Gesellschaft und ihres Staats, der Polizei, den Kliniken, dem Militär, dem Gefängnis usw. das moderne Disziplinarindividuum (Foucault).

Zusammen mit dem materiellen Sein ändert sich auch das kollektive Bewusstsein und Wissen der Weltgesellschaft, "wälzt sich der ganze, ungeheure Überbau langsamer oder rascher um" (Marx). Die einzelnen menschlichen Individuen sind nicht nur der äußeren Zwangsindividualisierung durch die überall gleiche Sozialstruktur ausgesetzt, sondern eine durch und durch säkulare Weltkultur formt die säkularen ebenso wie die (überwiegend) nichtsäkularen Lebenswelten, die intrinsischen Motive und die habits of the heart im Sinne eines modernen - sei es kommunitaristischen ("asiatische Werte"), sei es liberalen ("westliche Werte") - Individualismus und Rationalismus. Dadurch aber geraten die vielen verschiedenen und besonderen, regional und lokal geprägten, religiös bestimmten oder atheistischen, liberalen oder paternalistischen Herkunftskulturen in Abhängigkeit von global abrufbarem kulturellem Wissen und säkularen Wertorientierungen.

Binnen kürzester Zeit haben sich individualistische und konsumistische Lebensstile ubiquitär verbreitet, in fundamentalistischen Armuts- ebenso wie in liberalen Reichtumsregionen. Gut beobachtbar ist die globale Kulturrevolution gerade am religiösen Fundamentalismus. Statt sie zu bewahren und zu erneuern, vernichtet und dekontextualisiert er die religiösen Traditionen, instrumentalisiert er sie politisch, individualisiert und atomisiert er sie bis zur Perversion des (hoch individualistischen) Selbstmordattentats.

Der Überbau formt auch die Basis. Nur durch die Annahme einer konstitutiven Weltkultur lässt sich nämlich, wie John W. Meyer und die empirischen Untersuchungen der Stanford School gezeigt haben, die überraschend hohe Einheitlichkeit der weltgesellschaftlichen Akteure (Individuen, Staaten, Organisationen) überhaupt verstehen. Man muss sich nur einmal nicht fragen, warum alles so verschieden, sondern, warum es so gleich ist, und dann sieht man sofort eine sehr weit gehende, erst wenige Jahrzehnte alte Übereinstimmung der Wertorientierungen und der Sozial- und Sozialisationstechniken. So kommt bei der Reform staatlicher Bildungseinrichtungen fast überall das 6-3-3-Schema der Schulstufen zur Anwendung, wird fast überall zur selben Zeit der schülerzentrierte Unterricht eingeführt. Das Recht nahezu aller Staaten ist weitgehend positiviert und akademisch professionalisiert. Verfassungs- und einfaches Recht sind getrennt. In kürzester Zeit ist fast überall eine ausgedehnte und einflussreiche Verfassungsrechtssprechung entstanden. Die Regierungen gleichen sich in ihren basalen Institutionen fast wie ein Ei dem andern, überall Minister und Staatssekretäre, überall Bildungs- und Umweltministerien, auch wo das reine Geldverschwendung ist. Fast überall haben wir Antidiskriminierungsquoten, Frauenrechte, und die politischen Führer aller Länder, egal ob sie Kommunisten oder Kapitalisten, religiöse Fundamentalisten oder laizistische Atheisten sind, versprechen überall Fortschritt, Wachstum, Frieden, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Die Programme sind fast austauschbar, und überall besteht dieselbe Kluft zwischen progressivistischer Rhetorik und hinterher hinkender Realisierung. Das eine mal ist sie Ansporn zu weiterer Anstrengung (USA), das andere mal Grund zur Resignation (Brasilien). Die regionalen Besonderheiten sind Differenzierungen der einen Weltkultur.

Civitas Maxima - Verfassung der Weltgesellschaft

Wenn auch die am Beginn der globalen Rechtsrevolution nach dem Ersten Weltkrieg angefeindeten, verspotteten und verhöhnten Protagonisten der civitas maxima, des Völkerbunds, des Weltrechts und der Demokratie wie Hans Kelsen oder Georges Scelle am Ende gegen Carl Schmitt und Hans Morgenthau Recht behalten haben, so ist die civitas maxima, in und mit der wir heute leben müssen, doch weit davon entfernt, in guter Verfassung zu sein. Die Verfassung der Weltgesellschaft ist vielmehr ein Netzwerk aus Rechten und Organisationsnormen, die den Widerspruch von demokratischer Solidarität und hegemonialer Weltstaatlichkeit, der die heutige Welt durchzieht, in sich abbilden. Die Macht der konstitutionell zumindest halbwegs gebändigten Hegemonialmächte wächst überall auf Kosten der demokratischen Solidaritäten. Die durch Konstitutionalisierung steigende Fähigkeit der multikulturellen, hoch individualisierten und immer weiter spezialisierten Gesellschaft, wachsende Verschiedenheit noch zusammenzuhalten, wird von immer unerträglicher werdenden Unterschieden des Kapitals und der Arbeit, der Eingeschlossenen und der Ausgeschlossenen, der Macht, des Glaubens, des Wissens, der Rechte usw. begleitet.

Die strukturelle Kopplung von Politik, Recht und Wirtschaft im Weltverfassungerecht hat zwar dazu geführt, dass zumindest das Annexionsverbot in fast allen Krisen und kriegerischen Konflikten effektiv durchgesetzt und Angriffskriege, wenn nicht vermieden, so doch erfolgreich illegalisiert und entsprechend sanktioniert werden konnten. Auch Kelsens Hoffnung auf einen Weltstaat hat sich in der schwächeren Form einer dezentrierten Weltstaatlichkeit verwirklicht, die Staatsfunktionen schon lange nicht mehr nur intergouvermental ergänzt, sondern vielfach durch Leistungen der internationalen Gemeinschaft substituiert.

Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts ist weit von einer Realisierung ihres eigenen, normativen Anspruchs auf globale Exklusion von Ungleichheit entfernt. Die Unerträglichkeit dieser Ungleichheiten ist es, für deren Kompensation das vorhandene Potential organischer Solidarität nicht ausreicht und die in dem Maße die rächenden Gewalten revolutionärer Solidarität ebenso herausfordert, in dem sie die versöhnende Kraft nationalstaatlich gebundener, demokratisierter Solidarität überfordert.

Mit der Etablierung weltstaatlicher Strukturen schwindet die Fähigkeit des Nationalstaats, Ungleichheit wirksam auszuschließen. Das hat vor allem drei Ursachen, die ineinander greifen, sich wechselseitig verstärken und die vorhandenen Solidaritäten überfordern:

1. Die Globalisierung der Geld-, Arbeits- und Immobilienmärkte hat die state embedded markets des nationalen Spätkapitalismus in die market embedded states des globalen Turbokapitalismus verwandelt, und der auf diese Weise dekonstitutionalisierte Kapitalismus stürzt den demokratischen Sozialstaat des Westens, noch während er gerade über den diktatorischen des Ostens heiter triumphiert, in eine tiefe Krise. Die Freiheit der Märkte entfesselt sich erneut - fast wie es bei Marx im Buche steht - auf Kosten der Freiheit von ihren negativen Externalitäten.

2. Was dem Kapitalismus recht ist, ist der Religion billig. Die fundamentalistischen Sekten und Netzwerkreligionen und die katholische Kirche, die seit fast tausend Jahren mit weltstaatsartigen Organisationsformen experimentiert haben, sind die großen Globalisierungsgewinner, die protestantischen Staatskirchen ihre Verlierer. Die zweite große Transformation hat die state embedded religions des souveränen Nationalstaats in die religion embedded states eines weltstaatlichen Systems verwandelt, dessen staatliche und überstaatliche Organgewalten auch zusammen nicht ausreichen, um die Weltreligionen produktiv zu institutionalisieren. Die anarchische Freiheit der so dekonstitutionalisierten Religionen entwickelt sich seitdem auf Kosten der Freiheit von der Religion.

3. Nicht nur Kapitalismus und Religion, auch die öffentlichen Exekutivgewalten haben sich inter-, trans- und supranational vernetzt, aus ihren verfassungs- und staatsorganisationsrechtlichen Verankerungen losgerissen und dekonstitutionalisiert. Die dritte große Transformation verwandelt die state embedded public powers in power embedded states. Seit geraumer Zeit wirken z.B. die im Sicherheitsrat vereinigten Exekutivgewalten unmittelbar auf das Leben der einzelnen Bürgerinnen und Bürger ein. So sanktioniert der UN-Sicherheitsrat - in diktatorischer Einheit von legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt - seit Beginn der 1990er Jahre Einzelpersonen, Unternehmen und private Vereinigungen bis hin zum listing of terror suspects einschließlich Hausarrest und freezing ihrer Konten - ohne dass es dagegen bislang auch nur im nachhinein ausreichende, legal remedies gäbe. Das ist ein gutes Beispiel der Substitution von Staatsfunktionen durch internationale Organisationen und ein weiteres Beispiel unerträglicher Ungleichbehandlung: Wachstum der Freiheit der öffentlichen Gewalt auf Kosten der Freiheit von der öffentlichen Gewalt.

Die Rekonstitutionalisierung von Kapitalismus, Religion und öffentlicher Gewalt kann der Nationalstaat aus eigener Kraft nicht mehr leisten. Auch die hoch spezialisierten und eng an die Funktionssysteme gebundenen, globalen Verfassungsregimes sind dazu bislang nicht imstande. Aber neue Regionalregimes vom Typus der Europäischen Union könnten zum Retter der überall bedrohten demokratischen Solidaritäten werden. Sie bündeln wie Staaten Funktionen und konstituieren - anders als die Weltgemeinschaften - territorial begrenzte, eigene Bürgerschaften. Sie könnten deshalb die nötige Macht erzeugen und demokratisch legitimieren, die für das re-embedment von Kapitalismus, Religion und öffentlicher Gewalt erforderlich ist. Eine Entwicklung, die in diese Richtung geht, zeichnet sich jedoch bislang noch nicht ab, und das nicht nur wegen des verlorenen Verfassungsreferendums, dessen Vertrag, nachdem er an den Bürgern gescheitert ist, nun ohne sie und ohne das Wort Verfassung verabschiedet wird. In diesem technokratischen Verfahren des bypassing public opinion spiegelt sich eine Strukturschwäche des inter-, trans- und supranationalen Rechts, die ich abschließend noch kurz beleuchten möchte.

Direktoriale Richtlinienkompetenz in der Weltgesellschaft

Die vereinigten Exekutivgewalten könnten zwar jenseits des Nationalstaats die Macht erzeugen, die nötig wäre, um die Freiheit der Märkte, der Religionen und der öffentlichen Gewalten zu rekonstitutionalisieren und das Versprechen der globalen Rechtsrevolution einzulösen, Ungleichheit überall, wo Menschen leben, auszuschließen. Aber ihnen fehlt dazu das Interesse. Ihr demokratisch legitimiertes Interesse an Machtsteigerung führt die vereinigten Exekutivgewalten nämlich mit den andern global players, frequent travellers und professionels, mit Unternehmensvorständen, mächtigen Nichtregierungsorganisationen, Medien-tycoons und Fernsehstars zu einer neuen transnationalen Klasse mit eigenen, demokratisch nicht mehr legitimierten Klasseninteressen, eigenem Habitus und symbolischem Kapital zusammen. Der aktive cosmopolitism of the few trennt sich vom passiven cosmopolitism of the many.

Diese Transformation eines demokratisch legitimierten in ein nicht mehr demokratisch kontrolliertes Handeln wird durch die im Vergleich zum demokratischen Rechtsstaat großen Lücken und die hohe Elastizität internationalen, auch des europäischen Rechts, möglich. Sie begünstigt die Substitution zwingenden Rechts durch informelle Herrschaft. Die legale degeneriert zur konkreten Rechtsordnung (Carl Schmitt). So treffen sich die Chefs der großen Zentralbanken regelmäßig hinter verschlossenen Türen in den Räumen einer Baseler Privatbank und legen durch rein informelles, aber hoch wirksames soft law die Richtlinien der globalen Finanz- und Geldpolitik fest. Von den Streitereien auf den G8- und Euro-Gipfeln berichten die Nachrichtensender, nicht aber darüber, dass die mächtigsten Staatschefs sich in den meisten Punkten ihrer immer länger werdenden Agenden einig sind und längst so etwas wie eine direktoriale Richtlinienkompetenz in der Weltgesellschaft ausüben. Die Proteste, die regelmäßig jene Gipfeltreffen begleiten, sind vielleicht ohnmächtig und oft schlecht begründet, aber sie machen das Legitimationsproblem der Weltgesellschaft für alle sichtbar. Was sie erkennen lassen, ist der Riss in der demokratischen Legitimationskette (Wolfgang Böckenförde), den der Zaun symbolisiert, der die eingeschlossene Exekutivgewalt von der ausgeschlossenen Bürgermacht trennt. Mehr noch als ein demokratisches, klafft ein institutionelles Defizit zwischen denen draußen und denen drinnen. Kein Gesetzgeber hat den lose assoziierten Vereinigungen und Gipfeltreffen der Exekutiven, frequent travellers und global players Kompetenzen zugeschrieben. Kein Verwaltungsgericht ist für ihre vollkommen freie Assoziation zuständig. Wo als Ergebnis der Beratungen keine gesetzliche Norm, sondern nur ein Protokoll verfasst wird, kommt kein Kläger, kommt kein Richter, und die Allzuständigkeit des Parlaments verstummt.

Nehmen wir ein harmloses Beispiel aus dem Hochschulalltag. MA, BA, Akkreditierungskommissionen, Evaluierungen, ECTS-Punkte, Vernichtung akademischer Arbeitszeit für Verwaltungstätigkeiten, für die Professoren, Assistenten usw. nicht qualifiziert sind, geschweige denn bezahlt würden, Hochschulräte, in denen die landesüblichen Unternehmer mit Sitz und Stimme vertreten sind, kurz: der Bologna-Prozess. In dieser oberitalienischen Stadt haben sich Minister und Staatssekretäre, Experten Europas aus EU und Anrainern und ein private-public-Partner als Vertreter der Bürgergesellschaft, die Gesandtschaft des Bertelsmannkonzerns, eines schönen Tages ohne Organkompetenz, spontan, informell und völlig legal getroffen, über die Reform der europäischen Universität geplaudert, diskutiert, gearbeitet und der Öffentlichkeit auf der anschließenden Pressekonferenz ein Ergebnisprotokoll präsentiert: ein Protokoll ohne Rechtsverbindlichkeit, keinen völkerrechtlich bindenden Vertrag, der vor seiner Umsetzung noch der parlamentarischen Ratifizierung bedurft hätte, kein europäisches Gesetz, keine Richtlinie, keine Entscheidung, keine Verordnung, noch nicht einmal eine unverbindliche Empfehlung oder Stellungnahme gemäß Art. 249 EGV, sondern eine kollektive Meinungsäußerung, bestenfalls institutionell ortloses soft law. Aber das hat es in sich. Es entfaltet legislative Wirkung, weil es keine formelle Rechtskraft hat. Es wird in ganz Europa, EU plus Anrainerstaaten klag- und diskussionslos umgesetzt und führt in kürzester Zeit zur vollständigen Umwälzung des europäischen Universitätssystems. Da sag noch mal einer, die Politik sei nicht handlungsfähig. Während die Wissenschaftler, die zwar mittlerweile jedes korporative Selbstbewusstsein verloren haben, aber immer noch zu zahlreicher Individualkritik motiviert sind, sich in den Feuilletons den Mund fusselig reden, vollzieht die hoch bewegliche zweite Gewalt das bypassing der öffentlichen Meinung.

Wie macht die politische Klasse das? Mit einer simplen Herrschaftstechnik, die in der EU gang und gäbe ist: Die Minister kommen nach Hause, berichten vom Protokoll und erklären, wegen Brüssel müsse das ganze eins zu eins umgesetzt werden. Und es wird umgesetzt. Das zur nachgeordneten Behörde degradierte Parlament kann nichts machen und fügt sich "feig, kleinlaut, muthlos" (Marx) zur fälligen Abstimmung, 93,99 Prozent Ja-Stimmen, ein Volkskammerbeschluss. Der Minister ist es nicht gewesen, Brüssel ist's gewesen und nimmt alle Schuld auf sich: das christliche Europa. Nur die Kommissare der Brüsseler Behörde wundern sich am Ende über Legitimationseinbußen und beschimpfen nach dem verlorenen Verfassungsreferendum das Volk. Wo doch alles so schön geklappt hatte, und eines vor allem: Die vereinigten Exekutiven Europas und ihr Bürgervertreter Bertelsmann haben ihre transnationale Klassenmacht wieder einmal ein kräftiges Stück weit vergrößert, ihren Handlungsspielraum jenseits der Gesetzesbindung erweitert, ungeahnte Kompetenzen dazu gewonnen, ihre vielerlei Chancen in der Politik und im Leben verbessert. Einen technisch perfekter funktionierenden Sachzwang hätte Helmut Schelsky nicht erfinden können.

Die ursprüngliche Akkumulation informeller Macht, die sich heute an der Arbeit des Europäischen Rats ebenso gut beobachten lässt wie am Beispiel des Baseler Bankenausschusses oder der G8-Gipfel usw., ermöglicht der transnationalen Klasse das geräuschlose bypassing aller organisationsrechtlich prozeduralisierten Legitimationsmechanismen. Informelle Beschlüsse ohne bindenden Charakter wirken wie das altrömisch republikanische senatus consultum: ein Ratschlag ohne formelle Gesetzeskraft, dem sich trotzdem niemand entziehen kann. Im Vorspann zur Vorlage der Schleswigholsteinischen Landesregierung für ein neues Hochschulgesetz, Abschnitt A, Absatz 2 ließt sich das dann parlamentarisch unwidersprochen so: "Der Bolognaprozess mit seinen 45 Mitgliedstaaten setzt Standards, die auf der Ebene des jeweiligen Landes umgesetzt werden müssen."

In dieser Situation ist jeder Schritt zur Formalisierung informeller Macht ein Gewinn für die Demokratie, denn nur "zwingendes Recht befreit von informeller Herrschaft." (Christoph Möllers) Es stärkt den cosmopolitanism of the many. Er schwächt den cosmopolitanism of the few.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Niklas Luhmann, Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie, in: Emile Durkheim, Soziale Arbeitsteilung, Frankfurt 1988, S.25.

  2. Vgl. Herbert Spencer, First Principles, § 154; s. a. Principles V (Political Institutions), § 454, London 1882.

  3. Vgl. Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bügerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt/M. 2002.

  4. Christoph Möllers, Verfassung - Verfassunggebung - Konstitutionalisierung, in: Arnim von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Heidelberg 2003, S. 3 ff.

  5. Vgl. Regina Kreide, Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments, Frankfurt/M. 2008.

  6. Vgl. Matthias Albert/Rudolf Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2007.

  7. Vgl. Wolfgang Streek, Sectoral Specialization: Politics and the Nation State in a Global Economy, paper presented on the 37th World Congress of the International Institute of Sociology, Stockholm 2005.

  8. Nicht zuletzt deshalb bedarf es umso dringlicher einer vollständigen Verfassung der globalen Rechtsgenossenschaft.

  9. Vgl. Christoph Schönberger, Föderale Angehörigkeit, Habilitationsschrift, Freiburg 2005.

  10. Vgl. Gertrude Lübbe-Wolf, Die Internationalisierung der Politik und der Machtverlust der Parlamente, in: Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, Sonderheft der Sozialen Welt 2008.

  11. Vgl. Craig Calhoun, The Class Consciousness of Frequent Travelers, in: The South Atlantic Quarterly, (2002) 4, S. 869 - 897.

Dr. phil., geb. 1945; seit 1997 Professor für Soziologie an der Universität Flensburg, Auf dem Campus 1, 24943 Flensburg.
E-Mail: E-Mail Link: brunk@uni-flensburg.de