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Indiens Weg zur Wirtschaftsmacht | Indien | bpb.de

Indien Editorial Indien auf dem Sprung zur Weltmacht - Essay Indiens Weg zur Wirtschaftsmacht Ein reiches Land mit armen Menschen Indiens internationale Klimapolitik Hindu-Nationalismus - Gefahr für die größte Demokratie? Der indisch-pakistanische Konflikt

Indiens Weg zur Wirtschaftsmacht

Harald Müller Carsten Rauch Carsten Harald Müller / Rauch

/ 16 Minuten zu lesen

Wie kam es zu Indiens Aufstieg? Der Text diskutiert die Hintergründe und Inhalte sowie die Erfolge und Misserfolge der Anfang der 1990er Jahre begonnenen Wirtschaftsreformen.

Einleitung

Wenn seit einiger Zeit immer mehr westliche Beobachter Indien als Groß- oder gar Weltmacht bezeichnen, so liegt die Erklärung scheinbar auf der Hand: Mit den Atomtests von 1998 habe Indien mit den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich - den Ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats - gleichgezogen und sei in die Reihe der Weltmächte aufgestiegen. Diese direkte Verbindung zwischen Kernwaffen und weltweiter Anerkennung kann indes Indiens Aufstieg nicht hinreichend erklären. Zum einen ist Indien de facto seit 1974 Atommacht. Zwar wurde der damalige Atomtest von Neu Delhi verschämt als "friedliche Kernexplosion" bezeichnet. Doch damit hatte sich das Tor zur Indienststellung von Atomwaffen geöffnet. So sah es auch die internationale Gemeinschaft, die den indischen Schritt nicht mit einem Prestigegewinn belohnte, sondern mit scharfen Sanktionen reagierte, die Indien bis heute vom globalen zivilen Nuklearhandel fernhalten. Von einer Weltmacht Indien sprach damals niemand. Auch ein Blick auf andere Atommächte außerhalb des Atomwaffensperrvertrags zeigt, dass die Aneignung solcher Waffen keineswegs die quasi-automatische Zuschreibung des Status einer Groß- oder Weltmacht zur Folge hat. Weder Israel noch Nordkorea werden mit einem solchen Status in Verbindung gebracht. Auch Indiens Nachbar und Dauerrivale wurde trotz seiner Atomtests von 1998 nie als "Weltmacht Pakistan" ins Gespräch gebracht.





Es muss also andere Gründe dafür geben, warum Indien, das vom Westen 50 Jahre lang weitgehend ignoriert wurde, plötzlich als wichtiger Global Player angesehen wird. Der wichtigste Grund ist das seit Jahren anhaltende Wirtschaftswachstum, das seit 1995 durchschnittliche Wachstumsraten von 6,4 Prozent erreicht (seit 2004 sogar 8,5 Prozent). Berechnet nach Kaufkraftparität stellt Indien damit heute bereits die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde dar. Wie hat Indien diese Stellung erreicht, wie robust ist der indische Aufstieg einzuschätzen und was ist von der Zukunft zu erwarten?

Von der Kolonialökonomie zur "Hinduwachstumsrate"

Für das britische Empire war Indien nicht nur wegen seiner geostrategischen Stellung das "Kronjuwel". Der gewaltige Subkontinent ließ sich auch trefflich als Rohstoffproduzent und als Markt für die Waren des Mutterlands nutzen. Die indischen Produzenten wurden mit administrativen Mitteln vom Markt gefegt, wo sie mit Unternehmern in Großbritannien konkurrierten. So ruinierte die Kolonialverwaltung systematisch die aufstrebende indische Textilindustrie, während die indische Produktion von Stoffen und Farben als Halbfertigprodukte für die britischen Wettbewerber gefördert wurde. Andererseits duldete die imperiale Macht den indischen Kleinhandel und auch indische Unternehmer, die in den vom britischen Kapital nicht besetzten Nischen tätig waren; die Briten schätzten sie als Steuerzahler, deren Aufkommen das koloniale Abenteuer finanzierte. Als Folge entwickelte sich eine aufs Mutterland bezogene periphere Ökonomie, die aber gleichwohl in den Unternehmerdynastien (wie den Tatas) einen Ausgangspunkt für die spätere, eigenständige Entwicklung besaß.

Bis heute wirkt das Desinteresse der Kolonialherren an der Entwicklung der Landwirtschaft nach, die noch immer die meisten Arbeitskräfte bindet. Die Krone interessierte sich nur für die Steuern, welche die Landwirtschaft aufbrachte. Die Steuer- und Pachtgesetzgebung verschärfte im Verlauf von zwei Jahrhunderten Kolonialherrschaft den ohnedies erheblichen Klassenunterschied zwischen Großgrundbesitzern, landlosen Arbeitern und Kleinbauern, unter dem Indiens ländlicher Sektor immer noch leidet. Der erste indische Premierminister Jawaharlal Nehru führte eine (halbherzige) Landreform durch, in deren Verlauf die traditionellen Großgrundbesitzer gegen Entschädigung einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen an ärmere Bauern abtreten mussten. Die Reform befreite die Bauernschaft vielerorts von einer geradezu feudalen Abhängigkeit vom Landadel und verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die ländliche Oberschicht zu den eifrigsten Kollaborateuren mit der Kolonialmacht gezählt hatte. Gestärkt wurden aber nicht die Landlosen und die armen Bauern, sondern der bäuerliche Mittelstand, der traditionell eine starke Klientel der Kongresspartei darstellte. Anders als Mahatma Gandhi hatte die Kongressführung jedoch an der Landwirtschaft nur geringes Interesse. Für ein modernes, starkes Indien zählte nur die industrielle Entwicklung.

Wie in vielen anderen Ländern wurde die indische Volkswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs zentralisiert und auf die Produktion kriegswichtiger Güter ausgerichtet. Diese Struktur kam der sozialistisch-interventionistischen Ideologie der Kongresspartei entgegen, die auf Importsubstitution, große Staatskonglomerate und staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgefüge setzte. Zunächst erzielte die indische Regierung mit dieser Art des Wirtschaftens durchaus Erfolge - sie entwickelte die von den Briten hinterlassene Infrastruktur. Freilich führten die Aussperrung der Weltmarktkonkurrenz, die ständigen Eingriffe der Bürokratie, vor allem die Subventions- und Preiskontrollpraxis zu wachsenden Funktionsstörungen. Die "Herrschaft der Genehmigungsverfahren" wurde zum Albtraum des Unternehmertums in Indien: Ohne Genehmigungen war keine wirtschaftliche Tätigkeit möglich. So blieb die indische Wachstumsrate in einem für Entwicklungsländer niedrigen Korridor von um die drei Prozent (von Kritikern zynisch "Hinduwachstumsrate" getauft). Währenddessen trieben Länder mit ähnlichem Ausgangsniveau, denen sich Indien historisch und kulturell überlegen fühlte, mit weitaus höheren Raten ihre wirtschaftliche Entwicklung voran (zunächst Südkorea und Taiwan, später Singapur, Malaysia, Thailand und zu allem Überfluss auch der unmittelbare Machtkonkurrent China).

Liberalisierungsschritte - "Growth, more growth and still more growth"

Der mangelnde Erfolg dieser so genannten mixed economy veranlasste Premierminister Rajiv Gandhi Mitte der 1980er Jahre erstmals zur zaghaften Abkehr vom quasi-sozialistischen Wirtschaftssystem. Die Gründe dafür liegen zum einen in dem Eindruck, den die erfolgreichen Wirtschaftsreformen anderer asiatischer Staaten hinterließen, zum anderen aber auch im Entstehen einer Mittelschicht, deren Konsumfreude durch heimische Produkte nicht befriedigt werden konnte. Zwar war diesen Reformen ein gewisser Erfolg beschieden, was sich in steigenden Wachstumsraten und Exporterlösen widerspiegelte. Gleichzeitig jedoch bewirkten sie (durch die ebenfalls anwachsenden Importe) eine drastische Verschuldung. Diese Krise wurde verstärkt durch die hohen Ölpreise in Folge des zweiten Golfkrieges (1990/91) und durch die Auflösung der Sowjetunion und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) - zuvor Indiens wichtigste Handelspartner. Infolge dessen schmolzen die indischen Devisenreserven zusammen, Neu Delhi stand im Juni 1991 kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Regierung war gezwungen, um Kredite beim Internationalen Währungsfonds nachzusuchen. Tatsächlich musste Neu Delhi sogar einen Teil seiner Goldreserven als Garantie für diese Kredite in der Schweiz in den Tresoren der Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hinterlegen: eine unerhörte Demütigung! Doch die 1991 ins Amt gewählte Kongressregierung (mit dem heutigen Regierungschef Manmohan Singh als Finanzminister) entschied, die Krise als Chance zu begreifen, mit den Traditionen der eigenen Partei zu brechen und das Ruder in der Wirtschaftspolitik herumzureißen.

Diese Weichenstellung überlebte auch die folgenden Regierungswechsel. 1998 war die Bharatiya Janata Party (BJP) noch mit dem Slogan "swadeshi" (Autarkie) angetreten und wilderte damit ohne Scham in den Traditionen der Kongresspartei. Doch nach der Wahl entschied sich die Regierung Vajpayee für einen Kurs der Kontinuität. Die Wirtschaftsreformen wurden sogar vorangetrieben. Ein zweites Mal musste man 2004 um den Bestand der Reformen bangen. Diesmal war es die BJP, die, sich in famosen Wachstumsraten sonnend, mit dem Slogan "India shining" in den Wahlkampf zog, während die Opposition soziale Korrekturen anmahnte. Entgegen den meisten Voraussagen konnte die United Progressive Alliance (Kongresspartei und ihre Verbündeten) die New Democratic Alliance (BJP und ihre Verbündeten) auf den zweiten Platz verweisen. Doch obwohl die UPA in ihrem Wahlkampf die harten Folgen der Wirtschaftsreformen betont hatte und für eine Regierungsmehrheit auf die Stimmen der kommunistischen Parteien angewiesen war, führte sie unter Premierminister Manmohan Singh die BJP-Politik fort und ergänzte sie nur punktuell durch soziale Verbesserungen. Seit 1991 hat in der Wirtschaftspolitik tatsächlich ein Paradigmenwechsel stattgefunden: So wie in den ersten 40 Jahren der Unabhängigkeit die mixed economy nahezu alternativlos von den maßgeblichen politischen Kräften getragen wurde, so haben sich heute von der BJP bis zu den Kommunisten alle Parteien mit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft abgefunden oder gar angefreundet.

Was aber beinhalteten die Reformen seit 1991? Die überbewertete Rupie wurde abgewertet und schrittweise konvertierbar gemacht. Das einst unangefochtene Genehmigungssystem wurde für Importe abgeschafft, die Zölle wurden drastisch gesenkt. Auch für die Industrie wurden das Lizenzsystem entschlackt und Beschränkungen größtenteils aufgeweicht. Viele Wirtschaftszweige, die vormals Monopol des öffentlichen Sektors waren, wurden für private Unternehmer geöffnet. Außerdem wurden nach chinesischem Vorbild "Sonderwirtschaftszonen" mit günstigen Investitionsbedingungen für Unternehmen geschaffen. Um die Zersplitterung des komplexen, intransparenten und überbürokratisierten Steuersystems zu beseitigen, welche die regionalen wirtschaftlichen Disparitäten noch verstärkt und durch mangelnde Effizienz den Fiskus benachteiligt und so zum Haushaltsdefizit beiträgt, hat die Mehrheit der indischen Bundesstaaten 2005 die Mehrwertsteuer eingeführt, damit das überkommene System revolutioniert und die früheren Schritte zur Steuerreform vorerst abgeschlossen.

Der Erfolg dieser Politik lässt sich an volkswirtschaftlichen Indikatoren ablesen (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version): Die gesamten Exporte Indiens lagen 1986 noch bei etwa 10,4 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2006 dagegen erreichten sie einen Gesamtwert von etwa 127 Milliarden US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt verdreifachte sich zwischen 1986 und 2006. Und im März 2008 erregte die Meldung Aufsehen, dass Inder unter den zehn reichsten Menschen der Welt die größte nationale Gruppe darstellen. Aus dem belächelten indischen Elefanten ist eine bedeutende Wirtschaftsmacht geworden.

Das untypische Entwicklungsmodell: High Tech first!

Den Lehrbüchern entsprechend entwickeln sich periphere Volkswirtschaften durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft über die Massenproduktion von Konsumgütern, deren Produktion gering qualifizierte Arbeitskraft benötigt, zu einer soliden Industriewirtschaft, bevor der Dienstleistungssektor die Führung des wirtschaftlichen Wachstums übernimmt. Diese Lehre hat Indien auf den Kopf gestellt.

Zugpferd der indischen Entwicklung ist vielmehr ein Sektor der Hochtechnologie, der überwiegend der Dienstleistungsbranche zuzurechnen ist. Es handelt sich um die Softwareproduktion und -anwendung, in der Indien heute als die führende Weltnation bezeichnet werden kann. 1990 wurde ein "Software Technology Park" bei Bangalore als Freihandelszone etabliert. Danach konnte sich die Softwareindustrie in den 1990er Jahren mit Raten von 50 Prozent pro Jahr ausdehnen. Ihre Wertschöpfung wird bald mehr als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr betragen, wobei mehr als die Hälfte davon im Exportgeschäft erzielt wird.

Das indische Wirtschaftswachstum hat indessen längst andere fortgeschrittene Sektoren erfasst. In der Biotechnologie stößt Indien zur Weltspitze vor, nachdem auch dieser Sektor liberalisiert und ausländische Anteile in Höhe von 74 Prozent genehmigungsfrei zugelassen wurden. Genehmigungsvorbehalte gibt es noch bei der Herstellung und dem Vertrieb von Labor-erzeugten DNA-Produkten; ferner existieren Preiskontrollen bei einigen Medikamenten wie Insulin. Die indische Raumfahrt ist ebenfalls erfolgreich, ihr Fortschritt erfolgt nach Plan. Am Horizont zeichnet sich bereits ab, dass in der kommenden industriell-technischen Revolution, die durch den Einsatz der Nanotechnologie ausgelöst wird, die Inder gleichfalls mit an der Spitze marschieren werden. Auch ihre führende Stellung auf dem Wachstumsmarkt der Outsourcing-Dienstleistungen ist bemerkenswert. In indischen Outsourcing-Unternehmen werden Schriftsätze für renommierte amerikanische Anwaltskanzleien, ja sogar Reden für US-Senatoren verfasst.

Im Kielwasser dieser "Flaggschiffe" der indischen Wirtschaft zeigen sich mittlerweile auch Erfolge in der Massenproduktion von Konsum- und Investitionsgütern. Automobile, Elektroartikel und mittlerweile in ganz Asien beliebte "Bollywood"-Produkte der indischen Filmindustrie sind Exportschlager. Die indische Stahlindustrie ist weltweit wettbewerbsfähig und greift mit ihren Investitionen auch die europäischen Märkte an, etwa der Konzern Mittal. Der Trend zeigt, dass der moderne Sektor der indischen Volkswirtschaft auch in der Breite gut aufgestellt ist.

Schwächen und Risiken

Dennoch gibt es auch Schwächen. Das Ausbildungsgefälle zwischen den Grundschulen einerseits und den Hochschulen, Ingenieursschulen und Universitäten andererseits bleibt krass, was ein spätes Erbe der Kolonialzeit ist, in der es den Briten auf gutes Verwaltungs- und technisches Personal, aber keineswegs auf breite Volksbildung ankam. Es gibt demzufolge einen Mangel an Facharbeitern, der ein noch breiteres Wachstum der indischen Industrie hemmt.

Ausländische Investoren beklagen die Schwächen der Infrastruktur, namentlich im Verkehrssystem und in der Energieversorgung. Hier ist die Bürokratie trotz zahlreicher Liberalisierungsschritte immer noch überdurchschnittlich stark beteiligt, das Investitionstempo langsam, die Trägheit groß. Eisenbahnen, Straßen, Flughäfen und Häfen sind chronisch überlastet und ineffizient. Die Stromproduktion bleibt hinter dem Wachstum zurück, Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Die großspurigen Pläne der Atomenergiekommission sind weit von der Wirklichkeit entfernt. Die Regierung Singh macht energische Versuche, diese Schwächen zu beheben, unter anderem durch die Einbeziehung ausländischer Unternehmen ins Management der Flughäfen, aber es ist ein Wettlauf zwischen Innovation und steigendem Bedarf.

Eine mit anderen Entwicklungsländern geteilte Schwäche ist die untergeordnete Stellung der Frau. Hier liegt (ganz abgesehen von den menschenrechtlichen Defiziten) eine immense Produktivkraft aufgrund patriarchalischer Gewohnheiten brach. Die wachsende Alphabetisierungsrate auch im weiblichen Teil der Bevölkerung und der steigende Anteil der Frauen an den Hochschulabsolventen weckt Hoffnungen, dass auch hier Fortschritte gemacht werden.

Doch das größte Risiko für die weitere Entwicklung liegt in den Folgen der sozialen Fragmentierung, die mehr als je zuvor zwischen Gewinnern und Verlierern trennt. Zwar hat sich die Größe der Mittelschicht innerhalb der vergangenen beiden Dekaden vervierfacht. Zwar haben in diesem Zeitraum jährlich ein Prozent der Armen die Armutsgrenze hinter sich gelassen. Zwar liegt die Ungleichheit in Indien deutlich unter derjenigen in China oder den USA. Dies alles kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Indien immer noch ein bitterarmes Land ist. Je nach Zählweise leben noch immer bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in Armut (Tabelle 2). Ein Viertel der indischen Bevölkerung gehört den (besonders auf dem Land) immer noch benachteiligten niederen Kasten oder aber Stammesbevölkerungen an.

Insbesondere zwei Entwicklungen werfen einen dunklen Schatten auf die indische Erfolgsgeschichte. Zum einen gibt es dramatische regionale Unterschiede, zum anderen ist die Landwirtschaft "die Achillesferse nicht nur der Volkswirtschaft, sondern auch der sozialen und politischen Stabilität". Regional gesehen lässt sich feststellen, dass einige Bundesstaaten (meist angetrieben durch den Erfolg einiger weniger Standorte wie Bangalore, Mumbai oder Madras) von Anfang an am Wirtschaftswachstum partizipierten und andere auf den fahrenden Zug aufsprangen, während wieder andere den Anschluss verpasst haben. So konzentriert sich die Hälfte der indischen Armen auf nur fünf (von insgesamt 28) Bundesstaaten. Die fünf reichsten Bundesstaaten dagegen erwirtschaften 40 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Besonders bedenklich ist der Rückstand der landwirtschaftlichen Entwicklung in den bevölkerungsreichsten Staaten von Mittelindien. Anders als im indischen Westen, etwa in Pandjab, wo sich während der "grünen Revolution" der 1960er Jahre eine hoch produktive mittelständische Landwirtschaft entfaltet hat, herrscht im rückständigen "Hindugürtel" noch das Pachtsystem vor, in dem aristokratische Grundbesitzer - die meisten der Bramahnenkaste angehörig - im Zusammenspiel mit den lokalen Behörden die kleinen Pächter und die landlosen Landarbeiter kujonieren. Hier ist das archaische Kastensystem, das in den Städten allmählich erodiert, noch weitgehend intakt. Die Versuche der Benachteiligten, mit legalen Mitteln ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrzunehmen, scheitern an der Koalition zwischen Staatsmacht und Großgrundbesitz. Folgerichtig sind die Bauern demotiviert und unproduktiv, die Staatshaushalte defizitäre Subventionsbetriebe.

Aber auch zwischen urbanen und ländlichen Gebieten sind die Gegensätze stark ausgeprägt. Erklären lässt sich dies unter anderem dadurch, dass die IT-Branche und verwandte Zweige keine neuen Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft schaffen, wo immer noch etwa 60 Prozent der Inder beschäftigt sind. Darüber hinaus steckt die Landwirtschaft selbst in einer Krise, die durch eine Stagnation des Pro-Kopf-Realeinkommens, sinkende Produktionsraten und eine steigende Landlosigkeit gekennzeichnet ist.

Diese schlimme Lage in den ärmeren ländlichen Gebieten findet ihren Ausdruck in der exorbitanten Verschuldungsrate vieler bäuerlicher Haushalte, in der hohen Selbstmordrate unter Bauern (etwa 100 000 Opfer zwischen 1993 und 2003) und im Wachstum der Naxaliten, einer sozialrevolutionären Terror- und Guerillaorganisation nach maoistischem Vorbild, die in etwa 15 Prozent des indischen Staatsterritoriums aktiv ist. Die Regierung ist zwar bemüht, Abhilfe zu schaffen, aber an der Umsetzung hapert es oft. Fast schon resignierend stellt ein Leitartikel des "Economist" im März 2008 fest: "The government's subsidies fail to reach the poor, its schools fail to teach them and its rural clinics fail to treat them." Die Reformen seit 1991 sind jedoch nicht ursächlich für das anhaltende Leid vieler Inder. Denn die Armut und gesellschaftlichen Friktionen waren in der mixed economy keineswegs geringer ausgeprägt. Freilich genießen bis heute zu wenige Inder die Früchte des rasanten Wirtschaftsaufschwungs. Hier gilt es umzusteuern, ohne die Substanz der Reformen zu gefährden. Daran wird sich entscheiden, ob sich Indiens Aufstieg als nachhaltig erweisen oder internen Auseinandersetzungen bis hin zu einer Armutsrevolte zum Opfer fallen wird.

Prognose: Standortvorteil Demokratie

Wenn am Schluss dieser Analyse unsere Prognose gemäßigt optimistisch ausfällt, so ist dies vor allem durch den Blick auf die Anpassungsfähigkeit des demokratischen Systems in Indien gerechtfertigt; gerade dieser Tage, in denen die chinesischen Sicherheitskräfte in Tibet und den angrenzenden Provinzen Gewalt anwenden, rückt dieser Unterschied zum zweiten "asiatischen Riesen" wieder stärker ins Bewusstsein.

Demokratie ist die Voraussetzung für Rechtsstaatlichkeit, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet. Für eine auf Privateigentum beruhende Volkswirtschaft ist die Rechtssicherheit, die dieses System ausstrahlt, von entscheidender Bedeutung. In Indien können auswärtige Investoren gegen das Raubkopieunwesen ihr Recht einklagen. In China ist das ein reines Lotteriespiel. Die größere Zurückhaltung der Behörden, das Kreditwesen zugunsten der eigenen Klientel oder maroder Unternehmen zu manipulieren und eine insgesamt funktionierende Bankenaufsicht hält den Anteil zweifelhafter Kredite in Grenzen; damit ist der Finanzsektor gesünder als der chinesische.

Die indische Demokratie hat sich bei der Befriedung größerer Konflikte als anpassungsfähig erwiesen. Diese Flexibilität spiegelt sich wider in der Gründung und Kooptation neuer Parteien, die vor allem von den unteren Kasten und zugunsten regionaler Belange ins Leben gerufen wurden. Die hohe Zahl der Fraktionen (gegenwärtig um die 40) in der Lok Sabha (Unterhaus des indischen Parlaments), die hierzulande als Zeichen haarsträubender Instabilität empfunden würde, gestattet die Repräsentation der Vielfalt der indischen Gesellschaft im politischen Entscheidungssystem. Da die großen Parteien Koalitionspartner brauchen, haben diese Parteien beste Chancen, etwas für ihre Klientel zu tun und damit deren Disruptionspotential ruhig zu stellen. Einen weiteren Vorteil bildet der Föderalismus: Wo ethnisch-religiöse Fragmentierung die Stabilität in einem Bundesstaat beeinträchtigt, bietet die Gründung eines neuen oder die Einrichtung autonomer Provinzen oder Regierungsbezirke die Möglichkeit der Befriedigung der Autonomiebestrebungen von Minoritäten.

So lässt sich mit einer gewissen Zuversicht prognostizieren, dass im "Hindugürtel" dramatische Reformen bevorstehen, die vermutlich von neuen Unterkasten-Parteien im Verein mit der Bundesregierung vorangetrieben werden. Ein Teil der Naxaliten wird sich als neue kommunistische Partei in das System einbinden lassen und in die Verwaltung und Regierung betroffener Bundesstaaten einziehen. Der militante Rest wird durch Reformerfolge schrittweise marginalisiert. Diese Prognose ist - wie alle sozialwissenschaftlichen Voraussagen - mit erheblichen Ungewissheiten belastet, entspricht jedoch den bisherigen Erfahrungen mit der indischen Demokratie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aktuell gibt es allerdings Planungen von Washington und Neu Delhi, Indien wieder in den weltweiten Nuklearmarkt zu integrieren. Siehe dazu: Harald Müller/Carsten Rauch, Der Atomdeal - Die indisch-amerikanische Nuklearkooperation und ihre Auswirkung auf das globale Nichtverbreitungsregime, HSFK-Report 6/2007, Frankfurt/M.

  2. Hinter den USA, Japan und China. Dieses Bild relativiert sich etwas, wenn auf die Kaufkraftbereinigung verzichtet wird. Dann steht Indien auf Rang 10. Betrachtet man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, fällt Indien sogar auf Rang 118. Aber auch hier ist eine Entwicklung unverkennbar: "If India's economy were still growing at the pre-1980 level, then its per capita income would reach present U.S. levels only by 2250; but if it continues to grow at the post-1980 average, it will reach that level by 2066 - a gain of 184 years." Gurcharan Das, The India Model, in: Foreign Affairs, 85 (2006) 4, S. 2 - 16, S. 6.

  3. Zum Folgenden vgl. Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2002.

  4. Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 4 - 5; Dennis Kux, India and the United States: Estranged Democracies, Washington, DC 1993, S. 400f. Das Zitat in der Überschrift stammt vom ehemaligen indischen Premierminister Atal Bihari Vajpayee, zit. nach Christian Wagner, Die "verhinderte" Großmacht?, Baden-Baden 2005, S. 253.

  5. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Indien - Informationen zur politischen Bildung Nr. 296, Bonn 2007, S. 48.

  6. Nayar und Paul nennen als weiteren Grund die strategische Befürchtung noch weiter hinter China zurückzufallen. Vgl. Baldev Raj Nayar/T. V. Paul, India In The World Order - Searching For Major-Power Status, Cambridge 2003, S. 16.

  7. Vgl. Harald Müller, Weltmacht Indien - Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert, Frankfurt/M. 2006, S. 66.

  8. Vgl. Christian Wagner, Die 14. Wahlen zum indischen Unterhaus, in: SWP-Aktuell, (2004) 25, in: www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id= 889&PHPSESSID=97587f6cde5459d7196048
    d12a8a1b96 (5. 4. 2008).

  9. Vgl. Ramesh Thakur, Der Elefant ist aufgewacht, in: Internationale Politik (IP), 61 (2006) 10, S. 6 - 13.

  10. Vgl. B. R. Nayar/T. V. Paul (Anm. 6), S. 207; H. Müller (Anm. 7), S. 66f.; Alan L. Winters/Yusuf Shahid (eds.), Dancing With Giants - China, India, And The Global Economy, Washington, DC 2007, S. 226.

  11. Vgl. Shankar Acharya, Thirty Years of Tax Reform in India, in: Economic and Political Weekly vom 14. 5. 2005, S. 2061 - 2069.

  12. Vgl. Spiegel Online, Die meisten Super-Milliardäre kommen aus Indien, in: www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518, 539784,00. html (6. 4. 2008)

  13. Zum Folgenden vgl. Tim Dyson/Robert Cassen/Leela Visaria, Twenty-First Century India: Population, Economy, Human Development, and the Environment, New York 2004.

  14. Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 2f.; Krishnamurthy Ramasubbu, India scores better in inequality reduction than America, China, in: The Indian Express vom 9. 8. 2007. Jha und Negre machen allerdings darauf aufmerksam, dass die Ungleichheit absolut gesehen in Indien spürbar zugenommen habe. Vgl. Praveen Jha/Mario Negre, Der Preis des Wunders - Indien zwischen wirtschaftlichem Aufstieg und sozialem Abstieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2007) 10, S. 1245 - 1256.

  15. Vgl. Samir Amin, Weltmacht Indien? Der Subkontinent zwischen kolonialem Erbe und globalem Aufstieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2007) 6, S. 705 - 716.

  16. H. Müller (Anm. 7), S. 81.

  17. Vgl. ebd., S. 84.

  18. Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1246ff. Nach Berechnungen der "National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector" gehen die Wachstumsgewinne der indischen Volkswirtschaft an 77 % der Bevölkerung spurlos vorbei. Vgl. High growth rate of 9 % has bypassed 77 % of population, in: The Times of India vom 1. 2. 2008.

  19. Dabei hat sich der Anteil der Landwirtschaft am BIP zwischen 1986 und 2006 auf 17,5 % nahezu halbiert. Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1248 und G. Das (Anm. 2), S. 7.

  20. Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1252.

  21. Vgl. Pankaj Mishra, The Myth of the New India, in: The New York Times vom 6. 7. 2006 und Palagummi Sainath, Böse Saat in Andra Pradesh, in: Le Monde diplomatique - Deutsche Ausgabe vom 11. 1. 2008.

  22. "Die Gelder der Regierung erreichen die Armen nicht. Weder gelingt es den staatlichen Schulen, sie zu bilden, noch den ländlichen Kliniken, sie medizinisch zu versorgen." What's holding India back? in: The Economist vom 8. 3. 2008.

  23. Die gegenteilige Ansicht vertreten P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. Amin (Anm. 15) und P. Sainath (Anm. 21).

  24. Für einen kritischen Überblick vgl. Christian Wagner, Das politische System Indiens. Eine Einführung, Wiesbaden 2006.

  25. Vgl. Emma Mawdsley, Redrawing the Body Politic: Federalism, Regionalism and the Creation of New States in India, in: Andrew Wyatt/John Zavos (eds.), Decentring the Indian Nation, London-Portland 2003, S. 34 - 54.

Dr. phil., geb. 1949; Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt/M., geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Leimenrode 29, 60322 Frankfurt am Main.
E-Mail: E-Mail Link: mueller@hsfk.de

Dip. Pol., geb. 1976; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSFK, (s. o.).
E-Mail: E-Mail Link: rauch@hsfk.de