Einleitung
Wenn seit einiger Zeit immer mehr westliche Beobachter Indien als Groß- oder gar Weltmacht bezeichnen, so liegt die Erklärung scheinbar auf der Hand: Mit den Atomtests von 1998 habe Indien mit den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich - den Ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats - gleichgezogen und sei in die Reihe der Weltmächte aufgestiegen. Diese direkte Verbindung zwischen Kernwaffen und weltweiter Anerkennung kann indes Indiens Aufstieg nicht hinreichend erklären. Zum einen ist Indien de facto seit 1974 Atommacht. Zwar wurde der damalige Atomtest von Neu Delhi verschämt als "friedliche Kernexplosion" bezeichnet. Doch damit hatte sich das Tor zur Indienststellung von Atomwaffen geöffnet. So sah es auch die internationale Gemeinschaft, die den indischen Schritt nicht mit einem Prestigegewinn belohnte, sondern mit scharfen Sanktionen reagierte, die Indien bis heute vom globalen zivilen Nuklearhandel fernhalten.
Es muss also andere Gründe dafür geben, warum Indien, das vom Westen 50 Jahre lang weitgehend ignoriert wurde, plötzlich als wichtiger Global Player angesehen wird. Der wichtigste Grund ist das seit Jahren anhaltende Wirtschaftswachstum, das seit 1995 durchschnittliche Wachstumsraten von 6,4 Prozent erreicht (seit 2004 sogar 8,5 Prozent). Berechnet nach Kaufkraftparität stellt Indien damit heute bereits die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde dar.
Von der Kolonialökonomie zur "Hinduwachstumsrate"
Für das britische Empire war Indien nicht nur wegen seiner geostrategischen Stellung das "Kronjuwel".
Bis heute wirkt das Desinteresse der Kolonialherren an der Entwicklung der Landwirtschaft nach, die noch immer die meisten Arbeitskräfte bindet. Die Krone interessierte sich nur für die Steuern, welche die Landwirtschaft aufbrachte. Die Steuer- und Pachtgesetzgebung verschärfte im Verlauf von zwei Jahrhunderten Kolonialherrschaft den ohnedies erheblichen Klassenunterschied zwischen Großgrundbesitzern, landlosen Arbeitern und Kleinbauern, unter dem Indiens ländlicher Sektor immer noch leidet. Der erste indische Premierminister Jawaharlal Nehru führte eine (halbherzige) Landreform durch, in deren Verlauf die traditionellen Großgrundbesitzer gegen Entschädigung einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen an ärmere Bauern abtreten mussten. Die Reform befreite die Bauernschaft vielerorts von einer geradezu feudalen Abhängigkeit vom Landadel und verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die ländliche Oberschicht zu den eifrigsten Kollaborateuren mit der Kolonialmacht gezählt hatte. Gestärkt wurden aber nicht die Landlosen und die armen Bauern, sondern der bäuerliche Mittelstand, der traditionell eine starke Klientel der Kongresspartei darstellte. Anders als Mahatma Gandhi hatte die Kongressführung jedoch an der Landwirtschaft nur geringes Interesse. Für ein modernes, starkes Indien zählte nur die industrielle Entwicklung.
Wie in vielen anderen Ländern wurde die indische Volkswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs zentralisiert und auf die Produktion kriegswichtiger Güter ausgerichtet. Diese Struktur kam der sozialistisch-interventionistischen Ideologie der Kongresspartei entgegen, die auf Importsubstitution, große Staatskonglomerate und staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgefüge setzte. Zunächst erzielte die indische Regierung mit dieser Art des Wirtschaftens durchaus Erfolge - sie entwickelte die von den Briten hinterlassene Infrastruktur. Freilich führten die Aussperrung der Weltmarktkonkurrenz, die ständigen Eingriffe der Bürokratie, vor allem die Subventions- und Preiskontrollpraxis zu wachsenden Funktionsstörungen. Die "Herrschaft der Genehmigungsverfahren" wurde zum Albtraum des Unternehmertums in Indien: Ohne Genehmigungen war keine wirtschaftliche Tätigkeit möglich. So blieb die indische Wachstumsrate in einem für Entwicklungsländer niedrigen Korridor von um die drei Prozent (von Kritikern zynisch "Hinduwachstumsrate" getauft). Währenddessen trieben Länder mit ähnlichem Ausgangsniveau, denen sich Indien historisch und kulturell überlegen fühlte, mit weitaus höheren Raten ihre wirtschaftliche Entwicklung voran (zunächst Südkorea und Taiwan, später Singapur, Malaysia, Thailand und zu allem Überfluss auch der unmittelbare Machtkonkurrent China).
Liberalisierungsschritte - "Growth, more growth and still more growth"
Der mangelnde Erfolg dieser so genannten mixed economy veranlasste Premierminister Rajiv Gandhi Mitte der 1980er Jahre erstmals zur zaghaften Abkehr vom quasi-sozialistischen Wirtschaftssystem.
Diese Weichenstellung überlebte auch die folgenden Regierungswechsel. 1998 war die Bharatiya Janata Party (BJP) noch mit dem Slogan "swadeshi" (Autarkie) angetreten und wilderte damit ohne Scham in den Traditionen der Kongresspartei.
Was aber beinhalteten die Reformen seit 1991? Die überbewertete Rupie wurde abgewertet und schrittweise konvertierbar gemacht. Das einst unangefochtene Genehmigungssystem wurde für Importe abgeschafft, die Zölle wurden drastisch gesenkt. Auch für die Industrie wurden das Lizenzsystem entschlackt und Beschränkungen größtenteils aufgeweicht. Viele Wirtschaftszweige, die vormals Monopol des öffentlichen Sektors waren, wurden für private Unternehmer geöffnet. Außerdem wurden nach chinesischem Vorbild "Sonderwirtschaftszonen" mit günstigen Investitionsbedingungen für Unternehmen geschaffen.
Der Erfolg dieser Politik lässt sich an volkswirtschaftlichen Indikatoren ablesen (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version): Die gesamten Exporte Indiens lagen 1986 noch bei etwa 10,4 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2006 dagegen erreichten sie einen Gesamtwert von etwa 127 Milliarden US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt verdreifachte sich zwischen 1986 und 2006. Und im März 2008 erregte die Meldung Aufsehen, dass Inder unter den zehn reichsten Menschen der Welt die größte nationale Gruppe darstellen.
Das untypische Entwicklungsmodell: High Tech first!
Den Lehrbüchern entsprechend entwickeln sich periphere Volkswirtschaften durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft über die Massenproduktion von Konsumgütern, deren Produktion gering qualifizierte Arbeitskraft benötigt, zu einer soliden Industriewirtschaft, bevor der Dienstleistungssektor die Führung des wirtschaftlichen Wachstums übernimmt. Diese Lehre hat Indien auf den Kopf gestellt.
Zugpferd der indischen Entwicklung ist vielmehr ein Sektor der Hochtechnologie, der überwiegend der Dienstleistungsbranche zuzurechnen ist. Es handelt sich um die Softwareproduktion und -anwendung, in der Indien heute als die führende Weltnation bezeichnet werden kann. 1990 wurde ein "Software Technology Park" bei Bangalore als Freihandelszone etabliert. Danach konnte sich die Softwareindustrie in den 1990er Jahren mit Raten von 50 Prozent pro Jahr ausdehnen. Ihre Wertschöpfung wird bald mehr als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr betragen, wobei mehr als die Hälfte davon im Exportgeschäft erzielt wird.
Das indische Wirtschaftswachstum hat indessen längst andere fortgeschrittene Sektoren erfasst. In der Biotechnologie stößt Indien zur Weltspitze vor, nachdem auch dieser Sektor liberalisiert und ausländische Anteile in Höhe von 74 Prozent genehmigungsfrei zugelassen wurden. Genehmigungsvorbehalte gibt es noch bei der Herstellung und dem Vertrieb von Labor-erzeugten DNA-Produkten; ferner existieren Preiskontrollen bei einigen Medikamenten wie Insulin. Die indische Raumfahrt ist ebenfalls erfolgreich, ihr Fortschritt erfolgt nach Plan. Am Horizont zeichnet sich bereits ab, dass in der kommenden industriell-technischen Revolution, die durch den Einsatz der Nanotechnologie ausgelöst wird, die Inder gleichfalls mit an der Spitze marschieren werden. Auch ihre führende Stellung auf dem Wachstumsmarkt der Outsourcing-Dienstleistungen ist bemerkenswert. In indischen Outsourcing-Unternehmen werden Schriftsätze für renommierte amerikanische Anwaltskanzleien, ja sogar Reden für US-Senatoren verfasst.
Im Kielwasser dieser "Flaggschiffe" der indischen Wirtschaft zeigen sich mittlerweile auch Erfolge in der Massenproduktion von Konsum- und Investitionsgütern. Automobile, Elektroartikel und mittlerweile in ganz Asien beliebte "Bollywood"-Produkte der indischen Filmindustrie sind Exportschlager. Die indische Stahlindustrie ist weltweit wettbewerbsfähig und greift mit ihren Investitionen auch die europäischen Märkte an, etwa der Konzern Mittal. Der Trend zeigt, dass der moderne Sektor der indischen Volkswirtschaft auch in der Breite gut aufgestellt ist.
Schwächen und Risiken
Dennoch gibt es auch Schwächen. Das Ausbildungsgefälle zwischen den Grundschulen einerseits und den Hochschulen, Ingenieursschulen und Universitäten andererseits bleibt krass, was ein spätes Erbe der Kolonialzeit ist, in der es den Briten auf gutes Verwaltungs- und technisches Personal, aber keineswegs auf breite Volksbildung ankam. Es gibt demzufolge einen Mangel an Facharbeitern, der ein noch breiteres Wachstum der indischen Industrie hemmt.
Ausländische Investoren beklagen die Schwächen der Infrastruktur, namentlich im Verkehrssystem und in der Energieversorgung. Hier ist die Bürokratie trotz zahlreicher Liberalisierungsschritte immer noch überdurchschnittlich stark beteiligt, das Investitionstempo langsam, die Trägheit groß. Eisenbahnen, Straßen, Flughäfen und Häfen sind chronisch überlastet und ineffizient. Die Stromproduktion bleibt hinter dem Wachstum zurück, Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Die großspurigen Pläne der Atomenergiekommission sind weit von der Wirklichkeit entfernt. Die Regierung Singh macht energische Versuche, diese Schwächen zu beheben, unter anderem durch die Einbeziehung ausländischer Unternehmen ins Management der Flughäfen, aber es ist ein Wettlauf zwischen Innovation und steigendem Bedarf.
Eine mit anderen Entwicklungsländern geteilte Schwäche ist die untergeordnete Stellung der Frau. Hier liegt (ganz abgesehen von den menschenrechtlichen Defiziten) eine immense Produktivkraft aufgrund patriarchalischer Gewohnheiten brach. Die wachsende Alphabetisierungsrate auch im weiblichen Teil der Bevölkerung und der steigende Anteil der Frauen an den Hochschulabsolventen weckt Hoffnungen, dass auch hier Fortschritte gemacht werden.
Doch das größte Risiko für die weitere Entwicklung liegt in den Folgen der sozialen Fragmentierung, die mehr als je zuvor zwischen Gewinnern und Verlierern trennt. Zwar hat sich die Größe der Mittelschicht innerhalb der vergangenen beiden Dekaden vervierfacht. Zwar haben in diesem Zeitraum jährlich ein Prozent der Armen die Armutsgrenze hinter sich gelassen. Zwar liegt die Ungleichheit in Indien deutlich unter derjenigen in China oder den USA.
Insbesondere zwei Entwicklungen werfen einen dunklen Schatten auf die indische Erfolgsgeschichte. Zum einen gibt es dramatische regionale Unterschiede, zum anderen ist die Landwirtschaft "die Achillesferse nicht nur der Volkswirtschaft, sondern auch der sozialen und politischen Stabilität".
Besonders bedenklich ist der Rückstand der landwirtschaftlichen Entwicklung in den bevölkerungsreichsten Staaten von Mittelindien. Anders als im indischen Westen, etwa in Pandjab, wo sich während der "grünen Revolution" der 1960er Jahre eine hoch produktive mittelständische Landwirtschaft entfaltet hat, herrscht im rückständigen "Hindugürtel" noch das Pachtsystem vor, in dem aristokratische Grundbesitzer - die meisten der Bramahnenkaste angehörig - im Zusammenspiel mit den lokalen Behörden die kleinen Pächter und die landlosen Landarbeiter kujonieren. Hier ist das archaische Kastensystem, das in den Städten allmählich erodiert, noch weitgehend intakt. Die Versuche der Benachteiligten, mit legalen Mitteln ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrzunehmen, scheitern an der Koalition zwischen Staatsmacht und Großgrundbesitz. Folgerichtig sind die Bauern demotiviert und unproduktiv, die Staatshaushalte defizitäre Subventionsbetriebe.
Aber auch zwischen urbanen und ländlichen Gebieten sind die Gegensätze stark ausgeprägt.
Diese schlimme Lage in den ärmeren ländlichen Gebieten findet ihren Ausdruck in der exorbitanten Verschuldungsrate vieler bäuerlicher Haushalte, in der hohen Selbstmordrate unter Bauern (etwa 100 000 Opfer zwischen 1993 und 2003) und im Wachstum der Naxaliten, einer sozialrevolutionären Terror- und Guerillaorganisation nach maoistischem Vorbild, die in etwa 15 Prozent des indischen Staatsterritoriums aktiv ist.
Prognose: Standortvorteil Demokratie
Wenn am Schluss dieser Analyse unsere Prognose gemäßigt optimistisch ausfällt, so ist dies vor allem durch den Blick auf die Anpassungsfähigkeit des demokratischen Systems in Indien gerechtfertigt; gerade dieser Tage, in denen die chinesischen Sicherheitskräfte in Tibet und den angrenzenden Provinzen Gewalt anwenden, rückt dieser Unterschied zum zweiten "asiatischen Riesen" wieder stärker ins Bewusstsein.
Demokratie ist die Voraussetzung für Rechtsstaatlichkeit, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet. Für eine auf Privateigentum beruhende Volkswirtschaft ist die Rechtssicherheit, die dieses System ausstrahlt, von entscheidender Bedeutung. In Indien können auswärtige Investoren gegen das Raubkopieunwesen ihr Recht einklagen. In China ist das ein reines Lotteriespiel. Die größere Zurückhaltung der Behörden, das Kreditwesen zugunsten der eigenen Klientel oder maroder Unternehmen zu manipulieren und eine insgesamt funktionierende Bankenaufsicht hält den Anteil zweifelhafter Kredite in Grenzen; damit ist der Finanzsektor gesünder als der chinesische.
Die indische Demokratie hat sich bei der Befriedung größerer Konflikte als anpassungsfähig erwiesen.
So lässt sich mit einer gewissen Zuversicht prognostizieren, dass im "Hindugürtel" dramatische Reformen bevorstehen, die vermutlich von neuen Unterkasten-Parteien im Verein mit der Bundesregierung vorangetrieben werden. Ein Teil der Naxaliten wird sich als neue kommunistische Partei in das System einbinden lassen und in die Verwaltung und Regierung betroffener Bundesstaaten einziehen. Der militante Rest wird durch Reformerfolge schrittweise marginalisiert. Diese Prognose ist - wie alle sozialwissenschaftlichen Voraussagen - mit erheblichen Ungewissheiten belastet, entspricht jedoch den bisherigen Erfahrungen mit der indischen Demokratie.