Einleitung
Im Schatten der sich weltweit verschärfenden Finanzkrise veröffentlichte das amerikanische Wirtschaftsmagazin "Forbes" vergangenen März seine alljährliche Hitparade der Superreichen und feierte ein bemerkenswertes Comeback.
Vier Inder im Club der Superreichen, das hat es noch nie gegeben. Es sagt zudem einiges darüber aus, wie rasant sich derzeit die ökonomischen und damit auch politischen Gewichte im globalen Mächtespiel verschieben. Internationale Wirtschaftsweise sehen den erwachten Riesen des Subkontinents mit einem Hyperwachstum schon auf dem Sprung nach ganz oben, bis zur Jahrhundertmitte neben die Vereinigten Staaten und China an die Weltspitze in einer ökonomischen Zeitenwende. Verglichen wird diese Entwicklung historisch mit dem industriellen Aufstieg des Deutschen Reichs Ende des 19.Jahrhunderts, das seinerzeit Großbritannien als Europas führende Wirtschaftsmacht überflügelte und den Weltmarkt in Elektrotechnik, Metallverarbeitung und dem Chemiegewerbe kontrollierte. Teilweise irritiert muss die Welt zur Kenntnis nehmen, dass neben China in Asien ein weiterer Koloss herangewachsen ist, der als neuer Global Player künftig das Weltgeschehen mitbestimmen wird - ökonomisch wie politisch, und als Atom- und Raketenmacht notfalls auch militärisch. Ein Player, der in der Welt von morgen Konkurrent sein wird beim Kampf um Jobs, Märkte und Energieressourcen. "Indien hat das Potenzial zur Weltmacht", verkünden nunmehr nicht nur reißerische Schlagzeilen, sondern auch fundierte wissenschaftliche Analysen.
Dominanz der beiden Milliardenvölker
Würden Indien und China, die beiden Milliardenvölker, zu einem strategischen Pakt finden, läge ihnen die übrige Menschheit zwangsläufig zu Füßen. China ist bereits die Werkbank und Industriefabrik der Welt, Indien sein Entwicklungslabor. Beide Länder stehen schon jetzt für zwei Drittel des Bruttosozialprodukts der 23 Länder Südostasiens, sie tragen mit ihrer riesigen Bugwelle auch die anderen Staaten dort mit. Ihr Konsum wächst schneller als die Nachfrage in Amerika. In der Kombination wären Asiens wichtigste Boomstaaten global unschlagbar, wirtschaftlich wie militärisch. Doch dass es zu solch einer Allianz kommt, ist eher unwahrscheinlich. China und Indien sehen einander als Rivalen an, und der Rest der Welt dürfte alles dafür tun, dass dies auch so bleibt.
Im Wettlauf der beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde mit ihren 2,5 Milliarden Konsumenten liegt der chinesische Drache derzeit noch weit vor dem indischen Elefanten. Chinas Bruttosozialprodukt ist doppelt so groß, das Reich der Mitte zieht zehnmal so viele Auslandsinvestitionen an.
Richtig ist gewiss, dass die Wirtschaftsleistung der Inder bisher im Weltmaßstab einigermaßen bescheiden war. Mit nahezu einem Fünftel der Menschheit brachten sie es gerade mal auf zwei Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, während die Europäer mit acht Prozent der Weltbevölkerung 31 und die Amerikaner mit fünf Prozent sogar 28 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts erwirtschafteten. Doch die Gewichte verschieben sich rasch. Nach der Prognose zahlreicher Ökonomen wird Indien in den kommenden fünfzehn Jahren an Japan wie Deutschland vorbeipreschen.
Eine weitere Entwicklung kommt hinzu: Indien hat heute 1,12 Milliarden Einwohner. Die Hälfte davon ist nicht einmal 24 Jahre alt, eine Demografie des "Minimum" ist hier noch lange nicht angesagt. Nur rund fünf Prozent der Bevölkerung liegen über dem Pensionsalter von 65 Jahren (in Deutschland: 19 Prozent). Bis zur Jahrhundertmitte wird der Elefant den Drachen auch demografisch übertrumpfen, Indien mit 1,6 Milliarden zur größten Nation der Erde anschwellen, während die Zahl der Chinesen als Folge der Ein-Kind-Politik abnimmt. Asien stellt dann 70 Prozent der Weltbevölkerung, und allein auf dem Subkontinent werden in Indien, Pakistan und Bangladesch mit 2,2 Milliarden weit mehr Menschen leben als auf den Kontinenten Amerika, Europa und Australien zusammen. Das sind beklemmende Perspektiven, besonders aus der Sicht ergrauender Schrumpfeuropäer, doch sie sind problematisch auch für die Giganten Asiens selbst. Denn bei ihnen ticken soziale Zeitbomben, sollte es für die Menschenmassen nicht genügend Arbeit und Nahrung geben. Wie auch immer: Die beiden Mega-Gesellschaften Asiens werden in der neuen globalen Ordnung nicht nur das Tempo der Modernisierung vorgeben, sondern als Zugpferde der Weltkonjunktur demnächst auch die Hälfte der verfügbaren Energiequellen und Rohstoffe beanspruchen - oder sie im Kampf um die weltweite Vorherrschaft notfalls erstreiten müssen.
Indiens Aufbruch muss verwundern, denn noch vor kurzem galt es als Armenhaus der Welt mit der größten Zahl von Analphabeten. Die hat es nach wie vor. Gut ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung und mehr als die Hälfte der Frauen können nicht lesen und schreiben. Aber zugleich hat Indien auch das zweitgrößte Reservoir an Ingenieuren und Wissenschaftlern, die meisten Computerspezalisten nach den USA. Weltspitze sind die Inder in der Informationstechnologie, vor allem mit den Labors in Bangalore, Asiens Silicon Valley.
Als nächste Stufe der indischen Hightech-Offensive für eine wissensgestützte Wirtschaft sollen neue Forschungsstätten in der Bio- und Gentechnologie entstehen. Angestrebt wird der Status einer Supermacht des Wissens. Dabei will Indien bei der Globalisierung von Innovation und Kreativität dem Westen ebenfalls als ernsthafter Konkurrent entgegentreten. Noch ist das Land etwa im Bereich wissenschaftlicher und technischer Erfindungen, gar bei der Zahl der jährlich angemeldeten Patente, weit entfernt vom höchsten Niveau, auf dem noch immer Deutschland agiert. Noch gehen die meisten Nobelpreise an Forscher in den USA. Aber Indiens 380 Universitäten und 1500 Forschungsinstitute bilden in jedem Jahr allein 500 000 Ingenieure, Techniker und Informatiker aus, viermal mehr als die USA. Dies ist der größte Talentpool der Welt, und das wird irgendwann auch innovative Früchte tragen. So dürfte Indien schon bald auch in der Pharmazie vorne mitmischen, wo es bereits mit Firmen wie Ranbaxy, Wockhardt oder Dr. Reddy's zum weltweit größten Hersteller von Generika geworden ist, darunter eines Medikaments gegen Aids. Oder in der Medizin, wo Operationen am offenen Herzen und Implantationen künstlicher Hüftgelenke von hervorragenden Chirurgen für ein Fünftel der europäischen Kostensätze vollzogen werden. Schließlich Rüstung und Weltraumforschung: Die Welt hat sich daran gewöhnt, dass die Atommacht Indien Raketen und Satelliten ins All befördert. Demnächst soll ein Roboter auf dem Mond landen.
Noch bis vor kurzem sah es so aus, als würde Indien sich im globalen Aufholprozess mit einer Arbeitsteilung abfinden. China stand für die Hardware, für die Werkbank der Welt mit dem Export industrieller Massenproduktion. Indien dagegen schien darauf erpicht zu sein, zum Entwicklungslabor und zur Denkfabrik der Welt zu avancieren, also die Software zu liefern. Indiens Erfolge bei den IT-Dienstleistern sind zwar brillant, doch Beschäftigung für die Massen der ungelernten Erwerbsfähigen zaubern sie nicht herbei, und es werden allein bis 2010 über 60 Millionen neue Jobs benötigt. Die kann nur eine arbeitsintensive Exportindustrie mit den traditionellen Industriebereichen anbieten. Auch hier sind die Inder nun in der Offensive, errichten Industrieparks und Sonderwirtschaftszonen, greifen zudem mit Firmenaufkäufen im Westen an. Noch vor ein paar Jahren hätte wohl kaum jemand erwartet, dass der größte Stahlbaron der Welt ein Inder ist, nämlich Lakshmi Mittal. Oder dass die Ex-Kolonie Indien die automobilen Kronjuwelen des britischen Empires ergattert, die sich jetzt mit Jaguar und Rover der Mischkonzern von Ratan Tata holte. Oder dass die größte Erdölraffinerie der Welt heute im Nordwesten Indiens steht, gebaut vom Konzern des Multimilliardärs Mukesh Ambani.
Die Kehrseite des Booms
Die Luxushotels der indischen Metropolen sind ausgebucht, überwiegend mit Gästen aus dem Inland. Die Parvenüs prassen bis zum Exzess, veranstalten Hochzeiten mit vulgärem Gepränge. In der Bayview Bar von Mumbais Oberoi-Hotel gehen die Flaschen Dom Perignon weg wie nichts. Eine davon entspricht dem indischen Pro-Kopf-Einkommen für ein ganzes Jahr. Die urbanen Ballungszentren um die 35 Millionenstädte schwelgen im Konsumrausch. Auf etwa 250 Millionen Menschen wird diese schnell wachsende, kaufkräftige Mittelschicht geschätzt, wobei allerdings nach europäischen Maßstäben der indische Mittelstand nur mit etwa 70 Millionen anzusetzen ist. Die Kehrseite des Booms ist das Elend der Nachzügler mit der Horrorspirale von Bevölkerungswachstum und Massenarmut. Nach wie vor verdienen fast 70 Prozent aller Beschäftigten, meist eingezwängt in ein rigides Kastensystem, ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, mit unzureichenden Bewässerungssystemen und abhängig von den Launen des Monsunregens. Zwar haben sich seit der Reformpolitik einige soziale Indikatoren verbessert, aber nach offizieller Lesart leben weiterhin 26 Prozent der Inder, über 300 Millionen Menschen, unterhalb der Armutsgrenze von weniger als einem Dollar pro Tag. Die Pessimisten unter den ökonomischen Experten vermuten allerdings, dass in Wahrheit drei Viertel der Bevölkerung täglich mit weniger als zwanzig Rupien, also einem halben Dollar, auskommen müssen, demnach auf einem "Lebensstandard von unvorstellbaren Tiefen" vegetieren, wie der erste Premier Jawaharlal Nehru die Not in Indiens bäuerlichem Herzen einmal umschrieb.
Ein Kontinent der Extreme ist Mata Bharat, die Mutter Indien. Die Multikulti-Formel von der "Einheit in Vielfalt", die Nehru oft gebrauchte, beschönigt bewusst das Irritationselement des Trennenden, das ihr zugrunde liegt. Sechs Religionen und zahllose Sekten gibt es in den 28 Bundesstaaten der säkularen Union, die dominierende Glaubensgemeinschaft des Hinduismus kennt über 3600 Kasten und Unterkasten. Knapp 13 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur Lehre des Propheten. Damit hat Indien mehr Muslime als der islamische Nachbar Pakistan und nach Indonesien mit 160 Millionen die meisten der Welt. Die Verfassung nennt 18 Hauptsprachen, hinzu kommen 1600 Dialekte. Man findet Inseln imponierender Effizienz und Regionen von mittelalterlicher Rückständigkeit auf diesem Kontinent.
Politisch wird Indien heutzutage von aller Welt hofiert. Da reiste Anfang März 2006 der oberste Repräsentant des Welthegemons in Neu Delhi an, um der zweitgrößten Nation auf diesem Globus seine Reverenz zu erweisen. In einer erstaunlichen historischen Weichenstellung erhob der amerikanische Präsident George W. Bush Indien zur "Weltmacht" und verkündete mit dem Blick auf das heraufziehende Zeitalter drohender Energiekonflikte die strategische Partnerschaft zwischen "der ältesten und der größten Demokratie der Erde". Der Preis für diese neue Allianz war ein Atomabkommen, das Neu Delhi aus der nuklearen Quarantäne holte und als Sonderfall in den Kreis der offiziellen Atommächte aufnimmt. Dieser Deal ist international noch nicht in trockenen Tüchern, und er könnte die Linkskoalition des Premiers Manmohan Singh kippen, sollten die Kommunisten ihr deswegen den Beistand entziehen. Doch der Prestigegewinn für Neu Delhi ist ohnehin besiegelt mit der De-facto-Anerkennung als sechste Atommacht. Den Amerikanern geht es, das liegt auf der Hand, um ein Gegengewicht zu China. Das politische Establishment in Neu Delhi dürfte indes zu klug sein, um sich als Washingtons "Festlandsdegen" in Asien instrumentalisieren zu lassen, bei aller Rivalität zu Peking und einem historisch begründeten Misstrauen.
Die Gefahr von Rückschlägen
Noch gibt es Platz für zwei Giganten in Asien. Der erwachte Riese auf dem Subkontinent benötigt vor allem Ruhe, keine Abenteuer und äußeren Konflikte. Dieses gewaltige Land braucht wenigstens zwei Dekaden andauernder Dynamik und Fortschrittsbewusstseins mit jährlichen Wachstumsraten von über acht Prozent, um wirklich den Status einer Großmacht zu erlangen, die dann als unentbehrliches Element des Kräftegleichgewichts in einer multipolaren Welt gelten kann und sich in handelspolitischen Fragen zum Sprecher der Entwicklungs- und Schwellenländer aufschwingen dürfte. Natürlich kann es Rückschläge geben - durch die Rückwirkungen einer Weltwirtschaftskrise etwa, durch wachsende soziale Spannungen im Innern, durch Katastrophen, eine Pandemie, durch neuerliche Pogrome in der Dauerfehde zwischen Hindus und Muslimen. Oder durch einen Regierungswechsel, obwohl die amtierende Linkskoalition der Kongresspartei der bald stattfindenden Parlamentsneuwahl optimistisch entgegenblickt und zuletzt ein Budget voller Wahlgeschenke verabschiedete.
Verheerend würde sich auch ein Anschlag von der Dimension des 11. September 2001 auswirken, mit dem islamistische Terroristen versuchen könnten, die verfeindeten Brüder Indien und Pakistan in einen Atomkrieg zu treiben. Im Ansatz haben sie dies schon einmal probiert, mit Anschlägen auf das Parlament in Neu Delhi und dem Bombenterror in Mumbai. Doch solche Einbrüche dürften die Entwicklung insgesamt nicht umkehren können, die aus dem einstigen Armenhaus Indien eines der Kraftzentren in der Welt von morgen machen wird. Es ist schwer, den Elefanten aufzuhalten, hat der sich erst einmal in Bewegung gesetzt.